"Resto qui" (Marco Balzano): Unterschied zwischen den Versionen
Zur Navigation springen
Zur Suche springen
"Resto qui" (Marco Balzano) (Quelltext anzeigen)
Version vom 29. Januar 2022, 15:02 Uhr
, 29. Januar 2022keine Bearbeitungszusammenfassung
(Die Seite wurde neu angelegt: „Marco Balzanos Roman ''Resto qui'' (2018, dt.: ''Ich bleibe hier'') gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl u…“) |
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
||
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
Marco Balzanos Roman ''Resto qui'' (2018, dt.: ''Ich bleibe hier'') gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl unter deutsch- als auch unter italienischsprachigen Autor:innen eine entscheidende Rolle für die Beschäftigung mit der Südtiroler Vergangenheit spielt (vgl. Grugger 2021; Klettenhammer 2013: 243). Der Roman erzählt die Lebensgeschichte der Südtirolerin Trina und reflektiert dabei das Schicksal des Dorfs Graun im Vinschgau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. | Marco Balzanos Roman ''Resto qui'' (2018, dt.: ''Ich bleibe hier'') gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl unter deutsch- als auch unter italienischsprachigen Autor:innen eine entscheidende Rolle für die Beschäftigung mit der Südtiroler Vergangenheit spielt (vgl. Grugger 2021; Klettenhammer 2013: 243). Der Roman erzählt die Lebensgeschichte der Südtirolerin Trina und reflektiert dabei das Schicksal des Dorfs Graun im Vinschgau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. | ||
== | == Handlung == | ||
Die Handlung des Romans ist in der Südtiroler Region Graun/Curon angesiedelt, die über Jahrzehnte hinweg starken politischen und kulturellen Veränderungen unterworfen war und dabei zum Schauplatz eines der wohl bemerkenswertesten menschlichen Eingriffe in die Alpenlandschaft wurde. Mit einem Fokus auf die Lehrerin und Ich-Erzählerin Trina beschreibt der Text die Geschichte einer Grauner Familie, ihre Erlebnisse während des zweiten Weltkriegs, sowie ihren erfolglosen Kampf gegen die Flutung mehrerer Dörfer im Reschengebiet zur Konstruktion eines Stausees. Rund um dieses Bauprojekt, das erstmals 1911 beschlossen, schlussendlich jedoch erst 1950 umgesetzt wurde, umspannt die Erzählung mehrere Jahrzehnte, beginnend mit Trinas Ausbildung zur Lehrerin im damaligen deutschsprachigen Teil Südtirols. Die Situation ändert sich drastisch als 1922 die Mitglieder der faschistischen Partei den Marsch auf Bozen organisieren, der in einer radikalen Unterdrückung der deutschen Subkultur in Südtirol resultiert. Diese Italianisierung zwingt die Bevölkerung, eine neue Sprache zu lernen, sich an ein anderes bürokratisches System zu gewöhnen und sich mit neuen Traditionen vertraut zu machen (Vgl. Beyer / Plewnia 2019; Riel 2001: 18-19). Von einem Tag auf den anderen wird das kulturelle Gedächtnis einer ganzen Region ausgelöscht. Die Bevölkerung wird zum Spielball geopolitischer Interessen: Deutsch wird als Unterrichtssprache in den Schulen abgeschafft und Trina ist gezwungen, ihre Schüler:innen fortan nur noch an geheimen Orten zu unterrichten. Der junge Bauer Erich, Trinas zukünftiger Ehemann, führt im Untergrund einen erbitterten Kampf gegen die italienischen Unterdrücker und deren Plan, das Dorf zu fluten. | Die Handlung des Romans ist in der Südtiroler Region Graun/Curon angesiedelt, die über Jahrzehnte hinweg starken politischen und kulturellen Veränderungen unterworfen war und dabei zum Schauplatz eines der wohl bemerkenswertesten menschlichen Eingriffe in die Alpenlandschaft wurde. Mit einem Fokus auf die Lehrerin und Ich-Erzählerin Trina beschreibt der Text die Geschichte einer Grauner Familie, ihre Erlebnisse während des zweiten Weltkriegs, sowie ihren erfolglosen Kampf gegen die Flutung mehrerer Dörfer im Reschengebiet zur Konstruktion eines Stausees. Rund um dieses Bauprojekt, das erstmals 1911 beschlossen, schlussendlich jedoch erst 1950 umgesetzt wurde, umspannt die Erzählung mehrere Jahrzehnte, beginnend mit Trinas Ausbildung zur Lehrerin im damaligen deutschsprachigen Teil Südtirols. Die Situation ändert sich drastisch als 1922 die Mitglieder der faschistischen Partei den Marsch auf Bozen organisieren, der in einer radikalen Unterdrückung der deutschen Subkultur in Südtirol resultiert. Diese Italianisierung zwingt die Bevölkerung, eine neue Sprache zu lernen, sich an ein anderes bürokratisches System zu gewöhnen und sich mit neuen Traditionen vertraut zu machen (Vgl. Beyer / Plewnia 2019; Riel 2001: 18-19). Von einem Tag auf den anderen wird das kulturelle Gedächtnis einer ganzen Region ausgelöscht. Die Bevölkerung wird zum Spielball geopolitischer Interessen: Deutsch wird als Unterrichtssprache in den Schulen abgeschafft und Trina ist gezwungen, ihre Schüler:innen fortan nur noch an geheimen Orten zu unterrichten. Der junge Bauer Erich, Trinas zukünftiger Ehemann, führt im Untergrund einen erbitterten Kampf gegen die italienischen Unterdrücker und deren Plan, das Dorf zu fluten. | ||
Wenige Jahre später wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und Südtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurück. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. Während sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der überfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den Aufhänger für Balzanos Roman bildet. | Wenige Jahre später wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und Südtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurück. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. Während sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der überfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den Aufhänger für Balzanos Roman bildet. | ||
== | == Subjektivität und Traumerleben == | ||
Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Südtirols und Italiens leisten (Vgl. Grite / Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begründet er sein Vorhaben wie folgt: | Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Südtirols und Italiens leisten (Vgl. Grite / Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begründet er sein Vorhaben wie folgt: | ||
Zeile 22: | Zeile 22: | ||
|} Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale Verständigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine Brücke des Verständnisses und der Verständigung. | |} Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale Verständigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine Brücke des Verständnisses und der Verständigung. | ||
== | == Grenzerfahrung und Vergangenheitsbewältigung im Traum == | ||
Darüber hinaus bilden Träume und Halluzinationen in ''Resto Qui'' einen liminalen Raum, in dem die Protagonistin mit ihren Traumata und tiefsten Ängsten konfrontiert wird, vor allem mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter Marica. Das subjektive Familienschicksal überlagert in Balzanos Roman die historischen Ereignisse: Nach der Machtübernahme durch die Faschisten entschließt sich die kleine Marica, mit Onkel und Tante heimlich das Heimatdorf Graun zu verlassen. In einem Abschiedsbrief begründet sie ihre Flucht mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Obwohl dieser Brief das letzte Lebenszeichen ist, das die Familie jemals erreicht – oder gerade deswegen – bleibt die Tochter im Familienleben allgegenwärtig. Die Erzählung selbst präsentiert sich wie eine Autobiographie der Mutter, die sie als Brief an die Tochter verfasst. So konstruiert der Autor ein komplexes Netz aus ineinander verflochtenen Erinnerungsmedien, bestehend aus dem ›autobiographischen Brief‹ – dem narrativen Rahmen also –, intradiegetischen Briefen, Fotos, Zeichnungen und auch Träumen. Während die Mutter die verschwundene Tochter über Jahre hinweg in ihrem Leben hält, indem sie ihr täglich einen Brief schreibt, füllt der Vater heimlich ein ganzes Heft mit Zeichnungen von der Tochter. Dabei bleibt der Schmerz über den Verlust zwischen den beiden Eheleuten unausgesprochen, wird mit der Zeit unaussprechbar: Gerade das Briefeschreiben bedeutet Verdrängung, denn es suggeriert, dass der Verlust nicht als solcher angenommen wird, dass die Tochter immer noch wirklicher, präsenter Teil der Familie ist. Erst im Traum holen der Schmerz und das Gefühl des Verlusts die Protagonistin ein. So zum Beispiel nach einem Spaziergang zum See, zu dem sie ihre beste Freundin drängt: | Darüber hinaus bilden Träume und Halluzinationen in ''Resto Qui'' einen liminalen Raum, in dem die Protagonistin mit ihren Traumata und tiefsten Ängsten konfrontiert wird, vor allem mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter Marica. Das subjektive Familienschicksal überlagert in Balzanos Roman die historischen Ereignisse: Nach der Machtübernahme durch die Faschisten entschließt sich die kleine Marica, mit Onkel und Tante heimlich das Heimatdorf Graun zu verlassen. In einem Abschiedsbrief begründet sie ihre Flucht mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Obwohl dieser Brief das letzte Lebenszeichen ist, das die Familie jemals erreicht – oder gerade deswegen – bleibt die Tochter im Familienleben allgegenwärtig. Die Erzählung selbst präsentiert sich wie eine Autobiographie der Mutter, die sie als Brief an die Tochter verfasst. So konstruiert der Autor ein komplexes Netz aus ineinander verflochtenen Erinnerungsmedien, bestehend aus dem ›autobiographischen Brief‹ – dem narrativen Rahmen also –, intradiegetischen Briefen, Fotos, Zeichnungen und auch Träumen. Während die Mutter die verschwundene Tochter über Jahre hinweg in ihrem Leben hält, indem sie ihr täglich einen Brief schreibt, füllt der Vater heimlich ein ganzes Heft mit Zeichnungen von der Tochter. Dabei bleibt der Schmerz über den Verlust zwischen den beiden Eheleuten unausgesprochen, wird mit der Zeit unaussprechbar: Gerade das Briefeschreiben bedeutet Verdrängung, denn es suggeriert, dass der Verlust nicht als solcher angenommen wird, dass die Tochter immer noch wirklicher, präsenter Teil der Familie ist. Erst im Traum holen der Schmerz und das Gefühl des Verlusts die Protagonistin ein. So zum Beispiel nach einem Spaziergang zum See, zu dem sie ihre beste Freundin drängt: | ||
Zeile 97: | Zeile 97: | ||
Zitiervorschlag für diesen Artikel: | Zitiervorschlag für diesen Artikel: | ||
Mehrbrey, Sophia: " | Mehrbrey, Sophia: "Resto qui" (Marco Balzano). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Die_Br%C3%BCder_L%C3%B6wenherz%22_(Lindgren,_Astrid). | ||
|} | |} |