"Traumprotokolle" (Theodor W. Adorno): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. März 2022, 10:18 Uhr
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Es sind keine Pläne Adornos bekannt, die mit dieser Sammlung vorgelegten Traumprotokolle in irgendeiner Art zu kommentieren oder eigene Deutungsversuche anzubieten (Reemtsma 2018, 93). | Es sind keine Pläne Adornos bekannt, die mit dieser Sammlung vorgelegten Traumprotokolle in irgendeiner Art zu kommentieren oder eigene Deutungsversuche anzubieten (Reemtsma 2018, 93). | ||
==Themen, Motive und | |||
==Themen, Motive und Adornos Traumauffassung== | |||
In Adornos ''Traumprotokollen'' treten verschiedene Themen und Motive in unterschiedlichen Typen von Träumen auf, oft in Form von Alp- oder Angstträumen oder zuweilen auch erotischen Träumen. Häufige Themen und Motive sind u.a. Hinrichtungen (zum Beispiel die eigene, diejenige von Bekannten oder auch Hinrichtungen anderer unter eigenem Befehl), Bordellbesuche, Examen bzw. Prüfungen, Wortspiele und kreative Sprachschöpfungen, Spott und Hohn, Wunscherfüllung und Versagung im Zusammenhang mit seiner Mutter und seiner Tante Agathe („zweite Mutter“), „Träume von Toten, in denen man das Gefühl hat, daß sie einen um Hilfe bitten“, Dinosaurier (insb. Triceratops und Ankylosaurus), übermäßiger Harndrang, Folter, Konzentrationslager, Weltuntergang und Naturkatastrophen (z. B. eine Hitzekatastrophe) oder der Tod seines Freundes und Kompositionslehrers Alban Berg (Halley 1997, 61; Stephan 2008, 9; Schünemann 2012; Reemtsma 2018, 111 ff.; Müller-Doohm 2019, 19-22). | In Adornos ''Traumprotokollen'' treten verschiedene Themen und Motive in unterschiedlichen Typen von Träumen auf, oft in Form von Alp- oder Angstträumen oder zuweilen auch erotischen Träumen. Häufige Themen und Motive sind u.a. Hinrichtungen (zum Beispiel die eigene, diejenige von Bekannten oder auch Hinrichtungen anderer unter eigenem Befehl), Bordellbesuche, Examen bzw. Prüfungen, Wortspiele und kreative Sprachschöpfungen, Spott und Hohn, Wunscherfüllung und Versagung im Zusammenhang mit seiner Mutter und seiner Tante Agathe („zweite Mutter“), „Träume von Toten, in denen man das Gefühl hat, daß sie einen um Hilfe bitten“, Dinosaurier (insb. Triceratops und Ankylosaurus), übermäßiger Harndrang, Folter, Konzentrationslager, Weltuntergang und Naturkatastrophen (z. B. eine Hitzekatastrophe) oder der Tod seines Freundes und Kompositionslehrers Alban Berg (Halley 1997, 61; Stephan 2008, 9; Schünemann 2012; Reemtsma 2018, 111 ff.; Müller-Doohm 2019, 19-22). | ||
Während Reemtsma im Nachwort zur Separatausgabe der Traumprotokolle Sinn und Unsinn des psychoanalytischen Deutens der Traumprotokolle diskutiert („Doch welcher Art wäre die Deutungskunst, die hier die normativen Vorgaben machen sollte? Die Psychoanalyse, die jedem, auch dem, der sich wer-weiß-was-für-Vorstellungen davon macht, als erste einfällt, wäre gerade, und zwar auf Grund ihrer eigenen technischen Verfahrensregeln, durchaus nicht zuständig. Die psychoanalytische Deutung eines Traums ist ein dialogischer Prozeß zwischen zwei Menschen, in dem die Mitteilung der Assoziationen desjenigen, der den Traum berichtet, eine entscheidende Rolle spielt“; Reemtsma 2018, 108), werden die Träume Adornos | Während Reemtsma im Nachwort zur Separatausgabe der ''Traumprotokolle'' Sinn und Unsinn des psychoanalytischen Deutens der Traumprotokolle diskutiert („Doch welcher Art wäre die Deutungskunst, die hier die normativen Vorgaben machen sollte? Die Psychoanalyse, die jedem, auch dem, der sich wer-weiß-was-für-Vorstellungen davon macht, als erste einfällt, wäre gerade, und zwar auf Grund ihrer eigenen technischen Verfahrensregeln, durchaus nicht zuständig. Die psychoanalytische Deutung eines Traums ist ein dialogischer Prozeß zwischen zwei Menschen, in dem die Mitteilung der Assoziationen desjenigen, der den Traum berichtet, eine entscheidende Rolle spielt“; Reemtsma 2018, 108), werden die Träume Adornos zuweilen dennoch unter Berücksichtigung psychoanalytischer Ansätze detaillierter gedeutet. Solche Ansätze finden sich z. B. bei Leithäuser (2007), der zwei Traumprotokolle Adornos im Detail und hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Gehalts untersucht, nämlich die Träume Nr. 12 (Los Angeles, Ende Mai 1942: „Ich träumte, ich solle gekreuzigt werden“; Leithäuser 2007, 9-17) und Nr. 91 (Sils-Maria, 4. September 1964: „(Kurz vorm Erwachen) Ich hatte einen sechsstündigen Schulaufsatz über Goethe zu schreiben“; Leithäuser 2007, 17-22). | ||
Adornos Traumauffassung ist zweifelsfrei von den Ideen Sigmund Freuds geprägt, was auch in manchen seiner Traumprotokolle deutlich zutage tritt. Die Protokolle verfasste Adorno zwar in deskriptivem Stil, er lässt aber anhand von zuweilen eingestreuten, kurzen Kommentaren in Freud’scher Terminologie keine Zweifel daran, dass Freuds Ideen aus seiner ''Traumdeutung'' im Kontext der Erstellung und Beschäftigung mit seinen Träumen sowie der Erstellung von Traumnotaten mitschwingen. So referenziert er beispielsweise in Traumprotokoll Nr. 80 (siehe obige Liste) explizit Freuds Begriff des ''Tagesrestes'' zu Beginn des Protokolls und erläutert weitere Traumelemente mit Erfahrungen aus seiner Kindheit und seiner Zeit als Schüler (T 70): | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | |||
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: <span style="color: #7b879e;">„Mitte September 1958 – Tagesrest: ich war vom Direktor meines Gymnasiums, jetzt Freiherr vom Stein-Schule, eingeladen worden, etwas zur Festschrift beim Anlaß ihres 50-jährigen Bestehens beizusteuern. Traum: bei einer Zeremonie wurde mir feierlich die musikalische Gesamtleitung des Gymnasiums übertragen. Der alte widerwärtige Musiklehrer, Herr Weber, und ein neuer Musikstudienrat, huldigten mir. Danach fand ein großer Festball statt. Ich tanzte dabei mit einer riesigen braungelben Dogge – in meiner Kindheit hatte ein solcher Doggenhund eine große Rolle gespielt. Er ging aufrecht und war im Frack. Ich überließ mich ganz der Dogge und hatte, zum Tanzen überaus unbegabt, das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben tanzen zu können, sicher und hemmungslos. Zuweilen küßten wir uns, der Hund und ich. Höchst befriedigt aufgewacht.“</span> | |||
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Adornos bizarre und höchstkomische Traumbeschreibung evoziert vielschichtige Bilder und Gefühle, die unter anderem mit seinen Erfahrungen als Schüler an der kürzlich wieder besuchten Schule verknüpft sind. Zum Zeitpunkt des Traumes „huldigt“ ihm sein „alter widerwärtiger Musiklehrer, was für einen international bekannten und bedeutenden Komponisten, Musiktheoretiker und -kritiker wohl kein allzu besonderes Ereignis darstellen oder gar einer „Wunscherfüllung“ entsprechen dürfte. Für einen Schüler allerdings, der – auf der Grundlage von Adornos Beschreibungsvokabular schlussfolgernd und aus welchen Gründen auch immer – keine allzu große Sympathie für den Lehrer hegte, könnte dies allerdings doch ein befriedigendes Erlebnis darstellen und möglicherweise ein „alter“ Wunsch des Schülers Theodor Wiesengrund in Erfüllung gehen. Weiterhin erscheint bei dieser Traumbeschreibung besonders interessant, dass sich Adorno bezüglich des Tanzens – einer Tätigkeit, die ihm nach eigenen Aussagen nicht besonders liegt – ganz der aufrechtstehenden und gutgekleideten Dogge, die er ganz ohne Ironie oder sonstige Untertöne in einem sehr positiven Licht beschreibt, „überlässt“ und so – eventuell wie von einem guten (Tanz-)Lehrer geführt – „zum ersten Mal im Leben“ ein äußerst angenehmes und befriedigendes Erlebnis bei dieser Tätigkeit hat. Auch der letzte Hinweis des Protokolls („Höchst befriedigt aufgewacht“) deutet implizit auf Adornos Auffassung von Träumen als mögliche Erfüllungen unbewusster Wünsche hin, welche im Einklang mit den Ideen Sigmund Freuds steht. Allerdings erzählt Adorno diesen Traum auch auf eine Art und Weise, die das Traum-Ich, das mit dem Hund Küsse austauscht und sich der Freude am Tanzen hingibt, belustigend oder gar lächerlich wirken lassen. Es ist insofern auch recht verwunderlich, dass Adorno am Ende dieses Traumes nicht, wie so oft in seiner Sammlung, notiert, dass er "lachend aufgewacht" sei, sondern "befriedigt". | |||
In einem weiteren, hier exemplarisch betrachteten Traum (Nr. 78 der obigen Liste) deutet Adorno mit einem abschließenden Kommentar an, dass er diesen für ein „Fressen für einen Analytiker“ hält (T 68 f.): | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | |||
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: <span style="color: #7b879e;">„Sils-Maria, 23. August 1957 – In der Aula der Universität sollte ein Konzert stattfinden, doch war es gar nicht die Aula sondern ein rot verblichener Musiksalon. Der Zugang war schwierig, über und über mit Glassplittern bedeckt. Um durchzukommen tat ich das törichteste: ich zog die Schuhe aus und ging auf Strümpfen. So gelangte ich nach vorn. Dort saß der Rektor. Er setzte mir ausführlich auseinander, ursprünglich hätte er über romantische Rechtsphilosophie gearbeitet: Othmar Spann. Ich machte ihn auf die Glassplitter aufmerksam. Sie seien von Leuten gestreut, die den Raum zu einer anderen Zeit gepachtet hätten. Er, als Hausherr und Jurist, verfüge über Rechtsmittel dagegen. Daran hätte er nicht gedacht: ich hätte aber ganz recht. Dann blickte ich nach meiner Weise mich manisch im Saal um, ob eine Freundin zugegen wäre; doch konnte ich sie nicht entdecken. Dagegen lag auf einer Art Trägergerüst U., von H. umsorgt. Ich ging rasch vorbei zu G, die mit Fräulein H. saß. Diese erklärte mir sogleich mit großem Nachdruck, sie solle mir die allerherzlichsten Abschiedsgrüße von Fräulein Sch. bestellen. Noch im Traum wußte ich, daß das E. war, und wachte lachend auf. (Ein Fressen für einen Analytiker).“</span> | |||
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Eindrücklich bei dieser Traumbeschreibung ist das traumtypische unvermittelte Aufeinandertreffen zahlreicher inhaltlich disparater Elemente (Konzert in der Aula der Universität, Glassplitter und Strümpfe, Othmar Spann als Rektor, Pächter und Hausherr, Freundin, umsorgte Person auf Trägergerüst, verschiedene Personen und Abschiedsgrüße). Der erste größere Teil des beschriebenen Traumes, der sich mit dem "Zugang" zur Universität und dem Treffen mit deren Rektor, im Traum Othmar Spann (1878-1950), eigentlich österreichischer Nationalökonom, Philosoph und Soziologe sowie ein Wegbereiter des Faschismus in Österreich, beschäftigt, lässt sich als eine Einschätzung Adornos zur allgemeinen Lage an bundesdeutschen Universitäten in den 1950er Jahren verstehen, aus der sich auch Adornos eigene schwierige berufliche Entwicklung ergab und die ihm einen nahezu "törichten" Mut abverlangte, wie Adorno in der Traumbeschreibung hinsichtlich seines eigenen Handelns – das Ausziehen der Strümpfe, bevor er den mit Glassplittern bedeckten Boden betritt – wie von außen, d. h. aus einer Außenperspektive auf den Traum, urteilt. Weiterhin könnten die beschriebenen Trauminhalte für Adorno als derart brisant gelten („Fressen für einen Analytiker“), weil außerdem im zweiten größeren Themenkomplex dieses Traumprotokolls zahlreiche anonymisierte Personennamen auftreten (G steht höchstwahrscheinlich für Gretel, Adornos Ehefrau; alle anderen Abkürzungen sind nicht ohne weiteres direkt zugänglich) und aus der Bemerkung bezüglich der "allerherzlichsten Abschiedsgrüße von Fräulein Sch." und der Anwesenheit von "Fräulein H." hervorgeht, dass es sich bei vielen der anwesenden Personen um jüngere Frauen handelt. Die beschriebenen Begegnungen und Konstellationen könnten im Zusammenhang mit Adornos bekanntgewordenen Liebschaften und Affären in Verbindung stehen. Besonders aber die "Abschiedsgrüße" bringen Adorno beim Aufwachen zum Lachen über das Traum-Ich. | |||
Insgesamt ermöglicht die publizierte Sammlung von Adornos Traumprotokollen nicht nur aufgrund ihres Umfangs und Vielseitigkeit weitere Deutungen und Interpretationen. Die vorhandene Literatur geht bisher nur auf einen überschaubaren Teil der aufgezeichneten Träume Adornos in detaillierter Form ein, weshalb aus der Betrachtung von Adornos Traumprotokollen sowohl für die Traum- als auch für die Adorno-Forschung noch erhebliches Erkenntnispotential vorhanden und in Zukunft noch weiter herauszuarbeiten ist. | |||
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Constantin Houy]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Constantin Houy]]</div> | ||
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==Literatur== | ==Literatur== | ||
===Ausgaben=== | ===Ausgaben=== | ||
* | * Adorno, Theodor W.: Träume in Amerika. Drei Protokolle. In: Aufbau 8 (1942) 40, 17 (erste Teilpublikation). | ||
* Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. 20.2: Vermischte Schriften II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 572-582 (Teilpublikation). | * Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. 20.2: Vermischte Schriften II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 572-582 (Teilpublikation). | ||
* Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 (Erstausgabe). | * Adorno, Theodor W.: Traumprotokolle. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 (Erstausgabe). | ||
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* Schünemann, Axel: "Das ist gar nicht er selbst" – Theodor W. Adorno träumt den Weltuntergang (Werner Heisenberg kommentiert). 2012; [http://www.axel-schuenemann.de/texte/heisenbergkommentiert.pdf online]. | * Schünemann, Axel: "Das ist gar nicht er selbst" – Theodor W. Adorno träumt den Weltuntergang (Werner Heisenberg kommentiert). 2012; [http://www.axel-schuenemann.de/texte/heisenbergkommentiert.pdf online]. | ||
* Stephan, Inge: Einleitung. Literatur – Traum – Film. In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), 7-10. | * Stephan, Inge: Einleitung. Literatur – Traum – Film. In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), 7-10. | ||
* Jean-Christophe | * Valtat, Jean-Christophe: Rêves de médias, médias du rêve. In: Mirta Cimmino/Maria Teresa de Palma/Isabella del Monte (Hg.), Dormir, transcrire, créer. Le rêve littéraire à travers les genres, les domaines et les époques; RILUNE — Revue des littératures européennes 12 (2008), 37–53; [http://www.rilune.org/images/Numero_dodici/12_3_VALTAT.pdf online]. | ||
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