Die Beziehung zwischen Film und Traum aus phänomenologischer Perspektive: Unterschied zwischen den Versionen

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Noch kritischer gegenüber dem kulturellen Klima ihrer Zeit ist der Ansatz der Surrealisten, in dem Film und Traum untrennbar miteinander verknüpft sind. Michael Lommel beobachtet: „Die Schauspiele des Traums zählen zu den konstitutiven Merkmalen einer Ästhetik des Surrealen, die im Filmischen einen adäquaten Ort der Umsetzung findet, der jene surrealen Atmosphären und Wahrnehmungsformen am besten zu vermitteln vermag“ (Lommel 2008, 15). Durch den Einsatz von hyperassoziativer Montage und durch den Bruch mit der Konvention des ''continuity editing'' versuchte beispielsweise Luis Buñuels (1900-1983) und Salvador Dalís (1904-1989) berüchtigter Film [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Un_chien_andalou%22_(Luis_Bu%C3%B1uel) ''Un chien andalou''] (1929) eine traumhafte Filmerfahrung zu evozieren, die die konventionelle Dichotomisierung in ,real‘ und ,irreal‘ unterläuft und zu einer Realität führt, die ,über‘ (vgl. französisch ,sur‘) der regulären, von der Rationalität und den moralischen Werten der Bourgeoisie bestimmten, Realität existiert. „Der Traumzustand wurde so zu einem Modell, das die Realitätswahrnehmung bereichern, ja verändern sollte“ (Brütsch 2011, 32). Auch wenn das Medium Film womöglich nicht per se traumhaft ist, hat es im Vergleich zu anderen Kunstformen ein besonderes Potential, eine traumartige Erfahrung hervorzurufen. Im Hinblick auf die Surrealisten wurde beobachtet: „the film camera possessed a unique capacity to capture and convey the sensation of dreaming“ (Kuhn/Westwell 2012, 415). Aus film-phänomenologischer Perspektive scheint es wichtig zu unterstreichen, dass, wie Laura Rascaroli beobachtet, die Schriften der Surrealisten André Breton (1896-1966) und Réne Clair (1898-1981) die Grundlage darstellten für „the comparison between spectator and dreamer [which] became the most widely quoted and important similarity between film and dream“ (Rascaroli 2002, 2). Das heißt, die Nähe von Film und Traum wurde durch die Ähnlichkeit zwischen dem Zustand des Filmzuschauers und demjenigen des Träumenden erklärt. Eher als die Phänomene selbst sind es die Bedingungen ihrer Rezeption, die viele Autoren dazu gebracht haben, deren Ähnlichkeit zu behaupten.
Noch kritischer gegenüber dem kulturellen Klima ihrer Zeit ist der Ansatz der Surrealisten, in dem Film und Traum untrennbar miteinander verknüpft sind. Michael Lommel beobachtet: „Die Schauspiele des Traums zählen zu den konstitutiven Merkmalen einer Ästhetik des Surrealen, die im Filmischen einen adäquaten Ort der Umsetzung findet, der jene surrealen Atmosphären und Wahrnehmungsformen am besten zu vermitteln vermag“ (Lommel 2008, 15). Durch den Einsatz von hyperassoziativer Montage und durch den Bruch mit der Konvention des ''continuity editing'' versuchte beispielsweise Luis Buñuels (1900-1983) und Salvador Dalís (1904-1989) berüchtigter Film [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Un_chien_andalou%22_(Luis_Bu%C3%B1uel) ''Un chien andalou''] (1929) eine traumhafte Filmerfahrung zu evozieren, die die konventionelle Dichotomisierung in ,real‘ und ,irreal‘ unterläuft und zu einer Realität führt, die ,über‘ (vgl. französisch ,sur‘) der regulären, von der Rationalität und den moralischen Werten der Bourgeoisie bestimmten, Realität existiert. „Der Traumzustand wurde so zu einem Modell, das die Realitätswahrnehmung bereichern, ja verändern sollte“ (Brütsch 2011, 32). Auch wenn das Medium Film womöglich nicht per se traumhaft ist, hat es im Vergleich zu anderen Kunstformen ein besonderes Potential, eine traumartige Erfahrung hervorzurufen. Im Hinblick auf die Surrealisten wurde beobachtet: „the film camera possessed a unique capacity to capture and convey the sensation of dreaming“ (Kuhn/Westwell 2012, 415). Aus film-phänomenologischer Perspektive scheint es wichtig zu unterstreichen, dass, wie Laura Rascaroli beobachtet, die Schriften der Surrealisten André Breton (1896-1966) und Réne Clair (1898-1981) die Grundlage darstellten für „the comparison between spectator and dreamer [which] became the most widely quoted and important similarity between film and dream“ (Rascaroli 2002, 2). Das heißt, die Nähe von Film und Traum wurde durch die Ähnlichkeit zwischen dem Zustand des Filmzuschauers und demjenigen des Träumenden erklärt. Eher als die Phänomene selbst sind es die Bedingungen ihrer Rezeption, die viele Autoren dazu gebracht haben, deren Ähnlichkeit zu behaupten.


Ähnlich wie die surrealistische Filmauffassung basiert der in den frühen 1950ern verfasste Film/Traum-Vergleich in Susanne Langers philosophischer Kunsttheorie ''Feeling and Form'' im Vergleich zu von Hofmannsthals Ansatz auf einem konkreteren Traumbegriff. Langer schreibt: „cinema is ‘like’ dream in the mode of its presentation: it creates a virtual present, an order of direct apparition. That is the mode of the dream“ (Langer 1953, 412). Was das Kino vom Traum abstrahiert, ist die „immediacy of experience“, die „givenness“, die sich aus dem Eindruck ergibt, „im Zentrum“ der Situation zu stehen (Langer 1953, 413): „The most noteworthy formal characteristic of dream is that the dreamer is always at the center of it“ (ebd.). Wie der Träumer in einem Traum ist die Kamera „equidistant from all events“ (ebd.). Der Betrachter bewegt sich mit der Kamera mit (ebd.). „He takes the place of the dreamer, but in a perfectly objectified dream – that is, he is not in the story. The work is the appearance of a dream, a unified, continuously passing, significant apparition“ (ebd.). Außerdem beruht die Ähnlichkeit von Filmerfahrung und Traumerfahrung auf einer gemeinsamen Tendenz zur Synästhesie (Langer 1953, 414),<ref>Vorläufige empirische Belege für die Tendenz des Nachttraums zur Synästhesie liefern Daniel Reznik et al.. Die Autoren sprechen von „oneiric synesthesia“ als Ergebnis eines „hyper-associative cognitive state following sleep“ und argumentieren für die Annahme omnidirektionaler Verknüpfungen von normalerweise unidirektionalen neuronalen Bahnen während des Schlafs (Reznik et al. 2018, 379).</ref> wobei der Raum durch die räumliche ''Erfahrung'' überhaupt erst zu existieren beginnt (d.h. Traum und Film „are not oriented in any total space“; Langer 1953, 415), und auf einer „affective or associative logic“, die sowohl dem Filmschnitt als auch den Traumbildern zugrunde liegt (Carroll 1988, 13). Im Bezug auf Langers Beobachtung, dass der Filmbetrachter „the place of the dreamer“ einnimmt, ohne physisch im Szenario anwesend zu sein, würden die meisten Traumforscherinnen wahrscheinlich eher von einer hypnagogischen als von einer traumartigen Erlebnisqualität im engeren Sinne sprechen. Der Körper des Traum-Ichs materialisiert sich nämlich erst im Traumzustand, nicht etwa schon in der hypnagogen Phase, d.h. in dem Bewusstseinszustand zwischen Wachen und Träumen. In den Worten Evan Thompsons: „The experience of being a self in the world, which marks the waking state but diminishes in the hypnagogic state, reappears in dreams“ (Thompson 2017, 127).
Ähnlich wie die surrealistische Filmauffassung basiert der in den frühen 1950ern verfasste Film/Traum-Vergleich in Susanne Langers philosophischer Kunsttheorie ''Feeling and Form'' im Vergleich zu von Hofmannsthals Ansatz auf einem konkreteren Traumbegriff. Langer schreibt: „cinema is ‘like’ dream in the mode of its presentation: it creates a virtual present, an order of direct apparition. That is the mode of the dream“ (Langer 1953, 412). Was das Kino vom Traum abstrahiert, ist die „immediacy of experience“, die „givenness“, die sich aus dem Eindruck ergibt, „im Zentrum“ der Situation zu stehen (Langer 1953, 413): „The most noteworthy formal characteristic of dream is that the dreamer is always at the center of it“ (ebd.). Wie der Träumer in einem Traum ist die Kamera „equidistant from all events“ (ebd.). Der Betrachter bewegt sich mit der Kamera mit (ebd.). „''He takes the place of the dreamer'', but in a perfectly objectified dream – that is, he is not in the story. The work is the appearance of a dream, a unified, continuously passing, significant ''apparition''“ (ebd.). Außerdem beruht die Ähnlichkeit von Filmerfahrung und Traumerfahrung auf einer gemeinsamen Tendenz zur Synästhesie (Langer 1953, 414),<ref>Vorläufige empirische Belege für die Tendenz des Nachttraums zur Synästhesie liefern Daniel Reznik et al.. Die Autoren sprechen von „oneiric synesthesia“ als Ergebnis eines „hyper-associative cognitive state following sleep“ und argumentieren für die Annahme omnidirektionaler Verknüpfungen von normalerweise unidirektionalen neuronalen Bahnen während des Schlafs (Reznik et al. 2018, 379).</ref> wobei der Raum durch die räumliche ''Erfahrung'' überhaupt erst zu existieren beginnt (d.h. Traum und Film „are not oriented in any total space“; Langer 1953, 415), und auf einer „affective or associative logic“, die sowohl dem Filmschnitt als auch den Traumbildern zugrunde liegt (Carroll 1988, 13). Im Bezug auf Langers Beobachtung, dass der Filmbetrachter „the place of the dreamer“ einnimmt, ohne physisch im Szenario anwesend zu sein, würden die meisten Traumforscherinnen wahrscheinlich eher von einer hypnagogischen als von einer traumartigen Erlebnisqualität im engeren Sinne sprechen. Der Körper des Traum-Ichs materialisiert sich nämlich erst im Traumzustand, nicht etwa schon in der hypnagogen Phase, d.h. in dem Bewusstseinszustand zwischen Wachen und Träumen. In den Worten Evan Thompsons: „The experience of being a self in the world, which marks the waking state but diminishes in the hypnagogic state, reappears in dreams“ (Thompson 2017, 127).


Christian Metz’ Beitrag zur Filmtheorie basiert auf der Kombination von Semiotik und Freud’scher Psychoanalyse. Interessanterweise beschreibt Metz allerdings ausführlich die Beziehung zwischen Zuschauerin und Film, wenn es um die Traumartigkeit des filmischen Mediums geht. Seiner Ausgangsbeobachtung nach besteht der prinzipielle Unterschied zwischen der Film- und der Traumsituation darin, dass sich der Träumer des Träumens nicht bewusst ist, wohingegen „the film spectator knows that he is at the cinema“ (Metz 1985, 101). Jedoch kann sich in beiden Fällen der Bewusstseinsgrad ändern, kann sich doch die träumende Person ihres Traumes gewahr werden und die Filmzuschauerin vergessen, dass sie im Kino ist. Metz regt die Idee des luziden Träumens an, wenn er über das „open[ing of] a gap in the hermetic sealing-off that ordinarily defines dreaming“, schreibt (Metz 1985, 104). Als Konsequenz dieser doppelten Dynamik bemerkt Metz: „[I]t is in their gaps rather than in their more normal functioning that the filmic state and the dream state tend to converge“ (ebd.). Das heißt, die beiden Zustände nähern sich dann an, wenn die Träumende an Bewusstsein gewinnt und die Filmschauende an Bewusstsein verliert. Genauer gesagt kann der Filmzustand, der durch „a general tendency to lower wakefulness“ gekennzeichnet ist, den Zuschauer in Richtung des Träumens bewegen, und zwar durch seine „encouragement of narcissistic withdrawal“, sein „indulgence of phantasy“, den „withdrawal of the libido within the ego“ und durch die „suspension of concern for the exterior world“ (Metz, 1985, 107). Film wird zur „machine for grinding up affectivity and inhibiting action“ (ebd.), ein Punkt der besonders für die phänomenologisch ausgerichteten Studien Vlada Petrićs und Rainer Schönhammers von Belang ist (s. nächstes Unterkapitel). Es scheint wichtig zu betonen, dass die Reduktion von Wachheit im Kino zu einer „impression of reality“ führt, der sich der genuinen Illusion des Träumens zwar annähern, sie jedoch nie erreichen kann (ebd.). Das hat mit dem Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination, „in terms of a phenomenology of consciousness“, zu tun (Metz 1985, 109). Filmische Wahrnehmung setzt einen äußeren Reiz voraus, Träumen nicht. Die Filmerfahrung involviert einen „progressive path“ der „psychical excitation“, bei dem äußere Objekte die Wahrnehmung verursachen (Metz 1985, 114). Das Träumen hingegen ist von einem „regressive path“ gekennzeichnet, d.h. von einer Erregung von innen nach außen (ebd.). Streng freudianisch in seiner Herangehensweise argumentiert Metz, dass die Wahrnehmungstäuschung in einem Traum durch die Kombination aus unbewusstem Wunsch und wunschauslösender, kürzlicher, vorbewusster Erinnerung verursacht wird (ebd.). Obwohl die Filmsituation eine Tendenz zur Regression aufweist, in dem sie die motorische Ausführung der Zuschauerin nicht zulässt, ist die Regression nie vollständig, da die filmische Wahrnehmung doppelt, d.h. „simultaneously from without and within“, verstärkt wird und damit sowohl von der progressiven Bahn als auch von der regressiven Bahn geprägt ist (Metz 1985, 117 f).
Christian Metz’ Beitrag zur Filmtheorie basiert auf der Kombination von Semiotik und Freud’scher Psychoanalyse. Interessanterweise beschreibt Metz allerdings ausführlich die Beziehung zwischen Zuschauerin und Film, wenn es um die Traumartigkeit des filmischen Mediums geht. Seiner Ausgangsbeobachtung nach besteht der prinzipielle Unterschied zwischen der Film- und der Traumsituation darin, dass sich der Träumer des Träumens nicht bewusst ist, wohingegen „the film spectator knows that he is at the cinema“ (Metz 1985, 101). Jedoch kann sich in beiden Fällen der Bewusstseinsgrad ändern, kann sich doch die träumende Person ihres Traumes gewahr werden und die Filmzuschauerin vergessen, dass sie im Kino ist. Metz regt die Idee des luziden Träumens an, wenn er über das „open[ing of] a gap in the hermetic sealing-off that ordinarily defines dreaming“, schreibt (Metz 1985, 104). Als Konsequenz dieser doppelten Dynamik bemerkt Metz: „[I]t is in their gaps rather than in their more normal functioning that the filmic state and the dream state tend to converge“ (ebd.). Das heißt, die beiden Zustände nähern sich dann an, wenn die Träumende an Bewusstsein gewinnt und die Filmschauende an Bewusstsein verliert. Genauer gesagt kann der Filmzustand, der durch „a general tendency to lower wakefulness“ gekennzeichnet ist, den Zuschauer in Richtung des Träumens bewegen, und zwar durch seine „encouragement of narcissistic withdrawal“, sein „indulgence of phantasy“, den „withdrawal of the libido within the ego“ und durch die „suspension of concern for the exterior world“ (Metz, 1985, 107). Film wird zur „machine for grinding up affectivity and inhibiting action“ (ebd.), ein Punkt der besonders für die phänomenologisch ausgerichteten Studien Vlada Petrićs und Rainer Schönhammers von Belang ist (s. nächstes Unterkapitel). Es scheint wichtig zu betonen, dass die Reduktion von Wachheit im Kino zu einer „impression of reality“ führt, der sich der genuinen Illusion des Träumens zwar annähern, sie jedoch nie erreichen kann (ebd.). Das hat mit dem Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination, „in terms of a phenomenology of consciousness“, zu tun (Metz 1985, 109). Filmische Wahrnehmung setzt einen äußeren Reiz voraus, Träumen nicht. Die Filmerfahrung involviert einen „progressive path“ der „psychical excitation“, bei dem äußere Objekte die Wahrnehmung verursachen (Metz 1985, 114). Das Träumen hingegen ist von einem „regressive path“ gekennzeichnet, d.h. von einer Erregung von innen nach außen (ebd.). Streng freudianisch in seiner Herangehensweise argumentiert Metz, dass die Wahrnehmungstäuschung in einem Traum durch die Kombination aus unbewusstem Wunsch und wunschauslösender, kürzlicher, vorbewusster Erinnerung verursacht wird (ebd.). Obwohl die Filmsituation eine Tendenz zur Regression aufweist, in dem sie die motorische Ausführung der Zuschauerin nicht zulässt, ist die Regression nie vollständig, da die filmische Wahrnehmung doppelt, d.h. „simultaneously from without and within“, verstärkt wird und damit sowohl von der progressiven Bahn als auch von der regressiven Bahn geprägt ist (Metz 1985, 117 f).
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