"Traumaufzeichnungen" (Walter Benjamin): Unterschied zwischen den Versionen

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==Themen und Motive==
==Themen, Motive und Deutungen==
Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist relativ breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume mit Wortwitz oder ungewöhnlichen Wortbildungen (z.B. Nrn. 3, 5, 9), Träume vom Mond und den Sternen (z.B. Nrn. 6, 16, 17) oder auch libidinöse Trauminhalte (z.B. in Nrn. 27, 28, 33) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner, T 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner, T 146). Dazu schreibt Benjamin z.B. in seinem ''Passagen-Werk'': „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608). Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er auch keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner, T 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen und gleichzeitig spannende Fragen aufwerfen. So zeigt sich z.B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. der schließlich herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner, T 145 f.).
Das inhaltliche Spektrum der aufgezeichneten Träume Benjamins ist recht breit und die präsentierte Sammlung weist nur wenige wiederkehrende Traummotive auf. Zuweilen handelt es sich bei den Traumaufzeichnungen nur um kurze Traumszenen, manchmal um längere Traumerzählungen, in denen heitere Trauminhalte, Alp- oder Angstträume, ein Traum vom eigenen Selbstmord mit einem Gewehr (Nr. 4 in der Liste oben), Träume mit Wortwitz oder ungewöhnlichen Wortbildungen (z. B. Nrn. 3, 5, 9), Träume vom Mond und den Sternen (z. B. Nrn. 6, 16, 17) oder auch erotische Trauminhalte (z. B. in Nrn. 27, 28, 33, 35) eine Rolle spielen und die häufig auf den Augenblick des Erwachens ausgerichtet erscheinen (Lindner, T 145). Das Erwachen aus dem Traum spielt bei Benjamin eine bedeutende Rolle und dient sowohl der Gewinnung von Erkenntnissen über die „Wachwelt“ als auch über den Traum, der insbesondere „Gewesenes“ reflektiert (Goebel 2007, 588) und somit eine „geschichtliche Struktur“ darstellt (Maeding 2012, 13). Lindner spricht hier vom „Auftauchen von Erinnerungen, über die das bewußte Ich nicht verfügt, im Traum selbst“ (Lindner, T 146). Dazu schreibt Benjamin z. B. in seinem Passagen-Werk: „Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens“ (GS V, 608).


Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z.B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nr. 12 und Nr. 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem in der Folgenacht stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner, T 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte“ (T 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des [Dienst-]Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.).
Benjamins Traumaufzeichnungen sind geprägt von seiner Absicht, „die Besonderheit und den Geheimnischarakter des Traums“ zu bewahren, weshalb er in der Regel keine Selbstanalysen oder Analysen der Traumbotschaften mitliefert und die Träume somit häufig „rätselhaft“ bleiben. Aus diesem Grund sperren sie sich tendenziell auch gegen Versuche psychoanalytischer Annäherungen (Lindner, T 144). Lindner stellt allerdings verschiedene Phänomene und Entwicklungen innerhalb des Korpus von Benjamins Traumaufzeichnungen fest, die interessante Rückschlüsse oder Deutungen bezüglich seiner eigenen Entwicklung zulassen und gleichzeitig spannende Fragen aufwerfen. So zeigt sich z. B. dass „die Träume aus der ‚Berliner Kindheit‘ und der ‚Berliner Chronik‘ zumeist in der Räumlichkeit der Elternwohnung oder der Schule angesiedelt sind“, während sich „die späteren Träume oftmals auf der Straße oder im Freien“ abspielen, oder dass Benjamin über den Zeitraum der Aufzeichnung seiner Träume (1928-1939) trotz des zunehmenden Einflusses des Nationalsozialismus in Deutschland bzw. der schließlich herrschenden NS-Diktatur in den vorhandenen Traumaufzeichnungen kaum auf die politische Lage eingeht (Lindner, T 145 f.).


Offensichtlich ist, dass verschiedene Motive in Benjamins Traumaufzeichnungen zuweilen durch Biographisches bzw. Privates geprägt sind. Vor dem Hintergrund seines Engagements in der damaligen Jugendbewegung beschreibt er z. B. den Traum von einer Schülerrevolte (Nr. 2). Eine weitere Traumaufzeichnung berichtet von einem Spaziergang in der Gegend des Ortes Haubinda in Thüringen, in der er einen Teil seiner Schulzeit verbrachte (Nr. 31). Auch die Traumaufzeichnung „Das Gespenst“ (Nrn. 12 und 13, verschiedene Versionen mit alternativen Enden) hat einen direkten autobiographischen Hintergrund. In Bezug auf die letztgenannte Traumaufzeichnung lässt sich ein bedeutendes Motiv identifizieren, der 'Traumverrat' (Abschnitt 1). Dieser Traum stammt aus Benjamins Kindheit und erzählt vom nächtlichen Besuch eines Gespenstes, das Gegenstände im Elternschlafzimmer der Familie Benjamin stiehlt, und von einem in der Folgenacht stattfindenden Einbruch einer „vielköpfigen Einbrecherbande“ in das Haus der Familie Benjamins (Lindner, T 143). Während das Traum-Ich in der ersten Fassung (Nr. 12) stolz ist auf seinen Traum mit prophetischem Charakter und die Möglichkeit, ihn zu erzählen („Es machte mich stolz, daß man mich über die Ereignisse des Vorabends ausfragte […]. Noch stolzer aber machte mich die Frage, warum ich meinen Traum, den ich als Prophezeiung, natürlich nun zum besten gab, verschwiegen hätte“, T 22), so wird am Ende der zweiten Version (Nr. 13) der Schrecken des Traum-Ichs über den 'Verrat' des eigenen Traumes deutlich: „Auch mich verwickelte man in den Vorfall. Zwar wußte ich nichts über das Verhalten des [Dienst-]Mädchens, das am Abend vor dem Gittertor gestanden hatte; aber der Traum der vorvergangenen Nacht schuf mir Gehör. Wie Blaubarts Frau, so schlich die Neugier sich in seine abgelegene Kammer. Und noch im Sprechen merkte ich mit Schrecken, daß ich ihn nie hätte erzählen dürfen“ (T 24 f.).
Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner, T 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).
Darüber hinaus ist auch die Begegnung des Träumenden mit sich selbst im Traum von großer Bedeutung bei Benjamin, da der Traum „prägnante Bilder des Selbst erzeugen und das Dunkel des Ichs blitzartig aufhellen“ kann (Lindner, T 148). Benjamin hat in der Sammlung „Selbstbildnisse des Träumenden“ im Traum auftretende Charakterzüge des Traum-Ichs bildhaft beschrieben und in den jeweiligen Träumen mit entsprechenden Überschriften versehen, die den Charakter hervorheben bzw. präzise bezeichnen: der Enkel, der Seher, der Liebhaber, der Wissende, der Verschwiegene und der Chronist (Nr. 20-25).


Benjamins Traumaufzeichnungen haben in erheblichem Maße seine traumtheoretischen Reflexionen geprägt, die von Burkhardt Lindner als der zweite Teil des herausgegebenen Bandes „Träume“ unter dem Titel „Über die Traumwahrnehmung. Erwachen und Traum“ zusammengestellt wurden. Diese reichen von „kurzen Aphorismen über größere Darlegungen zur Traumliteratur und zur Geschichtlichkeit des Traums bis zur traumpolitischen Konzeption des Erwachens aus dem 19. Jahrhundert“ (Lindner, T 136). Obwohl sich bisher nur wenige Arbeiten dediziert und ausführlich mit Benjamins Traumaufzeichnungen auseinandersetzen, bergen diese interessante Deutungs-, Interpretations- und Erkenntnispotentiale nicht nur für die weitere Benjamin-Forschung. Auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung im Allgemeinen und die Erforschung traumbezogener Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts können Benjamins Aufzeichnungen spannende Ansatzpunkte und Perspektiven bieten.
Ebenso bildhaft inszeniert und aus der Menge der anderen Traumaufzeichnungen aufgrund verschiedener Merkmale besonders hervortretend ist der Traum Nr. 35 gemäß der obigen Liste, den Benjamin als Brief in französischer Sprache an Gretel Adorno adressierte und der Benjamins letzte bekanntgewordene Traumaufzeichnung darstellt (T 60-63, die deutschsprachige Übersetzung, T 63-66). Auffällig ist zunächst, dass Benjamin zu diesem Traum verschiedene Erläuterungen zur Einordnung des Traums und Kontextinformationen mitliefert. Des Weiteren ist die Traumaufzeichnung im Gegensatz zu den meisten anderen taggenau datiert (Lindner, T 149). Benjamin schickt dem eigentlichen Traumnotat im Brief folgendes voraus (T 63):
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
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: <span style="color: #7b879e;>„Rêve du 11/12 octobre 1939 – Brief an Gretel Adorno. Meine Teuerste, ich hatte gestern nacht auf dem dürftigen Strohbett einen Traum von solcher Schönheit, daß ich dem Wunsch nicht widerstehen kann, ihn Dir zu erzählen. Es gibt ja sonst so wenig schöne, wenigstens erfreuliche Sachen, über die ich mit Dir reden könnte. – Er gehört zu der Art von Träumen, die ich vielleicht alle fünf Jahre einmal träume und die um das Motiv des „Lesens“ kreisen. Teddie [Gretels Ehemann Theodor W. Adorno] wird sich erinnern, welche Rolle dieses Motiv in meinen erkenntnistheoretischen Reflexionen spielt. Der Satz, den ich zum Ende des Traums deutlich ausgesprochen habe, wurde auf französisch gesagt, so daß ein doppelter Grund besteht, den Traum Dir in der gleichen Sprache mitzuteilen. Der Arzt Dausse, der mich im Traum begleitet, ist ein Freund von mir; er hat sich, als ich an Malaria erkrankt war, sehr um mich gekümmert.“</span>
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Dann folgt die eigentliche Traumaufzeichnung, in der sich das Traum-Ich gemeinsam mit dem Arzt Dausse zunächst in einer Gesellschaft mehrerer Personen befand. Die beiden verließen irgendwann diese Gesellschaft und gelangten zu einer Ausgrabungsstätte, an der sie „seltsame, fast ebenerdige Liegen“ (T 63) vorfanden, welche die Form und Größe von Särgen aufwiesen und aus Stein gefertigt erschienen. Das Traum-Ich kniete sich vorsichtig auf eine solche Liege und stellte fest, dass sie ähnlich weich wie ein Bett und mit „moosigen Flechten und Efeu“ (T 64) bedeckt war. Die Liegen waren paarweise aufgestellt und das Traum-Ich suchte für sich und den Arzt zwei Liegen aus, merkte dann allerdings, dass diese schon belegt waren. Daraufhin setzten die beiden ihren Weg in einen scheinbar künstlich angelegten Wald fort, bis sie eine Schiffsanlegestelle erreichten, an der sie „drei oder vier“ Frauen antrafen, mit denen der Arzt „zusammenlebte“. Das Traum-Ich schildert ein befremdendes Gefühl darüber, dass der Arzt ihm die Damen nicht vorstellte und dass weiterhin beim Ausziehen und Ablegen seines Strohhutes, den es von seinem Vater geerbt hatte, dieser einen großen Schlitz aufwies und „dessen Ränder dazu noch rotfarbige Spuren trugen“ (T 64), woraufhin man für das Traum-Ich einen Sessel herbeibrachte. Das Traum-Ich beobachtete kurz darauf eine der Damen an einem Tisch, die bezüglich eines seiner Manuskripte, welches sie vom Arzt erhalten hatte, „in graphologische Studien vertieft“ war. An dieser Stelle, die den Kern seines Traumnotates preisgibt, heißt es weiterhin (T 65-66):
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
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: <span style="color: #7b879e;>„Mich versetzte diese Begutachtung in einige Unruhe, weil ich fürchtete, meine intimen Vorlieben könnten auf diese Weise entdeckt werden. Ich ging näher heran. Was ich erblickte, war ein mit bildlichen Zeichnungen gemustertes Stück Stoff. Hinsichtlich schriftgraphischer Elemente konnte ich einzig die oberen Partien des Buchstabens ‚d‘ genau erkennen. Sie verrieten in ihrer Langgezogenheit einen extremen Hang zur Spiritualität. Dieser Teil des Buchstabens war darüber hinaus mit einem kleinen blaugesäumten Segel ausgestattet, und dieses Segel blähte sich über dem Stoffmuster, als sei es von einer Brise erfaßt. Das war das einzige, was ich „lesen“ konnte – das übrige bestand aus undeutlichen Wellen- und Wolkenmotiven. Das Gespräch konzentrierte sich für kurze Zeit auf diese Handschrift. Ob es hierzu klare Meinungen gab, habe ich nicht in Erinnerung. Demgegenüber ist mir ganz gewiß, daß ich unvermittelt dazu wörtlich auf französisch sagte: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Ich hatte noch kaum diese Worte gesprochen, als etwas Beunruhigendes geschah. Unter den Frauen gab es, wie ich bemerkte, eine sehr schöne, die im Bett lag. Als sie meine Erklärung vernahm, machte sie blitzartig eine kleine Bewegung. Sie lüftete einen kleinen Zipfel des Deckbetts, in das sie eingehüllt war. In weniger als einer Sekunde hatte sie diese Geste vollzogen. Dies geschah nicht, um mich ihren Körper sehen zu lassen, sondern um mir das Muster ihres Bettlakens zu zeigen, das der Bilderschrift entsprechen sollte, die ich Jahre zuvor als Geschenk für Dausse „geschrieben“ haben mußte. Ich bin ganz sicher, daß die Dame diese Bewegung zu mir hin gemacht hat. Aber daß ich dies wußte, beruhte auf einer Vision, einer Art zweiter Wahrnehmung. Denn meine Augen blickten anderswohin, und ich sah nichts von dem, was das für mich so flüchtig aufgedeckte Bettlaken hätte zeigen können.“</span>
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Nach Abschluss dieser Traumbeschreibung erläutert Benjamin schließlich in seinem Brief an Gretel Adorno: „Nachdem ich diesen Traum gehabt hatte, konnte ich stundenlang nicht wieder einschlafen. Nämlich vor Glück. Ich schreibe Dir, um Dich an diesen Stunden teilhaben zu lassen“ (T 66).
 
Benjamins erklärt zu Beginn der Traumaufzeichnung, dass der Traum „um das Motiv des Lesens“ kreise. Zudem ist bezüglich der Situation, in der er diesen Traum notierte, festzuhalten, dass er sich zu dieser Zeit nicht nur im französischen Exil, sondern auch mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem französischen Internierungslager, dem Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles im Département Niévre, befand (Derrida 2002) und plante, bei der nächstmöglichen Gelegenheit in die USA zu flüchten (Lindner, T 149). Im Traum begegnet dem Traum-Ich eine alte, von ihm selbst erstellte Handschrift. Diese kann er im Traum zweimal, d. h. in zwei verschiedenen Situationen, erkennen, nämlich als „ein mit Bildern bedecktes Stück Stoff“, das von einer Dame „graphologisch“ studiert wird, sowie als Betttuch, das sichtbar wird, als eine in einem Bett liegende, „sehr schöne“ Frau ihre Bettdecke kurzzeitig anhebt (Lindner, T 150). Bezüglich der Textinhalte des Manuskriptes, welches das Traum-Ich zu sehen bekommt, kann es nur ein einziges Zeichen (Lindner, T 150), nämlich das „obere Ende des Buchstabens „d“. erkennen, an dem ein kleines blaugesäumtes und sich im Wind blähendes Segel angebracht ist. Lindner stellt fest, dass es sich bei diesem Bild um ein Selbstzitat Benjamins handelt: „Mehrere der erkenntnistheoretischen Notate aus der Passagenarbeit zum Begriff der „Rettung“ kreisen um die Metapher vom „Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs“. Der in einer fast ausweglosen Extremsituation Denkende will diesen Wind nutzen. ‚Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.‘ ([GS] V, 591)“ (Lindner, T 150). Vor dem Hintergrund der Kenntnis dieses Selbstzitates ergebe sich Benjamins am Ende des Traums und nach dem Aufwachen empfundenes Glück also aus der Hoffnung auf Rettung aus seiner ausweglosen Situation, dem Hinweis im Traum, dass sich seine Segel mit Wind füllen und ihm ein Ausweg in Aussicht gestellt wird.
 
Eine andere mögliche Lesart des Traumes beziehungsweise einen anderen, etwas weniger hoffnungsvollen Interpretationsansatz stellte Jacques Derrida vor, in dessen Rahmen insbesondere die Mehrdeutigkeit des Begriffs „fichu“ eine zentrale Rolle spielt. In seiner Rede zur Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, den Derrida am 22. September 2001 in Frankfurt erhielt (Derrida 2002), konzentrierte sich Derrida insbesondere auf den von Benjamin in französischer Sprache geäußerten Satz: „Il s’agissait de changer en fichu une poésie.“ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.) Derrida erläutert darin, dass „le fichu“ zwar in seiner „augenfälligsten Bedeutung“ den „Schal, jenes Stück Tuch, das eine Frau sich schnell noch um ihren Kopf oder Hals schlingen mag“, bezeichnet, das Adjektiv „fichu“ hingegen „das Schlechte: das, was übel, verdorben, verloren, verdammt ist“ bedeuten kann. Derrida spekuliert in der beschriebenen Traumsituation, in der Benjamin lediglich den oberen Teil des Buchstabens „d“ erkennen kann, welcher „mit einem kleinen blau gesäumten Schleier versehen“ war und vom Wind erfasst wurde, über eine andere Selbstreferenzierung Benjamins, der persönliche Briefe häufig mit seinem mit dem Buchstaben „d“ beginnenden und von ihm in verschiedenen Kontexten verwendeten Pseudonym „Detlef“ signierte. „Von Benjamin zugleich gelesen und geschrieben, stünde dann der Buchstabe d für die Initiale seiner eigenen Signatur, als wollte Detlef sich zu verstehen geben: „Je suis le fichu“: „Ich bin dieses Halstuch“, ja als wollte er aus dem Camp de travailleurs volontaires, weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und wie jeder Sterbliche, der Ich sagt, in seiner Traumsprache zu sich sagen: „Moi, d, je suis fichu“: „Ich, d, bin fertig, mit mir ist es aus.“, ganz im Sinne einer geträumten „poetische[n] und vorausdeutende[n] Hieroglyphe“ (Derrida 2002). Der ungewöhnliche Umstand, dass Benjamin darauf bestand, den Traum in französischer Sprache aufzuschreiben, unterstützt Derridas Lesart zwar, da diese Interpretation nur ohne eine Übersetzung des zentralen und in französischer Sprache mehrdeutigen Wortes „fichu“ tatsächlich zugänglich ist, wie Derrida selbst argumentiert (Derrida 2002). Allerdings steht diese Auslegung inhaltlich dem von Benjamin geäußerten Glückgefühl zumindest teilweise entgegen. Dies wäre wiederum aber nicht der Fall, wenn Benjamin sein Glück allein aus der geheimnisvollen Vielschichtigkeit dieses spannenden Traumes gezogen und er den wenig hoffnungsvollen prognostischen Inhalt ignoriert hätte. Beide Auslegungen erscheinen zumindest plausibel und vor dem Hintergrund, dass neben anderen angebotenen Auslegungsmöglichkeiten keine eindeutig zu favorisierende Interpretation hervorsticht, bleibt diese Traumaufzeichnung, wie so oft bei Benjamin, ein faszinierendes, ambivalentes und schillerndes Gebilde, das verschiedene mögliche Zugänge anbieten kann und sich der Eindeutigkeit entzieht.
 
Benjamins Traumaufzeichnungen haben in erheblichem Maße seine traumtheoretischen Reflexionen geprägt, die von Burkhardt Lindner als der zweite Teil des herausgegebenen Bandes „Träume“ unter dem Titel „Über die Traumwahrnehmung. Erwachen und Traum“ zusammengestellt wurden. Diese reichen von „kurzen Aphorismen über größere Darlegungen zur Traumliteratur und zur Geschichtlichkeit des Traums bis zur traumpolitischen Konzeption des Erwachens aus dem 19. Jahrhundert“ (Lindner, T 136). Obwohl sich bisher nur wenige Arbeiten dediziert und ausführlich mit Benjamins Traumaufzeichnungen auseinandersetzen, bergen diese interessante Deutungs-, Interpretations- und Erkenntnispotentiale nicht nur für die weitere Benjamin-Forschung. Auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Traumforschung im Allgemeinen und die Erforschung traumbezogener Literatur des späten 19. und des 20. Jahrhunderts können Benjamins Aufzeichnungen spannende Ansatzpunkte und Perspektiven anbieten.




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* Bubel, Sylvester: Poetiken der Epiphanie in der europäischen Moderne. Studien zu Joyce, Proust, Benjamin und Ponge. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020 (Cultural Dream Studies 7).
* Bubel, Sylvester: Poetiken der Epiphanie in der europäischen Moderne. Studien zu Joyce, Proust, Benjamin und Ponge. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020 (Cultural Dream Studies 7).
* Chamat, Natalie: Also träumte Zarathustra. Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche und der Traum. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (2017) 1, 65-94.
* Chamat, Natalie: Also träumte Zarathustra. Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche und der Traum. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (2017) 1, 65-94.
* Derrida, Jacques: Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege, in: Le Monde diplomatique, Nr. 6647 (11.01.2002), 12. Elektronisch zugänglich unter: https://monde-diplomatique.de/artikel/!1131776, letzter Abruf: 04.04.2022.
* Friedlander, Eli: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München: Beck 2012.
* Friedlander, Eli: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München: Beck 2012.
* Goebel, Rolf J.: Benjamins „Traumhäuser des Kollektivs“ heute. Textlektüre und globale Stadtkultur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 585-592.
* Goebel, Rolf J.: Benjamins „Traumhäuser des Kollektivs“ heute. Textlektüre und globale Stadtkultur. In: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 585-592.

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