"Die Leiblichkeit des Traumzustandes" (Hermann Schmitz): Unterschied zwischen den Versionen
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"Die Leiblichkeit des Traumzustandes" (Hermann Schmitz) (Quelltext anzeigen)
Version vom 24. Mai 2022, 09:21 Uhr
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Mit seinem Werk ''System der Philosophie'', das Hermann Schmitz zwischen 1964 und 1980 publizierte, begründete der deutsche Philosoph die sogenannte "Neue Phänomenologie". Im Rahmen dieser theoretischen Abhandlung entwickelte er auch das phänomenologische Konzept des Traums, in dessen Mittelpunkt die Leiblichkeit, beziehungsweise ihre Dissoziation, steht. | |||
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Schmitz wurde im Jahr 1928 in Leipzig geboren und verstarb im Mai 2021 kurz vor seinem 93. Geburtstag in Kiel. Von 1971–1993 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. | Schmitz wurde im Jahr 1928 in Leipzig geboren und verstarb im Mai 2021 kurz vor seinem 93. Geburtstag in Kiel. Von 1971–1993 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. | ||
==Der Traumzustand== | |||
Im Zuge seiner Arbeiten beschäftigte sich Schmitz mit Träumen und entwickelte sein eigenes neuphänomenologisches Konzept des Traums. In diesem Zusammenhang tritt die Leiblichkeit, beziehungsweise die "Dissoziation der leiblichen Ökonomie" (SdP: Leib 194) als Voraussetzung für den Traumzustand, in den Vordergrund. | |||
Schmitz versteht Träume als "Entfremdungserlebnisse" (SdP: Gegenwart 218), oder als "abnorme Erfahrungen, in denen schlechthin alles traumhaft und illusorisch wirkt" (ebd.). Er definiert den Traum als einen "Zustand, in dem die durch Lockerung des Bandes der leiblichen Ökonomie zügellos gewordenen leiblichen Urimpulse Engung und Weitung in ihren vier Gestalten – als Spannung, Schwellung, privative Engung und privative Weitung – durcheinander wirken und sich in bildhafter Projektion manifestieren" (SdP: Leib 207). Um diese Definition zu entschlüsseln, bedarf es einer Klärung der Begrifflichkeiten (privative) Engung und (privative) Weitung sowie (leibliche) Spannung und (leibliche) Schwellung. Hierfür muss zunächst ein Blick auf Schmitz‘ Leibphilosophie geworfen werden. | |||
===Die Schmitz’sche Leibphilosophie=== | |||
Unter Leib versteht Schmitz "den Bereich der leiblichen Regungen, die jemand von sich in der Gegend (nicht nur in den Grenzen) des eigenen Körpers spüren kann […]" (Leib 3). Gemeint sind damit alle affektiven Regungen, wie etwa Schmerz, Angst oder Müdigkeit sowie Trauer, Freude oder Wut. Der Leib wird also hinsichtlich seiner Räumlichkeit und seiner Dynamik beschrieben. In Bezug auf die Räumlichkeit charakterisiert Schmitz den Leib, also affektive Regungen, als flächenlos und vergleicht diesen mit anderen flächenlosen Räumen, wie etwa dem Wind oder dem Schall. Diese flächenlosen Räume weisen keinerlei Grenzen auf und können somit nicht hinsichtlich ihrer relativen Lage oder ihres relativen Abstandes zu anderen Räumen bestimmt werden (vgl. ebd.). Sie sind folglich absolut-örtlich, im Gegensatz zum Körper, der relativ-örtlich ist, zumal er aufgrund seiner eindeutigen Umrisse eine bestimmte Position einnimmt, die Lage- und Abstandsbezüge zu anderen Objekten, Räumen oder Punkten aufweist. Das bedeutet schließlich, dass absolute Orte nicht durch eine räumliche Orientierung festgelegt werden können, während relative Orte von einer räumlichen Orientierung abhängen (vgl. SdP: Gegenwart 207). Schmitz unterteilt darüber hinaus die affektiven Regungen in ganzheitliche und teilheitliche Regungen, beziehungsweise in Atmosphären. Im Gegensatz zu den ganzheitlichen Regungen, können teilheitliche Regungen mit bestimmten Körperstellen in Verbindung gebracht werden, zum Beispiel Kopfschmerzen mit dem Kopf, Zahnschmerzen mit dem Zahn oder etwa Müdigkeit mit müden Beinen (vgl. Gefühle 333). | |||
Wie bereits erklärt, befinden sich in diesen sogenannten flächenlosen Räumen keine Grenzen, Linien oder Punkte, stattdessen ist der Leib räumlich ausgedehnt in Enge und Weite, die sich in einem stetigen Zusammenspiel befinden und die einander abwechseln. Enge und Weite sind die Grundphänomene der Schmitz‘schen Leibtheorie und bilden, wie etwa Spannung und Schwellung, ein Gegensatzpaar. Da sich es hierbei um Gefühlszustände handelt, lässt sich das Begriffspaar Enge–Weite leicht erklären: Ein Gefühl von Enge spürt man etwa im Zustand von Angst, ein Gefühl von Weite hingegen wird beispielsweise im Rauschzustand erfahrbar. Die leibliche Engung und die leibliche Weitung können in die Impulse Spannung und Schwellung übergehen, wenn ein entsprechendes Übergewicht an Engung oder Weitung vorhanden ist. | |||
Im Traumzustand ist dieses antagonistische Spiel zwischen Engung und Weitung, beziehungsweise Spannung und Schwellung, insoweit gelöst, dass "Engung und Weitung nicht mehr straff einheitlich zusammengefaßt und so, als Spannung und Schwellung, intensiv und rhythmisch an einander gebunden sind, sondern lockerer als im Wachzustand neben einander stehen und in einzelne, gleichsam aufflackernde Impulse der partiellen Engung und Weitung zersplittert sind" (SdP: Leib 195). Schmitz besagt damit, dass sich im wachen Zustand die Leibimpulse in einem regelmäßigen Rhythmus abwechseln. Die Leiblichkeit verhält sich hierbei wie ein Pendel, das je nach Situation hin- und herschwingt. Im onirischen Zustand hingegen erweist sich die Organisation der leiblichen Ökonomie als verworren, ungezügelt und durcheinander (vgl. ebd. 209). Daraus resultiert schließlich die zu Beginn als Voraussetzung des Traumzustandes definierte Dissoziation der leiblichen Ökonomie. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das eingangs erwähnte Band der leiblichen Ökonomie aufgrund der Lockerung im Traum reißen könne. Doch im Gegensatz zum wachen Zustand, erweist der Traum "alle erdenklichen Abstufungen von Spannung, Schwellung, privativer Weitung und privativer Engung in wuchernder, phantastischer Üppigkeit durchbrechen können, auch solche, die von der zäheren, minder nachgiebigen leiblichen Ökonomie des Wachenden unterdrückt werden" (ebd. 196). Mit diesem "Zerfall der leiblichen Gesamtspannung" (ebd. 198) geht ein Richtungszerfall einher, sodass der Mensch nicht mehr in der Lage ist, "die Situation wie im Wachen durch ein von einem leiblichen Zentrum in die Weite ausstrahlendes System von Richtungen einheitlich zu durchdringen und zu gliedern" (ebd. 197). Daraus wiederum resultiert die für den Traum charakteristische "Szenenlosigkeit" (ebd.), "hemmungslose Wandelbarkeit" (ebd. 198) sowie "Verworrenheit und Schemenhaftigkeit" (ebd.). | |||
===Traumszenen der Leibesweitung und Leibesengung=== | |||
Für jeden leiblichen Impuls, außer für die privative Engung, lässt sich jeweils ein typischer Traum aufzeigen. Die extreme Situation der privativen Engung stellt hierbei eine Ausnahme dar, zumal das Erlebnis einer privativen Engung, wie beispielsweise der Schreck, zum Erwachen des Träumenden führen würde (vgl. ebd.). Repräsentativ für die privative Weitung ist etwa der Flug- oder Schwebetraum, während der Angsttraum typisch für die leibliche Spannung ist (vgl. ebd. 197). Der Flug- oder Schwebetraum präsentiert eine Welt, die beherrscht wird "von einer Schwerelosigkeit, die in uferlose Weite entrückt" (ebd. 201), denn der leibliche Impuls der Weitung ist im Traum nicht mehr so stark an den Impuls der Engung geknüpft. Dies erlaubt es den Träumenden in endlose Weiten sanft und leicht davon zu schweben. Der Zustand der Weitung muss im Traum nicht beständig bleiben, denn aufgrund der Regellosigkeit der durcheinander wirkenden Leibimpulse, kann die Weitung urplötzlich von der leiblichen Spannung abgelöst werden und sogar in privative Engung münden, die zum Erwachen der träumenden Person führen kann. In diesem Fall steht der leiblichen Richtung der Weite die leibliche Enge entgegen, die sich etwa im Schreck oder der Angst äußert, wenn der Träumende oder die Träumende in sich zusammenfährt, die Richtung folglich ins leibliche Zentrum geleitet wird. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn die im Traum schwebende Person unerwartet hinabstürzt. Generell, so merkt Schmitz an, liegen Flug- und Angstträume eng beieinander, wenn etwa Flugangst den Flug- oder Schwebetraum begleitet (vgl. ebd. 200). | |||
Sobald der Mensch erwacht, sei es, weil sein Schlaf nun vorbei ist oder aufgrund einer im Traum erlebten privativen Engung, wird die Dissoziation der leiblichen Ökonomie aufgehoben und die Gesamtspannung des Leibes wieder hergestellt. "Erwachen ist Wiederherstellung der Spannung des körperlichen Leibes im Ganzen in der Weise, daß die regelnde leibliche Ökonomie wieder Engung und Weitung zusammenhält […]" (ebd. 212). Das Band zwischen Engung und Weitung wird wieder stärker gespannt, das Gleichgewicht pendelt sich erneut ein und der Mensch ist wieder in der Lage sich zurechtzufinden und zu orientieren. | |||
Die Dynamik des Schmitz’schen Leibes weist außerdem noch eine weitere Dimension auf, nämlich die protopathische und die epikritische, die in diesem Artikel jedoch nicht behandelt wird, zumal sie irrelevant für die phänomenologische Charakterisierung des Traums ist. | |||
==Werke== | ==Werke== | ||
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* Bd. IV: Die Person. (1980) | * Bd. IV: Die Person. (1980) | ||
* Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. (1980) | * Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. (1980) | ||
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Karolina Kowol]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Karolina Kowol]]</div> |