"La Reprise" (Alain Robbe-Grillet): Unterschied zwischen den Versionen

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==Traumerfahrungen in ''La Reprise''==
==Traumerfahrungen in ''La Reprise''==
===Strategien unzuverlässigen Erzählens und Träumens===
===Strategien unzuverlässigen Erzählens und Träumens===
Angelehnt an die klassische Tragödie ist ''La Reprise'' unterteilt in einen Prolog, fünf Kapitel und einen Epilog. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte des französischen Geheimagenten Henri Robin. Im in vier Sektoren geteilten Berlin der späten 1940er Jahre übernimmt er einen Einsatz, in den er selbst nicht vollständig eingeweiht ist und in dem die Identitäten aller Beteiligten (einschließlich seiner eigenen) auf die Probe gestellt werden: Ein Mann, den er am Gendarmenmarkt beschatten soll, wird vor seinen Augen erschossen und die Leiche verschwindet. Mit dem Ausweis des Verstorbenen gelangt Robin zur dort angegebenen Adresse in der fiktiven Kreuzberger Feldmesserstraße, die als „monde disparu“ (R 55) vorgeführt wird und deren Name an den Landvermesser K. aus Kafkas Schloss angelehnt ist. Zwischen dem so genannten Café des Alliés und dem Haus der Familie von Brücke kommt er in Traumsequenzen und Begegnungen mit Doppelgängern zumindest scheinbar seiner eigenen Geschichte auf die Spur. Bis zum Ende des Romans werden beide Fälle – die Robins Agentenmission und seine Identitätssuche – dennoch nicht komplett gelöst. Diese auf der Inhaltsebene angelegte Destabilisierung erhält ihre Entsprechung in der Unzuverlässigkeit des Erzählers wie des Erzählens. Während bereits im Haupttext die Stimme immer wieder unvermittelt zwischen einem homo- und einem heterodiegetischen Erzähler hin- und herwechselt, unterläuft in den Fußnoten eine doppelgängerische Erzählinstanz die Aussagen des Haupttextes. Welche (und ob überhaupt) eine der beiden Instanzen die Wahrheit sagt oder ob beide dem gespaltenen Bewusstsein und den Traumvorstellungen ein und derselben Person entspringen, wird nicht geklärt (vgl. Schneider 2005, 141). Die Doppelgängerkonstellation ist dabei nicht nur grundlegend für das Verwirrspiel der Identitäten in ''La Reprise'' (vgl. Burrichter 2003), sondern scheint sich auch über diesen Einzelfall hinaus in besonderer Weise für die narratologische Ausgestaltung von Träumen zu eignen (vgl. Solte-Gresser 2011, 255f.). Ebenso gehen Unzuverlässigkeit als Erzählstrategie und Traumhaftigkeit des Erzählens in zahlreichen literarischen Texten eine Verbindung ein (vgl. Goumegou 2011, 204; Engel 2017, 25).
Angelehnt an die klassische Tragödie ist ''La Reprise'' unterteilt in einen Prolog, fünf Kapitel und einen Epilog. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte des französischen Geheimagenten Henri Robin. Im in vier Sektoren geteilten Berlin der späten 1940er Jahre übernimmt er einen Einsatz, in den er selbst nicht vollständig eingeweiht ist und in dem die Identitäten aller Beteiligten (einschließlich seiner eigenen) auf die Probe gestellt werden: Ein Mann, den er am Gendarmenmarkt beschatten soll, wird vor seinen Augen erschossen und die Leiche verschwindet. Mit dem Ausweis des Verstorbenen gelangt Robin zur dort angegebenen Adresse in der fiktiven Kreuzberger Feldmesserstraße, die als „monde disparu“ (R 55) vorgeführt wird und deren Name an den Landvermesser K. aus Kafkas Schloss angelehnt ist.<ref>Zum Intertext Kafkas vgl. z.B. Groß 2008, 227.</ref> Zwischen dem so genannten Café des Alliés und dem Haus der Familie von Brücke kommt er in Traumsequenzen und Begegnungen mit Doppelgängern zumindest scheinbar seiner eigenen Geschichte auf die Spur. Bis zum Ende des Romans werden beide Fälle – die Robins Agentenmission und seine Identitätssuche – dennoch nicht komplett gelöst. Diese auf der Inhaltsebene angelegte Destabilisierung erhält ihre Entsprechung in der Unzuverlässigkeit des Erzählers wie des Erzählens. Während bereits im Haupttext die Stimme immer wieder unvermittelt zwischen einem homo- und einem heterodiegetischen Erzähler hin- und herwechselt, unterläuft in den Fußnoten eine doppelgängerische Erzählinstanz die Aussagen des Haupttextes. Welche (und ob überhaupt) eine der beiden Instanzen die Wahrheit sagt oder ob beide dem gespaltenen Bewusstsein und den Traumvorstellungen ein und derselben Person entspringen, wird nicht geklärt (vgl. Schneider 2005, 141). Die Doppelgängerkonstellation ist dabei nicht nur grundlegend für das Verwirrspiel der Identitäten in ''La Reprise'' (vgl. Burrichter 2003), sondern scheint sich auch über diesen Einzelfall hinaus in besonderer Weise für die narratologische Ausgestaltung von Träumen zu eignen (vgl. Solte-Gresser 2011, 255f.). Ebenso gehen Unzuverlässigkeit als Erzählstrategie und Traumhaftigkeit des Erzählens in zahlreichen literarischen Texten eine Verbindung ein (vgl. Goumegou 2011, 204; Engel 2017, 25).


Der Prolog von ''La Reprise'' eröffnet aus der Perspektive Henri Robins die Erzählung mit der Anreise im Zug nach Berlin. Aus dem Fenster blickt der Agent auf eine (alb-)traumartig verwandelte Landschaft:  
Der Prolog von ''La Reprise'' eröffnet aus der Perspektive Henri Robins die Erzählung mit der Anreise im Zug nach Berlin. Aus dem Fenster blickt der Agent auf eine (alb-)traumartig verwandelte Landschaft:  
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Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicher Weise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur.“ (R 71) Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  
Die Verwandlung der Stadt in einen mehr und mehr dem Traum verschriebenen Raum ist symbolisch ebenfalls auf ein Objekt bezogen, einen Stadtplan von Berlin: Nachdem Robin seinen eigenen Plan verloren hat, findet er kurz vor dem Einschlafen im Hotel in der Feldmesserstraße einen beinahe identischen Plan. Beim Aufwachen stellt er fest, dass die Karte unerklärlicher Weise zwei Markierungen enthält. Sie deuten genau auf die Orte seines eigenen Aufenthalts hin, „l’une marquant le bout en cul-de-sac de la rue Feldmesser, ce qui n’a rien d’étonnant dans cette auberge, l’autre plus troublante au coin de la place des Gens d’Armes et de la rue du Chasseur.“ (R 71) Die Karte signalisiert eine Verzerrung der Realität im Blindfeld der Feldmesserstraße. Sie ist einer von mehreren Schwellenräumen und „Garanten des Kippens in Sphären des Imaginären und Traumanalogen“ (Küchler 2011, 614), an dem die Unterscheidung von Traum und Wacherleben nicht mehr funktioniert.  


Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist. Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (vgl. R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (vgl. Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht. Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'', sondern weisen darüber hinaus zurück auf Prousts ''Recherche'' (vgl. Steurer 2021, 335f.). Im vierten Band bleibt Marcel dort im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (vgl. Proust 1989, 445f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164) Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, der die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedelt.
Von zentraler Bedeutung für die instabile Schwelle zwischen Traum- und Wacherfahrung ist das Material der urbanen Landschaft selbst. Bereits am Beginn seiner Mission imaginiert Robin ausgehend von der Leerstelle eines „socle vacant“ (R 32) auf dem Gendarmenmarkt eine Statuengruppe, die auch als Traumprodukt lesbar ist.<ref>Zum schöpferischen Potential der Leerstelle bei Robbe-Grillet vgl. Steurer 2022.</ref> Noch deutlicher manifestiert sich der Zusammenhang von Stadtmaterial und Traum in den Szenen, die im Umfeld der Feldmesserstraße spielen – durch ihre Fiktivität hebt sie sich von der sonst mehr oder weniger realistisch beschriebenen Topographie Berlins als dem Imaginären und dem Traum besonders verhafteter Ort ab. In der Straße befindet sich u.a. eine stillgelegte Klappbrücke (vgl. R 55). Sie zitiert den Intertext von ''Les Gommes'' und markiert eine unaufhörliche Sinnverschiebung (vgl. Steurer 2016), die der unsicheren Grenzziehung zwischen Schlafen und Wachen entspricht.<ref>Robbe-Grillet nennt die Klappbrücke gemeinsam mit der Tür als die beiden zentralen Figuren seines poetisch-ästhetischen Schaffens (vgl. Robbe-Grillet 1991, 41).</ref> Die Feldmesserstraße hat ein ungleichmäßiges Pflaster und ist von „pavés disjoints“ (R 58) überzogen. Sie evozieren nicht nur den Untertitel von ''Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints'', sondern weisen darüber hinaus zurück auf Prousts ''Recherche'' (vgl. Steurer 2021, 335f.). Im vierten Band bleibt Marcel dort im Hof des Hôtel de Guermantes an den unebenen Pflastersteinen hängen (vgl. Proust 1989, 445f.). Das Stolpern löst, ähnlich wie beim Verzehr der Madeleine, eine Erinnerung aus und bahnt den Einstieg in eine neue Welt. Auch Robin gelangt über die unebenen Steine in eine andere Dimension. Während aber bei Proust die sich neu öffnende Welt explizit als Welt der real erlebten Vergangenheit gekennzeichnet ist, oszilliert der Schwellenraum von Robbe-Grillets „pavés disjoints“ zwischen Erinnerung und Traum. Im Nachhinein kann Agent die Erlebnisse in der Feldmesserstraße kaum der Realität oder der Imagination bzw. dem Traum zuordnen. Dazu passt, dass er nachts im Haus der Familie von Brücke in Räumen umherirrt, die ihm nur schwer mit den Außenmaßen des Gebäudes vereinbar scheinen: „La crainte me vient que cela ne soit pas compatible avec les dimensions extérieures de la maison sur le canal“ (R 164) Inkompatibilität und Inkohärenz der Erfahrungen kennzeichnen die Odyssee im Keller des Hauses als einen von vielen Strängen, der die Handlung von ''La Reprise'' in einer Schwellenzone zwischen Traum, Imagination und Realität ansiedelt.




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