"Mao" (Friedrich Huch): Unterschied zwischen den Versionen
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"Mao" (Friedrich Huch) (Quelltext anzeigen)
Version vom 10. August 2022, 14:50 Uhr
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Die Mehrdeutigkeit als besondere „Spielart der Kommunikation über den Traum, die hier ihren eigenen Ort für die Aussprache über das begrifflich nicht Zugängliche einer dunkel geltenden Seelenlandschaft findet“ (Alt 2005, 26), ist das zentrale Motiv dieses Romans. Insbesondere in der Beschreibung der Gefühlswelt des Protagonisten gelangt die Ambivalenz des Zwischenraumes von Wachen und Schlafen zur Darstellung. Beispielsweise in folgender Passage: <blockquote>„Er wußte, daß er, Thomas, hier am Gitter stand und hinabsah, aber wenn er gerade dieses mit Angestrengtheit dachte, so war er sich selbst ganz fremd, ein anderer, es löste sich dieselbe Gestalt in zwei gesonderte, um im nächsten Augenblick, beim wachen Hinschaun, wieder nur eine einzige zu sein.“ (51)</blockquote>Als er nach nächtlichen Suchen im alten Haus das durch den Vater versteckte Bild Maos findet, heißt es: <blockquote>„Alle Furcht, alle Angst war zergangen, er war geborgen und geschützt, heimisch und heimlich war das Unheimliche, die Nacht, die ihn mit Schrecken füllte, mütterlich und gnadenvoll. Maos Bild begann im Wappenschilde unter dem höchsten Giebel zu erglimmen, Traumklänge strahlten von ihm aus…“ (85)</blockquote>Die Nacht wird als mütterlich, schrecklich aber auch gnadenvoll beschrieben. Die plötzlich wahrnehmbaren Traumklänge verweisen nicht auf das Einsetzen eines Traumes, sondern auf eine sehnsuchtsvolle Vision, die Thomas mit dem Bild und allem das es in seiner Wahrnehmung verkörpert, verbindet. | Die Mehrdeutigkeit als besondere „Spielart der Kommunikation über den Traum, die hier ihren eigenen Ort für die Aussprache über das begrifflich nicht Zugängliche einer dunkel geltenden Seelenlandschaft findet“ (Alt 2005, 26), ist das zentrale Motiv dieses Romans. Insbesondere in der Beschreibung der Gefühlswelt des Protagonisten gelangt die Ambivalenz des Zwischenraumes von Wachen und Schlafen zur Darstellung. Beispielsweise in folgender Passage: <blockquote>„Er wußte, daß er, Thomas, hier am Gitter stand und hinabsah, aber wenn er gerade dieses mit Angestrengtheit dachte, so war er sich selbst ganz fremd, ein anderer, es löste sich dieselbe Gestalt in zwei gesonderte, um im nächsten Augenblick, beim wachen Hinschaun, wieder nur eine einzige zu sein.“ (51)</blockquote>Als er nach nächtlichen Suchen im alten Haus das durch den Vater versteckte Bild Maos findet, heißt es: <blockquote>„Alle Furcht, alle Angst war zergangen, er war geborgen und geschützt, heimisch und heimlich war das Unheimliche, die Nacht, die ihn mit Schrecken füllte, mütterlich und gnadenvoll. Maos Bild begann im Wappenschilde unter dem höchsten Giebel zu erglimmen, Traumklänge strahlten von ihm aus…“ (85)</blockquote>Die Nacht wird als mütterlich, schrecklich aber auch gnadenvoll beschrieben. Die plötzlich wahrnehmbaren Traumklänge verweisen nicht auf das Einsetzen eines Traumes, sondern auf eine sehnsuchtsvolle Vision, die Thomas mit dem Bild und allem das es in seiner Wahrnehmung verkörpert, verbindet. | ||
Zum Ende des Romans nimmt die akustische Untermalung der spezifischen Wahrnehmung dieser Figur stetig zu. Als Thomas eines nachts in den Ruinen des halb abgerissenen Hauses umhergeht, heißt es: <blockquote>„Er fühlte seinen Körper nicht mehr, […]. Wie ein Schlafwandler schritt er leicht und sicher an allen aufgerissenen Tiefen vorüber, […] leise wuchs das alte Haus um ihn empor, […] leise Töne eines uralten Gesanges umschwebten ihn. […] Die Töne schwollen an, dumpf rollten sie aus allen Gängen hin […], dumpf wurden sie zurückgeworfen, um abermals zurückzurollen, in ewig gleichmäßiger Bewegung, dumpfer, leiser, bis sie ganz zum Murmeln wurden und erstarben. Aber in der ungeheuren Stille um ihn her erhob sich ein fernes Rauschen wie von Blättern, das näher und näher schwoll, vom Sturm getrieben, seine Stimmen dröhnten und brachen sich im Anprall, und nun jagten, brausten, flammten, flackerten sie ihm durchs Blut. […] Da klang, sprang und zerriß eine ungeheure Harfe. Arbeiter fanden ihn am anderen Morgen im Abgrund, tot, im fahlen Frühlicht.“ (157 f.)</blockquote>Der Traum bzw. eine höchst individuelle, traumhafte Wahrnehmung sind in dieser Erzählung auf mehreren Ebenen dominant. Was die Struktur betrifft, kommen der Traum und das Träumen in einem traumförmig strukturierten Handlungsablauf (vgl. Steinlein 2008, 2) zur Darstellung, der surrealistische Erzählweisen vorwegnimmt. Inspiriert sind diese Darstellungen eines diffusen Zwischenraumes von Wach- und Traumbewusstsein augenscheinlich aus den Kindheitserlebnissen des Autors, aber auch aus seinen Traumnotaten (vgl. Schäfer 2021). Mit Blick auf den Effekt dieser Darstellung wird eine Nähe zur schwarzen Romantik deutlich, da der Traum auch hier „als Medium der Entdifferenzierung und Aufhebung der Identität, als Schauplatz von Verdopplung, Ich-Diffusion und Selbstentfremdung, von Rollenwechsel und Transgression, von Besessenheit und Triebdetermination“ (Alt 2005, 20) erscheint. Hinzu kommt der Aspekt, dass traumhafte und kindliche Wahrnehmung enggeführt werden, wobei eine qualitative Differenzierung von weiblichen und männlichen Figuren sichtbar wird. So bedauert es die Mutter des Protagonisten, dass ihre Tochter so hartherzig und pragmatisch ist, während ihr Sohn sich als überaus sensibel und träumerisch erweist; Attribute, die man einem Mädchen verzeihen könnte, die sich für einen Jungen jedoch nicht zu eignen scheinen. Der Umzug und der damit verbundene endgültige Verlust des geliebten Bildes markieren das Ende der kindlichen Träumerei (vgl. Li 1989, 77). Die finale Szene, die einer wahnhaften (Traum-)Vision gleicht, kann daher auch als bewusste Abwehr der Anforderungen an die Integration eines männlichen Individuums in die geschilderte Erwachsenengesellschaft gelesen werden. Die Figur ist nicht im Stande oder nicht gewillt, ihre individuelle traumhafte Wahrnehmung sowie die als höchst angenehm empfundene Symbiose mit dem Elternhaus und dem geliebten Bild aufzugeben. | Zum Ende des Romans nimmt die akustische Untermalung der spezifischen Wahrnehmung dieser Figur stetig zu. Als Thomas eines nachts in den Ruinen des halb abgerissenen Hauses umhergeht, heißt es: <blockquote>„Er fühlte seinen Körper nicht mehr, […]. Wie ein Schlafwandler schritt er leicht und sicher an allen aufgerissenen Tiefen vorüber, […] leise wuchs das alte Haus um ihn empor, […] leise Töne eines uralten Gesanges umschwebten ihn. […] Die Töne schwollen an, dumpf rollten sie aus allen Gängen hin […], dumpf wurden sie zurückgeworfen, um abermals zurückzurollen, in ewig gleichmäßiger Bewegung, dumpfer, leiser, bis sie ganz zum Murmeln wurden und erstarben. Aber in der ungeheuren Stille um ihn her erhob sich ein fernes Rauschen wie von Blättern, das näher und näher schwoll, vom Sturm getrieben, seine Stimmen dröhnten und brachen sich im Anprall, und nun jagten, brausten, flammten, flackerten sie ihm durchs Blut. […] Da klang, sprang und zerriß eine ungeheure Harfe. Arbeiter fanden ihn am anderen Morgen im Abgrund, tot, im fahlen Frühlicht.“ (157 f.)</blockquote>Der Traum bzw. eine höchst individuelle, traumhafte Wahrnehmung sind in dieser Erzählung auf mehreren Ebenen dominant. Was die Struktur betrifft, kommen der Traum und das Träumen in einem traumförmig strukturierten Handlungsablauf (vgl. Steinlein 2008, 2) zur Darstellung, der surrealistische Erzählweisen vorwegnimmt. Inspiriert sind diese Darstellungen eines diffusen Zwischenraumes von Wach- und Traumbewusstsein augenscheinlich aus den Kindheitserlebnissen des Autors, aber auch aus seinen Traumnotaten (vgl. Schäfer 2021). Mit Blick auf den Effekt dieser Darstellung wird eine Nähe zur schwarzen Romantik deutlich, da der Traum auch hier „als Medium der Entdifferenzierung und Aufhebung der Identität, als Schauplatz von Verdopplung, Ich-Diffusion und Selbstentfremdung, von Rollenwechsel und Transgression, von Besessenheit und Triebdetermination“ (Alt 2005, 20) erscheint. Hinzu kommt der Aspekt, dass traumhafte und kindliche Wahrnehmung enggeführt werden, wobei eine qualitative Differenzierung von weiblichen und männlichen Figuren sichtbar wird. So bedauert es die Mutter des Protagonisten, dass ihre Tochter so hartherzig und pragmatisch ist, während ihr Sohn sich als überaus sensibel und träumerisch erweist; Attribute, die man einem Mädchen verzeihen könnte, die sich für einen Jungen jedoch nicht zu eignen scheinen. Der Umzug und der damit verbundene endgültige Verlust des geliebten Bildes markieren das Ende der kindlichen Träumerei (vgl. Li 1989, 77). Die finale Szene, die einer wahnhaften (Traum-)Vision gleicht, kann daher auch als bewusste Abwehr der Anforderungen an die Integration eines männlichen Individuums in die geschilderte Erwachsenengesellschaft gelesen werden. Die Figur ist nicht im Stande oder nicht gewillt, ihre individuelle traumhafte Wahrnehmung sowie die als höchst angenehm empfundene Symbiose mit dem Elternhaus und dem geliebten Bild aufzugeben. | ||
Iris Schäfer | |||
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Zitiervorschlag für diesen Artikel: | |||
Schäfer, Iris: "Mao" (Friedrich Huch). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Mao%22_(Friedrich_Huch) . | |||
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