"Finnegans Wake" (James Joyce): Unterschied zwischen den Versionen

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Als Joyce 1914 – zu jener Zeit schon seit fast einem Jahrzehnt als Sprachlehrer in Triest tätig – seine ''Dubliners''-Erzählungen und zwei Jahre später seinen experimentellen ''Portrait''-Roman endlich veröffentlichen konnte, scheint die erhoffte Karriere als Schriftsteller erreichbar. Während des Ersten Weltkriegs emigriert er mit seiner jungen Familie zunächst nach Zürich und lebt ab 1920 in Paris, wo zwei Jahre später sein wegweisender Roman ''Ulysses'' erscheinen wird: In 18 Episoden mit ebensovielen unterschiedlichen Erzählperspektiven handelt die Geschichte von einem gewöhnlichen Tag im Leben des modernen 'Odysseus' Leopold Bloom, eines Anzeigenakquisiteurs. Um ihn herum spannt sich an jenem 16. Juni 1904 – und damit ebendem Tag, seit dem Joyce und Barnacle ein Paar sind – ein literarischer Mikrokosmos aus unzähligen weiteren Figuren und Begegnungen, Verweisen und Versatzstücken.  
Als Joyce 1914 – zu jener Zeit schon seit fast einem Jahrzehnt als Sprachlehrer in Triest tätig – seine ''Dubliners''-Erzählungen und zwei Jahre später seinen experimentellen ''Portrait''-Roman endlich veröffentlichen konnte, scheint die erhoffte Karriere als Schriftsteller erreichbar. Während des Ersten Weltkriegs emigriert er mit seiner jungen Familie zunächst nach Zürich und lebt ab 1920 in Paris, wo zwei Jahre später sein wegweisender Roman ''Ulysses'' erscheinen wird: In 18 Episoden mit ebensovielen unterschiedlichen Erzählperspektiven handelt die Geschichte von einem gewöhnlichen Tag im Leben des modernen 'Odysseus' Leopold Bloom, eines Anzeigenakquisiteurs. Um ihn herum spannt sich an jenem 16. Juni 1904 – und damit ebendem Tag, seit dem Joyce und Barnacle ein Paar sind – ein literarischer Mikrokosmos aus unzähligen weiteren Figuren und Begegnungen, Verweisen und Versatzstücken.  


Dieses wahrlich enzyklopädische Erzählen stellt Lesende bis heute vor Herausforderungen, und tatsächlich entstanden bereits bald, nachdem das Buch in einer kleinen Auflage bei Shakespeare and Company an Joyces 40. Geburtstag erschienen war, erste Schemata als Schlüssel zum Verständnis des Romans (vgl. Gilbert 1930). Doch für Joyce ist der ''Ulysses'' nur der Auftakt: "When Nora Barnacle asked her husband, 'Why don't you write sensible books that people can understand?', her husband ignored her and wrote 'Finnegans Wake'." (Smith 2009, 17; vgl. zu Nora Barnacles Zitat von 1927 auch Ellmann 2009, 871)
Dieses wahrlich enzyklopädische Erzählen stellt Lesende bis heute vor Herausforderungen, und tatsächlich entstanden bereits bald, nachdem das Buch in einer kleinen Auflage bei Shakespeare and Company an Joyces 40. Geburtstag erschienen war, erste Schemata als Schlüssel zum Verständnis des Romans (vgl. Gilbert 1930). Doch für Joyce ist der ''Ulysses'' nur der Auftakt: "When Nora Barnacle asked her husband, 'Why don't you write sensible books that people can understand?', her husband ignored her and wrote ''Finnegans Wake''" (Smith 2009, 17; vgl. zu Nora Barnacles Zitat von 1927 auch Ellmann 2009, 871).


===''Work in Progress''===
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Gerade aber jedoch auch der "enzyklopädische[] Wissensvorrat" (Erzgräber 1998, 322) aus Geschichte und Mythologie, Alltags- und Populärkultur (vgl. Blumenbach 1996) lassen das Träumen in ''Finnegans Wake'' nicht nur als 'individuelles' Erleben erscheinen, sondern legen auch eine gewisse Nähe zum Verständnis eines "kollektiven Unbewussten" im Sinne von Jung nahe (vgl. Hart 1962, 80), schließlich bringt der Traum von HCE allgemein bekannte religiöse, historische und kulturelle Stoffe oder Symbole zu einem universellen, die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen bis etwa zum Ersten Weltkrieg umspannenden Traum zusammen (vgl. Bishop 1993, 196).
Gerade aber jedoch auch der "enzyklopädische[] Wissensvorrat" (Erzgräber 1998, 322) aus Geschichte und Mythologie, Alltags- und Populärkultur (vgl. Blumenbach 1996) lassen das Träumen in ''Finnegans Wake'' nicht nur als 'individuelles' Erleben erscheinen, sondern legen auch eine gewisse Nähe zum Verständnis eines "kollektiven Unbewussten" im Sinne von Jung nahe (vgl. Hart 1962, 80), schließlich bringt der Traum von HCE allgemein bekannte religiöse, historische und kulturelle Stoffe oder Symbole zu einem universellen, die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen bis etwa zum Ersten Weltkrieg umspannenden Traum zusammen (vgl. Bishop 1993, 196).


Und so wie HCE in seinem eigenen Traum in verschiedenen Gestalten – von Finnegan bis Buddha, von Noah bis Guinness – auftritt, ist er "nicht eine Person, sondern viele" (Eco 2010, 392): HCE als Jedermann ("Here Comes / Everybody"; FW 32.18f.) kann auf Dutzende von Sprachen ebenso zurückgreifen wie auf philosophische Konzepte und ein gewaltiges Textkorpus aus mehreren Jahrtausenden globalen Schrifttums. Hinzu kommen noch die bereits angesprochenen Sprichwörter, Lieder und Balladen, Songs und Slogans aus der Alltagskultur, sowie Kinderreime und allgemeines Volksgut. So stammen die intertextuellen Bezüge aus religiösen, wissenschaftlichen und literarischen Werken verschiedenster Kulturen und Philologien (vgl. Bonheim 1967; Christiani 1965; Hart 1963; O'Hehir 1968; O'Hehir/Dillon 1977): In seinem Standardwerk ''The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce's 'Finnegans Wake''' konnte James S. Atherton mehrere hundert solcher Verweise zuordnen (vgl. Atherton 2009, 233–290). Damit erscheint Earwicker tatsächlich als das "kollektive Unbewusste" schlechthin und – auf Vico und Jung zurückgehend – die Summer vieler Einzelbewusstseins, das Wissen der Menschheit im Traum abrufend (vgl. Bishop 1993, 212f.; Reichert 1989, 24f.). Gleichzeitig ist HCEs Traum niemals endend und, in Anlehnung an Vicos Geschichtsphilosophie, zirkulär aufgebaut: Earwicker wird nie aufwachen.
Und so wie HCE in seinem eigenen Traum in verschiedenen Gestalten – von Finnegan bis Buddha, von Noah bis Guinness – auftritt, ist er "nicht eine Person, sondern viele" (Eco 2010, 392): HCE als Jedermann ("Here Comes / Everybody"; FW 32.18f.) kann auf Dutzende von Sprachen ebenso zurückgreifen wie auf philosophische Konzepte und ein gewaltiges Textkorpus aus mehreren Jahrtausenden globalen Schrifttums. Hinzu kommen noch die bereits angesprochenen Sprichwörter, Lieder und Balladen, Songs und Slogans aus der Alltagskultur, sowie Kinderreime und allgemeines Volksgut. So stammen die intertextuellen Bezüge aus religiösen, wissenschaftlichen und literarischen Werken verschiedenster Kulturen und Philologien (vgl. Bonheim 1967; Christiani 1965; Hart 1963; O'Hehir 1968; O'Hehir/Dillon 1977): In seinem Standardwerk "The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce's ''Finnegans Wake'"' konnte James S. Atherton mehrere hundert solcher Verweise zuordnen (vgl. Atherton 2009, 233–290). Damit erscheint Earwicker tatsächlich als das "kollektive Unbewusste" schlechthin und – auf Vico und Jung zurückgehend – die Summer vieler Einzelbewusstseins, das Wissen der Menschheit im Traum abrufend (vgl. Bishop 1993, 212f.; Reichert 1989, 24f.). Gleichzeitig ist HCEs Traum niemals endend und, in Anlehnung an Vicos Geschichtsphilosophie, zirkulär aufgebaut: Earwicker wird nie aufwachen.


Gerade die im Traum anklingenden ''nursery rhymes'', einfache Kinderreime also, könnten aber nicht nur aus einem solch umfassenden Wissensschatz stammen, sondern auch aus persönlichen Kindheitserinnerungen von Earwicker (vgl. etwa Myers 1992, 24, 29). Genau wie mit Traumeinflüssen aus seinem alltäglichen Umfeld (etwa Dublin sowie seiner Taverne und Familie) und den Tagesresten (besonders der Vorfall in Phoenix Park) werden solche aus der Kindheit in Erinnerung gebliebenen Elemente in den Traum mit eingeflochten – und HCE wäre damit also eine Mischung aus einem allwissendem "kollektivem Unbewussten" und individuellem Träumer, zumal HCE seine eigene Person im Traum immer wieder reflektiert.
Gerade die im Traum anklingenden ''nursery rhymes'', einfache Kinderreime also, könnten aber nicht nur aus einem solch umfassenden Wissensschatz stammen, sondern auch aus persönlichen Kindheitserinnerungen von Earwicker (vgl. etwa Myers 1992, 24, 29). Genau wie mit Traumeinflüssen aus seinem alltäglichen Umfeld (etwa Dublin sowie seiner Taverne und Familie) und den Tagesresten (besonders der Vorfall in Phoenix Park) werden solche aus der Kindheit in Erinnerung gebliebenen Elemente in den Traum mit eingeflochten – und HCE wäre damit also eine Mischung aus einem allwissendem "kollektivem Unbewussten" und individuellem Träumer, zumal HCE seine eigene Person im Traum immer wieder reflektiert.
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* Füger, Wilhelm: James Joyce. Epoche, Werk, Wirkung. München: Beck 1994.
* Füger, Wilhelm: James Joyce. Epoche, Werk, Wirkung. München: Beck 1994.
* Gilbert, Stuart: James Joyces ''Ulysses''. London: Faber & Faber 1930.
* Gilbert, Stuart: James Joyces ''Ulysses''. London: Faber & Faber 1930.
* Gillespie, Gerald: Oneiric Joyce. Dreaming the Mystery in 'Finnegans Wake' (1939). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Historizing the Dream/Le rêve du point de vue historique. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 251–266.
* Gillespie, Gerald: Oneiric Joyce. Dreaming the Mystery in ''Finnegans Wake'' (1939). In: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Historizing the Dream/Le rêve du point de vue historique. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 251–266.
* Glasheen, Adaline: A Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1956.
* Glasheen, Adaline: A Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1956.
* Glasheen, Adaline: A Second Census of 'Finnegans Wake'. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1963.
* Glasheen, Adaline: A Second Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1963.
* Glasheen, Adaline: Third Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Berkeley: University of California Press 1977.
* Glasheen, Adaline: Third Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Berkeley: University of California Press 1977.
* Hart, Clive: Structure and Motif in ''Finnegans Wake''. London: Faber 1962.
* Hart, Clive: Structure and Motif in ''Finnegans Wake''. London: Faber 1962.
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* Hobson, J. Allan: Dreaming. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford UP 2005.
* Hobson, J. Allan: Dreaming. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford UP 2005.
* Kitcher, Philip: Joyce's Kaleidoscope. An Invitation to ''Finnegans Wake''. Oxford: Oxford UP 2007.
* Kitcher, Philip: Joyce's Kaleidoscope. An Invitation to ''Finnegans Wake''. Oxford: Oxford UP 2007.
* Lernout, Geert: The Beginning: Chapter I.1. In: Luca Crispi/Sam Slote (Hg.): How Joyce Wrote 'Finnegans Wake'. A Chapter-By-Chapter Genetic Guide. Madison: University of Wisconsin Press 2007, 49–65.
* Lernout, Geert: The Beginning: Chapter I.1. In: Luca Crispi/Sam Slote (Hg.): How Joyce Wrote ''Finnegans Wake''. A Chapter-By-Chapter Genetic Guide. Madison: University of Wisconsin Press 2007, 49–65.
* Lodge, David: The Modes of Modern Writing. Metaphor, Metonymy, and the Topology of Modern Literature. London: Edward Arnold 1977.
* Lodge, David: The Modes of Modern Writing. Metaphor, Metonymy, and the Topology of Modern Literature. London: Edward Arnold 1977.
* McHugh, Roland: Annotations to ''Finnegans Wake''. Baltimore: John Hopkins UP 2006.
* McHugh, Roland: Annotations to ''Finnegans Wake''. Baltimore: John Hopkins UP 2006.

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