"Finnegans Wake" (James Joyce): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 15. Januar 2023, 20:03 Uhr
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Dabei fungiert Humphrey Chimpden Earwicker in seinem (Teil-)Traum als Jedermann, als umfassende Menschengestalt ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.), und taucht neben solchen HCE-Wortfolgen auch in Person von mythologischen und historischen Figuren wie Adam, Noah, Christus, Buddha, Thor, Caesar, Cromwell, Wellington, Lord Nelson, Guinness, oder Finnegan auf: Earwicker ist als Verkörperung aller "Kulturen und Traditionen der Menschheitsgeschichte" zu verstehen, "er bedeutet sie alle zugleich, weil sie alle in ihm liegen, kraft des kollektiven Unterbewussten" (Reichert 1989, 24 f.). Bestimmt wird sein Traum von einem Vorfall aus jüngster Zeit, der sich in Phoenix Park, Dublins weitläufiger Grünanlage nördlich von Chapelizod, ereignet hat. Dabei soll er sich unzüchtig gegenüber zwei jungen Frau verhalten haben, diese – eine genaue Entschlüsselung ist durch die mehrschichtige Traumsprache nicht möglich – entweder beobachtet oder sogar exhibitionistisch belästigt haben (Bishop 1993, 166 f.; Campbell/Robinson 2005, 6 f.; Eco 2010, 393). Dass dieser Zwischenfall außerdem von drei betrunkenen Soldaten ("three longly lurking lobstarts"; FW 337.20 f.) beobachtet wurde, lässt bei Earwicker nun Sorgen um seinen Ruf und juristische Konsequenzen aufkommen und wird im Traum immer wieder angerissen. | Dabei fungiert Humphrey Chimpden Earwicker in seinem (Teil-)Traum als Jedermann, als umfassende Menschengestalt ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.), und taucht neben solchen HCE-Wortfolgen auch in Person von mythologischen und historischen Figuren wie Adam, Noah, Christus, Buddha, Thor, Caesar, Cromwell, Wellington, Lord Nelson, Guinness, oder Finnegan auf: Earwicker ist als Verkörperung aller "Kulturen und Traditionen der Menschheitsgeschichte" zu verstehen, "er bedeutet sie alle zugleich, weil sie alle in ihm liegen, kraft des kollektiven Unterbewussten" (Reichert 1989, 24 f.). Bestimmt wird sein Traum von einem Vorfall aus jüngster Zeit, der sich in Phoenix Park, Dublins weitläufiger Grünanlage nördlich von Chapelizod, ereignet hat. Dabei soll er sich unzüchtig gegenüber zwei jungen Frau verhalten haben, diese – eine genaue Entschlüsselung ist durch die mehrschichtige Traumsprache nicht möglich – entweder beobachtet oder sogar exhibitionistisch belästigt haben (Bishop 1993, 166 f.; Campbell/Robinson 2005, 6 f.; Eco 2010, 393). Dass dieser Zwischenfall außerdem von drei betrunkenen Soldaten ("three longly lurking lobstarts"; FW 337.20 f.) beobachtet wurde, lässt bei Earwicker nun Sorgen um seinen Ruf und juristische Konsequenzen aufkommen und wird im Traum immer wieder angerissen. | ||
Die Entsprechung zu HCE als dem 'Über-Vater' ist seine Frau Anna Livia Plurabelle als große 'Ur-Mutter' und weibliches Prinzip: Bereits ihr Name verweist auf die Liffey – den Fluss, der Dublin teilt und dort in die Irische See mündet. Mit ALP werden daher Veränderungen assoziiert; nicht nur in ihrem berühmten Anna Livia Plurabelle-Kapitel (das achte Kapitel des ersten Teils, FW 196–216) zerfließen Sprache und Inhalt. Sie tritt in Gestalten wie Eva, Isis und Isolde auf und verkörpert (im Gegensatz zu HCE) das 'ewig Weibliche' Naturprinzip | Die Entsprechung zu HCE als dem 'Über-Vater' ist seine Frau Anna Livia Plurabelle als große 'Ur-Mutter' und weibliches Prinzip: Bereits ihr Name verweist auf die Liffey – den Fluss, der Dublin teilt und dort in die Irische See mündet. Mit ALP werden daher Veränderungen assoziiert; nicht nur in ihrem berühmten Anna Livia Plurabelle-Kapitel (das achte Kapitel des ersten Teils, FW 196–216) zerfließen Sprache und Inhalt. Sie tritt in Gestalten wie Eva, Isis und Isolde auf und verkörpert (im Gegensatz zu HCE) das 'ewig Weibliche' Naturprinzip. | ||
Immer wieder finden sich im Verlauf des Textes Anspielungen auf die Universalität der beiden Elternteile (Norris 2006, 151): HCE wird gleich im ersten Absatz mit einem Hügel an der Liffey-Mündung assoziiert ("Howth Castle and Environs"; FW 3.03), mit dem Ausruf "Hush! Caution! Echoland!" (FW 13.05), oder "homerigh, castle and earthenhouse" (FW 21.13). ALP tritt bereits zu Beginn mit Verweis auf den Fluss Liffey in Erscheinung (etwa "loved livvy"; FW 3.24), als Akronym ( | Nach den acht Kapiteln des ersten Teils, die vorwiegend auf HCE und ALP zentriert sind, rücken in den Teilen zwei und drei (mit jeweils vier Kapiteln) dann die Kinder Issy, vor allem jedoch Shem und Shaun in den Fokus, wobei die beiden rivalisierenden Söhne Elemente von Kain und Abel, Napoleon und Wellington, letztlich aber auch von James Joyce und seinem Bruder Stanislaus vereinen (Füger 1994, 266; Senn 1983, 182). Vergleichbar mit dem abschließenden Penelope-Monolog des ''Ulysses'' bekommt ALP im vierten Teil die Stimme, wenn sich die Nacht dem Ende neigt: "Soft morning, city!" (FW 619.20): "Rise up, man of the hooths, you have slept so long!" (FW 619.25) | ||
Immer wieder finden sich im Verlauf des Textes Anspielungen auf die Universalität der beiden Elternteile (Norris 2006, 151): HCE wird gleich im ersten Absatz mit einem Hügel an der Liffey-Mündung assoziiert ("Howth Castle and Environs"; FW 3.03), mit dem Ausruf "Hush! Caution! Echoland!" (FW 13.05), oder "homerigh, castle and earthenhouse" (FW 21.13). ALP tritt bereits zu Beginn mit Verweis auf den Fluss Liffey in Erscheinung (etwa "loved livvy"; FW 3.24), als Akronym (z.B. "alp on earwig"; FW 17.34), als "pleures of bells" (FW 11.25) und bestimmende Hausfrau ("annadominant"; FW 14.17) – aber auch konstruierter, zum Beispiel in Form der Zahl 54, in römischer Schreibweise LIV ("if you can spot fifty I spy four more"; FW 10.31). | |||
Ein weiteres Grundthema des Textes ist der 'Fall', der in verschiedenen Variationen wiederkehrt und durchgespielt wird: Finnegans tödlicher Sturz von der Leiter, ebenso wie Earwickers Verfehlung in Phoenix Park, die – im 'biblischen Traumgarten' stattfindend (Ellmann 2009, 813 f.) – mit dem Sündenfall assoziiert wird, genauso wie auch dem Fall von Rom oder der Niederlage Napoleons (Campbell/Robinson 2005, 5; Tindall 2005, 29 f.). | Ein weiteres Grundthema des Textes ist der 'Fall', der in verschiedenen Variationen wiederkehrt und durchgespielt wird: Finnegans tödlicher Sturz von der Leiter, ebenso wie Earwickers Verfehlung in Phoenix Park, die – im 'biblischen Traumgarten' stattfindend (Ellmann 2009, 813 f.) – mit dem Sündenfall assoziiert wird, genauso wie auch dem Fall von Rom oder der Niederlage Napoleons (Campbell/Robinson 2005, 5; Tindall 2005, 29 f.). | ||
==Museyroom-Episode (FW 8.09–10.23)== | ==Museyroom-Episode (FW 8.09–10.23)== | ||
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Neben der formgebenden Struktur nach Vicos zyklischer Geschichtsphilosophie, den historischen und mythologischen Verweisen sowie Elementen aus rund 60 verschiedenen Sprachen liegen HCEs Traum aber auch andere Einflüsse zugrunde, wie etwa Musik, Werbung, Slogans und Kinderreime: | Neben der formgebenden Struktur nach Vicos zyklischer Geschichtsphilosophie, den historischen und mythologischen Verweisen sowie Elementen aus rund 60 verschiedenen Sprachen liegen HCEs Traum aber auch andere Einflüsse zugrunde, wie etwa Musik, Werbung, Slogans und Kinderreime: | ||
Dominieren in der exemplarischen "Museyroom"-Episode zwar vorwiegend Versatzstücke und Anspielungen aus dem Kriegswesen und Orten berühmter Schlachten, so findet sich mit "Sexcaliber hrosspower" (FW 8.36) aber auch dort beispielsweise ein Verweis auf das sagenhafte Schwert Excalibur aus dem Artus-Stoff. Der (spanisch klingende) Ausruf "Dalaveras fimmieras!" (FW 9.36) wiederum erinnert an die biblische Bitte "deliver us from errors", und "Toffeethief" (FW 10.1) scheint aus dem Kinderreim "Taffy was a Welshman, Taffy was a thief" entsprungen zu sein (McHugh 2006, 10). Neben solchen Collagen oder auch Portmanteau-Wörtern ( | Dominieren in der exemplarischen "Museyroom"-Episode zwar vorwiegend Versatzstücke und Anspielungen aus dem Kriegswesen und Orten berühmter Schlachten, so findet sich mit "Sexcaliber hrosspower" (FW 8.36) aber auch dort beispielsweise ein Verweis auf das sagenhafte Schwert Excalibur aus dem Artus-Stoff. Der (spanisch klingende) Ausruf "Dalaveras fimmieras!" (FW 9.36) wiederum erinnert an die biblische Bitte "deliver us from errors", und "Toffeethief" (FW 10.1) scheint aus dem Kinderreim "Taffy was a Welshman, Taffy was a thief" entsprungen zu sein (McHugh 2006, 10). Neben solchen Collagen oder auch Portmanteau-Wörtern – in der "Museyroom"-Episode etwa Schachtelwörter wie "arminus-varminus" (FW 8.28) oder "boycottoncrezy" (FW 9.08) (Erzgräber 1998, 316; Siedenbiedel 2005, 28) – finden sich ebenso Sprachfetzen und Stimmen aus der Dubliner Umwelt, darunter hunderte von Liedern, teilweise aus regionalen irischen Traditionen (Erzgräber 1998, 313 f.). | ||
==="bi tso fb rok engl a ssan dspl itch ina" (FW 19.07): Zur Mikrostruktur der Sprache in ''Finnegans Wake''=== | ==="bi tso fb rok engl a ssan dspl itch ina" (FW 19.07): Zur Mikrostruktur der Sprache in ''Finnegans Wake''=== | ||
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==="I can psoakoonaloose myself any time I want" (FW 522.34): Joyce und Freud=== | ==="I can psoakoonaloose myself any time I want" (FW 522.34): Joyce und Freud=== | ||
James Joyce war sich als Autor eines so polyglotten Werkes wie ''Finnegans Wake'' natürlich der Verbindung seines Familiennamens zum quasi-Namensvetter aus Wien bewusst (Ellmann 2009, 32, 729, 925). Doch wie viele Schriftsteller:innen und Künstler:innen seiner Zeit gab er stets (damit) an, er hätte sich mit Sigmund Freuds Theorien zu Traum und Psychoanalyse kaum beschäftigt, geschweige denn sich von ihnen grundlegend beeinflussen lassen (ebd., 144, 589, 654 und 1019). So nennt er Freud | James Joyce war sich als Autor eines so polyglotten Werkes wie ''Finnegans Wake'' natürlich der Verbindung seines Familiennamens zum quasi-Namensvetter aus Wien bewusst (Ellmann 2009, 32, 729, 925). Doch wie viele Schriftsteller:innen und Künstler:innen seiner Zeit gab er stets (damit) an, er hätte sich mit Sigmund Freuds Theorien zu Traum und Psychoanalyse kaum beschäftigt, geschweige denn sich von ihnen grundlegend beeinflussen lassen (ebd., 144, 589, 654 und 1019). So nennt er Freud etwa in einem Brief aus dem Jahre 1921 an seine Mäzenin Harriet Weaver (1876–1961) den "Wiener Tweedledee" (ebd., 758) und die Psychoanalyse selbst bezeichnet Joyce an anderer Stelle gar als "Erpressung" (ebd., 777). | ||
Tatsächlich aber wäre ''Finnegans Wake'' ohne Freuds Traumdeutung undenkbar (Bishop 1993, 16), zumal Joyce nachweislich in den frühen 1910er Jahren während seines Aufenthalts in Triest die ''Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci'' (1910) von Freud, ''The Oedipus Complex as an Explanation of Hamlet's Mystery''/''Das Problem des Hamlet und der Oedipuskomplex'' (1910) von Ernest Jones sowie ''Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen'' (1909) von C.G. Jung auf Deutsch in seiner Privatbibliothek besitzt (Ellmann 2009, 512). Zusätzlich waren ihm Freuds Theorien der Wortassoziationen bekannt (ebd., 538), die sicherlich als Vorlage zu ''Finnegans Wake'' wie auch den Bewusstseinsströmen im ''Ulysses'' angenommen werden könnte. | Tatsächlich aber wäre ''Finnegans Wake'' ohne Freuds Traumdeutung undenkbar (Bishop 1993, 16), zumal Joyce nachweislich in den frühen 1910er Jahren während seines Aufenthalts in Triest die ''Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci'' (1910) von Freud, ''The Oedipus Complex as an Explanation of Hamlet's Mystery''/''Das Problem des Hamlet und der Oedipuskomplex'' (1910) von Ernest Jones sowie ''Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen'' (1909) von C.G. Jung auf Deutsch in seiner Privatbibliothek besitzt (Ellmann 2009, 512). Zusätzlich waren ihm Freuds Theorien der Wortassoziationen bekannt (ebd., 538), die sicherlich als Vorlage zu ''Finnegans Wake'' wie auch den Bewusstseinsströmen im ''Ulysses'' angenommen werden könnte. | ||
Als Joyce mit seiner Familie 1915 aus Paris nach Zürich flieht, kommt er in der Schweiz mit dem ehemaligen Freud-Schüler Carl Gustav Jung (1875–1961) in Kontakt, lehnte aber eine angebotene psychoanalytische Behandlung ab (Ellman 2009, 697 f.). Dies hält Jung allerdings nicht davon ab, 1932 einen Artikel über den ''Ulysses'' zu veröffentlichen, den er Joyce gegenüber in einem Brief als "aufregendes psychologisches Rätsel" lobt (ebd., 926). Umgekehrt spielt Joyce in ''Finnegans Wake'' auf den Schweizer Arzt an, der später auch seine Tochter Lucia behandeln wird, in dem er "The law of the jungerl | Als Joyce mit seiner Familie 1915 aus Paris nach Zürich flieht, kommt er in der Schweiz mit dem ehemaligen Freud-Schüler Carl Gustav Jung (1875–1961) in Kontakt, lehnte aber eine angebotene psychoanalytische Behandlung ab (Ellman 2009, 697 f.). Dies hält Jung allerdings nicht davon ab, 1932 einen Artikel über den ''Ulysses'' zu veröffentlichen, den er Joyce gegenüber in einem Brief als "aufregendes psychologisches Rätsel" lobt (ebd., 926). Umgekehrt spielt Joyce in ''Finnegans Wake'' auf den Schweizer Arzt an, der später auch seine Tochter Lucia behandeln wird, in dem er "The law of the jungerl" (FW 268.n3) sowohl als 'Gesetz des Dschungels', aber auch genauso als 'Gesetz von [Freuds] Jünger', oder schlicht 'Jungs Gesetz' interpretierbar offen lässt (Weninger 1984, 130 sowie zum divergenten Verhältnis zu Freud und Jung auch Atherton 2009, 38). | ||
===Die Sprache der Nacht=== | ===Die Sprache der Nacht=== | ||
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: <span>Tristopher and Hilary, were kickaheeling their dummy on the oil cloth flure of his homerigh, castle and earthenhouse. And, be dermot, who come to the keep of his inn only the niece-of-his-in-law, the prankquean. And the prankquean pulled a rosy one and made her wit foreninst the dour. And she lit up and fireland was ablaze (FW 21.12–17),</span> | : <span>Tristopher and Hilary, were kickaheeling their dummy on the oil cloth flure of his homerigh, castle and earthenhouse. And, be dermot, who come to the keep of his inn only the niece-of-his-in-law, the prankquean. And the prankquean pulled a rosy one and made her wit foreninst the dour. And she lit up and fireland was ablaze (FW 21.12–17),</span> | ||
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dann scheint er ( | dann scheint er (unbewusst im Träumen) Schritte auf dem "oil cloth flure" zu hören, die zum Bad hinführen; mit "[she] pulled a rosy one", "made her wit" und "she lit up" werden hier (Slang-)Begriffe gebraucht, die auf den Toilettengang und das anschließende Toilettenspülen verweisen könnten. | ||
Neben diesen von Freud "äußere (objektive) Sinneserregung" (Freud 2009, 48) genannten Einflüssen, wirken aber auch körperliche Reize auf den Traum ein; dazu zählen zum einen 'subjektive Sinneserregungen' wie Halluzinationen, aber auch der 'innere (organische) Leibreiz'. So ist im Schlaf(en) das Empfinden von Schmerzen und physischen Reizen generell sensibler ausgeprägt, und gerade Erkrankungen oder Verletzungen können dabei auf den Traum einwirken, genauso aber zum Beispiel auch eine volle Blase oder eine Erektion. Und tatsächlich finden sich bereits im ersten Teil des ersten Kapitels um die "Museyroom"-Episode herum neben dem Verweis auf eine "erection" (FW 6.09) auch Anspielungen auf Selbstbefriedigung, etwa mit den Formulierungen "Mastabatoom,/ mastabadtomm" (FW 6.10 f.) oder "laying cold hands on him-self" (FW 21.11). Werden solche Reize von "ungewöhnlicher Intensität" laut Freud "zur Traumbildung herangezogen, wenn sie sich zur Vereinigung mit dem Vorstellungsinhalt der psychischen Traumquellen eignen" (Freud 2009, 244), verbindet sich im Traum von Earwicker die Andeutung auf eine Erektion während des Schlafes daher auch erneut mit dem Baumeister Finnegan, der eine Wand 'aufstellt'; der darauf folgende Verweis auf Masturbation geht in ein Wortspiel mit "Mastaba" genannten ägyptischen Gräbern über (McHugh 2006, 6; Tindall 2005, 34), vermengt sich also sprachlich mit HCEs mehrdeutiger Darlegung der Menschheitsgeschichte. | Neben diesen von Freud "äußere (objektive) Sinneserregung" (Freud 2009, 48) genannten Einflüssen, wirken aber auch körperliche Reize auf den Traum ein; dazu zählen zum einen 'subjektive Sinneserregungen' wie Halluzinationen, aber auch der 'innere (organische) Leibreiz'. So ist im Schlaf(en) das Empfinden von Schmerzen und physischen Reizen generell sensibler ausgeprägt, und gerade Erkrankungen oder Verletzungen können dabei auf den Traum einwirken, genauso aber zum Beispiel auch eine volle Blase oder eine Erektion. Und tatsächlich finden sich bereits im ersten Teil des ersten Kapitels um die "Museyroom"-Episode herum neben dem Verweis auf eine "erection" (FW 6.09) auch Anspielungen auf Selbstbefriedigung, etwa mit den Formulierungen "Mastabatoom,/ mastabadtomm" (FW 6.10 f.) oder "laying cold hands on him-self" (FW 21.11). Werden solche Reize von "ungewöhnlicher Intensität" laut Freud "zur Traumbildung herangezogen, wenn sie sich zur Vereinigung mit dem Vorstellungsinhalt der psychischen Traumquellen eignen" (Freud 2009, 244), verbindet sich im Traum von Earwicker die Andeutung auf eine Erektion während des Schlafes daher auch erneut mit dem Baumeister Finnegan, der eine Wand 'aufstellt'; der darauf folgende Verweis auf Masturbation geht in ein Wortspiel mit "Mastaba" genannten ägyptischen Gräbern über (McHugh 2006, 6; Tindall 2005, 34), vermengt sich also sprachlich mit HCEs mehrdeutiger Darlegung der Menschheitsgeschichte. | ||
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==="How charmingly exquisite!" (FW 13.06): Traumsymbole und Selbstreflexivität=== | ==="How charmingly exquisite!" (FW 13.06): Traumsymbole und Selbstreflexivität=== | ||
Über die Assoziationsketten und Wortspiele hinaus ist die "Museyroom"-Episode – angesichts eines 'Kriegsmuseums' vielleicht auch wenig überraschend – | Über die Assoziationsketten und Wortspiele hinaus ist die "Museyroom"-Episode – angesichts eines 'Kriegsmuseums' vielleicht auch wenig überraschend – von phallischen Traumsymbolen durchzogen (Tindall 2005, 37): So liegt dem "Willingdone-Memorial" der über 60 Meter hohe steinerne Obelisk auf einem Sockel zugrunde, der dem Feldherrn Ende der 1830er Jahre nicht nur wegen seiner Erfolge in den Befreiungskriegen und der Schlacht von Waterloo gegen Napoleon gestiftet wurde, sondern auch wegen seiner Zeit als britischer Premierminister (1828–1830), in der er sich um die Katholikenemanzipation (auch in Irland) verdient gemacht hat (Siedenbiedel 2005, 35). | ||
Schon dieses real existierende Bauwerk, "that overgrown leadpencil" (FW 56.12), lässt an einen Phallus denken, was durch die Beschreibung in der "Museyroom"-Episode nochmals unterstrichen wird; das "Willingdone mormorial" (FW 8.35) ist ein "old max montrumeny" (FW 10.3). Damit erinnert die Joyce'sche Traumsymbolik durchaus an die häufig (verkürzt) mit Freuds ''Traumdeutung'' verbundene Sexualmetaphorik, die sich beispielsweise durch "alle in die Länge reichenden Objekte" sowie "alle länglichen und scharfen Waffen" (Freud 2009, 348) respektive (als weiblichen Sexualsymbole) durch verschiedenste "dem Frauenleib" (ebd., 349) entsprechende Gegenstände wie Gefäße, Höhlen oder verschlossene Zimmer ausdrückt. Somit scheinen sich auch die verschiedenen Waffen und Objekte – zum Beispiel "gunn" (FW 8.11), "fork" (FW 8.15), "key" (FW 9.35) und "tailoscrupp" (FW 10.13) – sowie das mehrfach erwähnte Pferd nicht nur in den Militaria-Diskurs dieser Episode einzureihen (Atherton 2009, 155), sondern dürften nach Freud traumsymbolisch für das männliche Geschlecht stehen und damit erneut auf die (möglicherweise sexuelle) Verfehlung von HCE verweisen. | |||
Der "enzyklopädische Wissensvorrat" (Erzgräber 1998, 322) aus Geschichte und Mythologie, Alltags- und Populärkultur (Blumenbach 1996) lassen das Träumen in ''Finnegans Wake'' aber nicht nur als 'individuelles' Erleben erscheinen, sondern legen auch eine gewisse Nähe zum Verständnis eines "kollektiven Unbewussten" im Sinne von Jung nahe (Hart 1962, 80). Schließlich bringt der Traum von HCE allgemein bekannte religiöse, historische und kulturelle Stoffe oder Symbole zu einem universellen, die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen bis etwa zum Ersten Weltkrieg umspannenden Traum zusammen (Bishop 1993, 196). | |||
Und so wie HCE in seinem eigenen Traum in verschiedenen Gestalten – von Finnegan bis Buddha, von Noah bis Guinness – auftritt, ist er "nicht eine Person, sondern viele" (Eco 2010, 392): HCE als Jedermann ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.) kann auf Dutzende von Sprachen ebenso zurückgreifen wie auf philosophische Konzepte und ein gewaltiges Textkorpus aus mehreren Jahrtausenden globalen Schrifttums. Hinzu kommen noch die bereits angesprochenen Sprichwörter, Lieder und Balladen, Songs und Slogans aus der Alltagskultur, sowie Kinderreime und allgemeines Volksgut. So stammen die intertextuellen Bezüge aus religiösen, wissenschaftlichen und literarischen Werken verschiedenster Kulturen und Philologien (Bonheim 1967; Christiani 1965; Hart 1963; O'Hehir 1968; O'Hehir/Dillon 1977). In seinem Standardwerk zu literarischen Anspielungen in ''Finnegans Wake'' konnte James S. Atherton mehrere hundert solcher Verweise zuordnen (Atherton 2009, 233–290). Damit scheint Earwicker tatsächlich als das "kollektive Unbewusste" schlechthin und – auf Vico und Jung zurückgehend – als die Summe vieler Einzelbewusstseine, das Wissen der Menschheit im Traum abzurufen (Bishop 1993, 212 f.; Reichert 1989, 24 f.). Gleichzeitig ist HCEs Traum als niemals endend und, in Anlehnung an Vicos Geschichtsphilosophie, zirkulär aufgebaut: Earwicker wird nie aufwachen. | |||
Die im Traum anklingenden ''nursery rhymes'', einfache Kinderreime also, könnten aber nicht nur aus einem solch umfassenden Wissensschatz stammen, sondern auch aus persönlichen Kindheitserinnerungen von Earwicker (etwa Myers 1992, 24, 29). Genau wie mit Traumeinflüssen aus seinem alltäglichen Umfeld (etwa Dublin sowie seiner Taverne und Familie) und den Tagesresten (besonders der Vorfall in Phoenix Park) werden solche aus der Kindheit in Erinnerung gebliebenen Elemente in den Traum mit eingeflochten – HCE wäre damit also eine Mischung aus einem allwissendem "kollektivem Unbewussten" und einem individuellem Träumer, zumal er seine eigene Person im Traum immer wieder reflektiert. Diese Anspielungen auf die 'eigene Person' drücken sich besonders in Earwickers vollständigen Namen ergebenden Akronymen aus, die in ''Finnegans Wake'' auf drei Arten erscheinen können (Bishop 1993, 139–145; Farbman 2008, 97 f.): | |||
* als vorwärts gelesenes Akronym (HCE), etwa "Homo/ Capite Erectus" (FW 101.12 f.), | * als vorwärts gelesenes Akronym (HCE), etwa "Homo/ Capite Erectus" (FW 101.12 f.), | ||
* als unterbrochenes Akronym, etwa "he is ee and no affair" (FW 29.34), | * als unterbrochenes Akronym, etwa "he is ee and no affair" (FW 29.34), | ||
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jonas Nesselhauf]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Jonas Nesselhauf]]</div> | ||
==Literatur== | ==Literatur== | ||
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===Kommentare und Hilfsmittel=== | ===Kommentare und Hilfsmittel=== | ||
* Bonheim, Helmut: A Lexicon of the German in ''Finnegans Wake''. Berkeley: University of California Press 1967. | * Bonheim, Helmut: A Lexicon of the German in ''Finnegans Wake''. Berkeley: University of California Press 1967. | ||
* Campbell, Joseph/Henry Morton Robinson: A Skeleton Key to ''Finnegans Wake''. Unlocking James Joyce's Masterwork. Novato: New World Library 2005. | |||
* Glasheen, Adaline: A Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1956. | * Glasheen, Adaline: A Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1956. | ||
* Glasheen, Adaline: A Second Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1963. | * Glasheen, Adaline: A Second Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1963. | ||
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===Quellen=== | ===Quellen=== | ||
* Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Frankfurt/M.: Fischer 1999. | * Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt/M.: Fischer 1999. | ||
* Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Fischer 2008. | * Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916]. Frankfurt/M.: Fischer 2008. | ||
* Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Frankfurt/M.: Fischer 2009. | * Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1899]. Frankfurt/M.: Fischer 2009. | ||
===Forschungsliteratur=== | ===Forschungsliteratur=== | ||
* Atherton, James: The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce's ''Finnegans Wake''. Carbondale: Southern Illinois UP 2009. | * Atherton, James: The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce's ''Finnegans Wake''. Carbondale: Southern Illinois UP 2009. | ||
* Beckett, Samuel u.a.: Our Exagmination Round His Factification for Incamination of Work in Progress. Paris: Shakespeare & Company, London: Faber & Faber 1929. | |||
* Begnal, Michael H.: Dreamscheme. Narration and Voice in ''Finnegans Wake''. Syracuse: Syracuse UP 1988. | * Begnal, Michael H.: Dreamscheme. Narration and Voice in ''Finnegans Wake''. Syracuse: Syracuse UP 1988. | ||
* Begnal, Michael H. | * Begnal, Michael H./Grace Eckley: Narrator and Character in ''Finnegans Wake''. Lewisburg: Bucknell UP 1975. | ||
* Benstock, Bernard: Joyce-again's Wake. An Analysis of ''Finnegans Wake''. Seattle: University of Washington Press 1965. | * Benstock, Bernard: Joyce-again's Wake. An Analysis of ''Finnegans Wake''. Seattle: University of Washington Press 1965. | ||
* Birmingham, Kevin: The Most Dangerous Book. The Battle for James Joyce's ''Ulysses''. New York: Penguin 2014. | * Birmingham, Kevin: The Most Dangerous Book. The Battle for James Joyce's ''Ulysses''. New York: Penguin 2014. | ||
Zeile 571: | Zeile 571: | ||
* Broch, Hermann: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag. In: Ders.: Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 66–93. | * Broch, Hermann: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag. In: Ders.: Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 66–93. | ||
* Butler, Christopher: Joyce the Modernist. In: Derek Attridge (Hg.): The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge UP 2006, 67–86. | * Butler, Christopher: Joyce the Modernist. In: Derek Attridge (Hg.): The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge UP 2006, 67–86. | ||
* Christiani, Dounia Bunis: Scandinavian Elements of ''Finnegans Wake''. Evanston: Northwestern UP 1965. | * Christiani, Dounia Bunis: Scandinavian Elements of ''Finnegans Wake''. Evanston: Northwestern UP 1965. | ||
* Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010. | * Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010. |