"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte): Unterschied zwischen den Versionen
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"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte) (Quelltext anzeigen)
Version vom 31. Mai 2023, 15:57 Uhr
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Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist.<ref> Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.</ref> | Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist.<ref> Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.</ref> | ||
Hans-Jürgen Heinrichs Studie (1991) andererseits erweckt aufgrund ihres Titels, der ein direktes Zitat aus Fichtes Roman darstellt ("Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch"), im ersten Moment den Eindruck, dass es sich dabei hauptsächlich um die Lektüre des | Hans-Jürgen Heinrichs Studie (1991) andererseits erweckt aufgrund ihres Titels, der ein direktes Zitat aus Fichtes Roman darstellt ("Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch"), im ersten Moment den Eindruck, dass es sich dabei hauptsächlich um die Lektüre des ''Platz der Gehenkten'' handelt. Allerdings widmet er sich dem Roman tatsächlich nur in einem Kapitel am Ende des Buchs, das größtenteils einen anderen Roman Fichtes, nämlich ''Forschungsbericht'', bespricht (der Vollständigkeit halber soll Heinrichs Buch hier trotzdem erwähnt werden). | ||
Bewusst abseits der Fichte-Forschung, die sich wie oben erwähnt vorrangig mit der Frage der Verortung des Fichte'schen Werks in den Kontext der Disziplinen Postcolonial Studies und Queer Studies und dem autobiographischen Gehalt der Fichte‘schen Texte beschäftigt (ein Themenfeld, das sich in zeitgenössischen ethnologischen und kulturanthropologischen Debatten unter dem Stichwort life writing wiederfinden lässt), findet sich Manfred Weinbergs Dissertation (1993), der den Synkretismus des Gesamtwerks Fichtes als den Versuch versteht eine Sprachkonzeption | Bewusst abseits der Fichte-Forschung, die sich wie oben erwähnt vorrangig mit der Frage der Verortung des Fichte'schen Werks in den Kontext der Disziplinen Postcolonial Studies und Queer Studies und dem autobiographischen Gehalt der Fichte‘schen Texte beschäftigt (ein Themenfeld, das sich in zeitgenössischen ethnologischen und kulturanthropologischen Debatten unter dem Stichwort life writing wiederfinden lässt), findet sich Manfred Weinbergs Dissertation (1993), der den Synkretismus des Gesamtwerks Fichtes als den Versuch versteht eine Sprachkonzeption | ||
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(1) Dabei beschreiben markierte Traumdarstellungen den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens durch die textlich klar kommunizierte Abgrenzbarkeit verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens. | (1) Dabei beschreiben markierte Traumdarstellungen den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens durch die textlich klar kommunizierte Abgrenzbarkeit verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens. | ||
(2) Als unsichere Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben bezeichnet Kreuzer Traumdarstellungen, bei denen sich keine eindeutigen Grenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit ziehen lassen und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen nicht möglich ist. Um Darstellungen als onirische Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer weitere Aspekte des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können. | (2) Als unsichere Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben bezeichnet Kreuzer Traumdarstellungen, bei denen sich keine eindeutigen Grenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit ziehen lassen und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen nicht möglich ist. Um Darstellungen als onirische Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer weitere Aspekte des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können. | ||
(3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen charakterisiert. Solche Arten der Traumdarstellungen als genuin onirisch zu klassifizieren und von "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen [...] uneigentlich-parabolischen" | (3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen charakterisiert. Solche Arten der Traumdarstellungen als genuin onirisch zu klassifizieren und von "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen [...] uneigentlich-parabolischen" (Kreuzer 2014, 91) Interpretationen zu unterscheiden, bedarf es weiterer Merkmale, um die Lesart zu plausibilisieren. | ||
Jede Intensität traumhaften Erzählens, lässt sich zudem binnendifferenzieren. Da für die weitere Analyse nur markierte Traumdarstellungen betrachtet werden, wird diese Ausdifferenzierung weiter unten vorgenommen. | Jede Intensität traumhaften Erzählens, lässt sich zudem binnendifferenzieren. Da für die weitere Analyse nur markierte Traumdarstellungen betrachtet werden, wird diese Ausdifferenzierung weiter unten vorgenommen. | ||
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Der Roman ‚‘‘Der Platz der Gehenkten‘‘ beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen. | Der Roman ‚‘‘Der Platz der Gehenkten‘‘ beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen. | ||
Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans | Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans ''Der Platz der Gehenkten'' sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (Fichte 1989b, 9). führt jedoch eine Inkongruenz in das Geschehen ein. Weinberg macht diese Inkongruenz daran fest, dass einerseits die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt werden und andererseits, dass die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses bringt, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126). | ||
Die Traumdarstellung stoße Weinberg zufolge daher einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden über die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lasse. So lese man in einem ersten Schritt Sätze über Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon überzeugt, dass die Sätze über Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern zum Traumgeschehen gehören. Als reflexiven dritten Schritt kehre man nun aber zur Anfangsthese, dass es sich bei den Sätzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, zurück, denke aber nun grundlegend über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit nach. | Die Traumdarstellung stoße Weinberg zufolge daher einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden über die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lasse. So lese man in einem ersten Schritt Sätze über Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon überzeugt, dass die Sätze über Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern zum Traumgeschehen gehören. Als reflexiven dritten Schritt kehre man nun aber zur Anfangsthese, dass es sich bei den Sätzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, zurück, denke aber nun grundlegend über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit nach. | ||
Ist man jedoch nicht davon überzeugt, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig für die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens steht, so lässt sich dennoch einige Zeilen später mit dem Satz "Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte." (Fichte 1989b, 9) die vorangegangenen Ereignisse als überraschende Traumauflösungen im Sinne Stephanie Kreuzers verstehen (vgl. Kreuzer 2014, 225). Für Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen – um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt – in Erzählungen in zwei Kategorien unterteilen: (1) Erzählungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung für diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und Wissen über diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. Für Kreuzer sind Texte, die diese Traumdarstellungen enthalten "rezeptionsästhetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer überraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in | Ist man jedoch nicht davon überzeugt, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig für die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens steht, so lässt sich dennoch einige Zeilen später mit dem Satz "Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte." (Fichte 1989b, 9) die vorangegangenen Ereignisse als überraschende Traumauflösungen im Sinne Stephanie Kreuzers verstehen (vgl. Kreuzer 2014, 225). Für Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen – um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt – in Erzählungen in zwei Kategorien unterteilen: (1) Erzählungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung für diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und Wissen über diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. Für Kreuzer sind Texte, die diese Traumdarstellungen enthalten "rezeptionsästhetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer überraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in ''Der Platz der Gehenkten'', die sich erst als tatsächliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als solche überraschende Traum(auf)lösung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet. | ||
Für Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rückt, trifft der Romananfang vielmehr eine poetologische Aussage über Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist für Teichert dabei nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern welche Wirkung die verschachtelte Traumdarstellung hat: "Völlige Identitätsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Auch ob es sich bei der Traumdarstellung um eine geträumte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt für ihn jedoch, dass die Identität des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "[s]chon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird. Es soll hier contra Teichert jedoch dafür argumentiert werden, dass die Identität der narrativen Instanz nicht infrage gestellt wird, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einführt und die Relation verschiedener Träume aufeinander thematisiert. Weitaus näher an dieser Überlegung der Selbstreflexivität des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt | Für Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rückt, trifft der Romananfang vielmehr eine poetologische Aussage über Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist für Teichert dabei nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern welche Wirkung die verschachtelte Traumdarstellung hat: "Völlige Identitätsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Auch ob es sich bei der Traumdarstellung um eine geträumte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt für ihn jedoch, dass die Identität des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "[s]chon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird. Es soll hier contra Teichert jedoch dafür argumentiert werden, dass die Identität der narrativen Instanz nicht infrage gestellt wird, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einführt und die Relation verschiedener Träume aufeinander thematisiert. Weitaus näher an dieser Überlegung der Selbstreflexivität des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt | ||
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Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Schreibsituation in | Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Schreibsituation in ''Der Platz der Gehenkten'' keine der absoluten Identitätsverwirrung ist, sondern die komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ängste der narrativen Instanz. Dazu weiter unten mehr. | ||
==== Flughafentraum vom vertauschten Pass ==== | ==== Flughafentraum vom vertauschten Pass ==== | ||
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Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "[v]öllige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306). | Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "[v]öllige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306). | ||
Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text | Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text ''Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge'', das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel ''Prelude'' bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102). | ||
Thematisieren die im | Thematisieren die im ''Platz der Gehenkten'' vorhandenen Traumdarstellungen zwar durchaus ebendiese Trennung in erinnerndes und erinnertes Ich, so ist die von Teichert behauptete Identitätsverwirrung zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, da selbst das träumende Ich weiß, dass es Uwes Pass und damit nicht den eigenen besitzt. | ||
Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht: | Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht: | ||
Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verändernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekämpfen, dass er die konservativen Kräfte im Land stärkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus<ref>Die Anhänger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus häufig synonym verwendet werden</ref> – eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums – wieder in Marokko Fuß fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und Universitäten etablierte. | Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verändernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekämpfen, dass er die konservativen Kräfte im Land stärkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus<ref>Die Anhänger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus häufig synonym verwendet werden</ref> – eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums – wieder in Marokko Fuß fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und Universitäten etablierte. | ||
Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen Ausländern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgeführt wird. Der Koran, gegen den | Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen Ausländern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgeführt wird. Der Koran, gegen den ''Der Platz der Gehenkten'', wie bereits erwähnt, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anschreibt wird im Roman zum Symbol für den Rückfall des Landes in konservativ-traditionalistische Denkmuster. | ||
Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle: | Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle: | ||
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: (Fichte 1989b, 66) | : (Fichte 1989b, 66) | ||
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Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: | Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: ''Detlevs Imitationen »Grünspan«''. Auf diesen Umstand weist auch Manfred Weinberg hin, wenn er sagt, dass der Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden." sich nicht auf ''Der Platz der Gehenkten'' sondern auf ''Detlevs Imitationen »Grünspan«'' bezieht [vgl. Weinberg 1993, 127]. Zum Vergleich sei daher die entsprechende Textstelle aus dem ''»Grünspan«'' zitiert: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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: – von mir oder von Uwe oder Otto? (Fichte 1982, 239-240) | : – von mir oder von Uwe oder Otto? (Fichte 1982, 239-240) | ||
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Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verständlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der | Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verständlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der ''Palette'' und dem Roman ''Alte Welt'') auf und verbindet diese so miteinander. Die Traumdarstellung ist damit nicht nur eine Verarbeitung von Tagesresten und eine Thematisierung soziopolitischer Veränderungen, sondern kann ebenso als Verarbeitung und erneute Thematisierung von Textresten verstanden werden. | ||
So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstürzt. Jäcki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fürchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine Träume findet: | So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstürzt. Jäcki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fürchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine Träume findet: | ||
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Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige Sätze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaßen zu rekonstruieren: der Ich-Erzähler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen – ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird – das as-salāt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird. | Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige Sätze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaßen zu rekonstruieren: der Ich-Erzähler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen – ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird – das as-salāt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird. | ||
Will | Will ''Der Platz der Gehenkten'' auf der formalen Ebene "das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13), so kann auch der sich wiederholende fünfzeilige Text als eine Art Gegen-Ritual zum ritualhaft wiederholten morgendlichen Gebet verstanden werden. Dem Gesang der Muezzine als an den Koran geknüpftes Gebetsritual wird eine säkularisierte Form des Rituals als Teil eines gesamten gegen die wahhabitische Auslegung des Koran gerichteten Textes gegenübergestellt, der sich dabei jedoch derselben Strukturen religiöser Texte bedienen muss. Wenn also "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) ist, dann bedient sich Fichtes Text ebendieses poetischen Prinzips. | ||
==== Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum? ==== | ==== Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum? ==== | ||
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== Fazit== | == Fazit== | ||
Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollständige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darüber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene Intertextualität. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen Fäden- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte | Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollständige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darüber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene Intertextualität. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen Fäden- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte ''Geschichte der Empfindlichkeit'' durchwächst, nicht nur ganz allgemein, sondern ebenfalls im Hinblick auf die verwendeten onirischen Ausdrucksmittel zu folgen, dazu soll dieser Artikel einen ersten Anstoß liefern. | ||
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Alexander Kerber]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Alexander Kerber]]</div> |