"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte): Unterschied zwischen den Versionen
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"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte) (Quelltext anzeigen)
Version vom 3. Juni 2023, 05:27 Uhr
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Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman ''Die Palette''. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich. | Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman ''Die Palette''. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich. | ||
Hubert Fichte | Hubert Fichte stirbt am 8. März 1986 im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg an den Folgen einer AIDS-Erkrankung. | ||
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.<ref>Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992). </ref> | Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.<ref>Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992). </ref> | ||
Für Teichert kann ''Der Platz der Gehenkten'' als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt | Für Teichert kann ''Der Platz der Gehenkten'' als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt er in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt es aber nicht weiter aus. Der ''Der Platz der Gehenkten'' weist zwar eine ganz eindeutige Form auf, orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht. | ||
Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren [###] zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (PG 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird in der oben zitierten Passage von der narrativen Instanz dabei zum Anlass genommen, nicht nur über dessen Verhältnis zur Bibel nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, entwickelt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans, der aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (PG 13). Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. ES wird sich zeigen, dass dieses poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers sowohl im Roman als auch in einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht. | |||
== Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' == | == Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' == | ||
=== Intensitäten des Traumhaften: Markierte Träume === | === Intensitäten des Traumhaften: Markierte Träume === | ||
Um die Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' klassifizieren zu können, wird auf Stefanie | Um die Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' klassifizieren zu können, wird auf eine von Stefanie Kreuzer entwickelte Traumtypologie zurückgegriffen, welche Traumdarstellungen nach ihrer Markiertheit sortiert. Kreuzer arbeitet drei verschiedene Darstellungsarten heraus, die sie wertfrei als Intensivierungen des traumhaften Erzählens und damit als "Wegfall jeglicher Markierung des Traumzustandes" (Kreuzer 2014, 90) versteht. | ||
Kreuzer arbeitet | (1) Markierte Traumdarstellungen bilden den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens, da hier die Abgrenzung verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt textlich klar kommuniziert wird. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens. | ||
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(2) | (2) Durch "unsichere Grenzen" sind Traumdarstellungen charakterisiert, bei denen sich keine eindeutige UnterschiedungGrenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit treffen lässt und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen unmöglich ist. Um Texte als Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer Merkmale des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können. | ||
(3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen bezeichnet. Um solche Arten der Traumdarstellungen von einer "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen Darstellungsweise und einer uneigentlich-parabolischen" Lesart (Kreuzer 2014, 91), bedarf es weiterer Merkmale des Onirischen. | |||
=== Markierte Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' === | === Markierte Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' === | ||
Fichtes Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markiert klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, lässt sich die Traumdarstellung in drei thematische Teile gliedern, für die sich unterschiedliche Aspekte des im Traum Verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext zu früheren Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichte'schen Poetologie in den Fokus rückt. | |||
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt. | Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt. | ||
Eine dritte Traumdarstellung thematisiert den Traum in seinem selbstreflexiven Gehalt und wie dieser im Verhältnis zu Wirklichkeit, Zeitlichkeit und dem Schreibprozess an sich steht. | Eine dritte Traumdarstellung thematisiert den Traum in seinem selbstreflexiven Gehalt und wie dieser im Verhältnis zu Wirklichkeit, Zeitlichkeit und dem Schreibprozess an sich steht. | ||
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Zitiervorschlag für diesen Artikel: | Zitiervorschlag für diesen Artikel: | ||
Kerber, Alexander: "Der Platz | Kerber, Alexander: "Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Der_Platz_der_Gehenkten%22_(Hubert_Fichte). | ||
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