"Körper und Seele" (Ildikó Enyedi): Unterschied zwischen den Versionen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 73: Zeile 73:
Um diese Montagen übersichtlich darzustellen, wurden die Traumsequenzen nummeriert und zu dramaturgischen Gruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Beschreibung und Analyse der Traumsequenzen ist berücksichtigt, wie diese in Szenen der Wachwelt eingebettet sind.  
Um diese Montagen übersichtlich darzustellen, wurden die Traumsequenzen nummeriert und zu dramaturgischen Gruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Beschreibung und Analyse der Traumsequenzen ist berücksichtigt, wie diese in Szenen der Wachwelt eingebettet sind.  
   
   
===Beschreibung der Traumsequenz I: Eröffnung (KS #:#:#-#:#:#)===
===Beschreibung der Traumsequenz I: Eröffnung (KS 00:00:26-00:02:23)===
[[Datei:Koerper und Seele_sc.jpg|thumb|right|Abb.1: ''Körper und Seele'', Screenshot]]
[[Datei:Koerper und Seele_sc.jpg|thumb|right|Abb.1: ''Körper und Seele'', Screenshot]]
Der Film beginnt mit einem Schwarzfilm; Musik setzt ein, die aber bald endet, als aufgeblendet wird und ein winterlicher Laubwald zu sehen ist. Das bläuliche Licht, in das er getaucht ist, greift das Motiv einer klaren Kälte auf, zugleich kann es die Zeit der Dämmerung anzeigen - jene Zeit, die wegen ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit auch 'blaue Stunde' genannt wird. Schnee fällt, und unter den hohen, kahlen Bäumen gehen zwei Tiere. Ein Hirsch schreitet voraus, eine Hirschkuh folgt. Nachdem sie stehen geblieben ist, geht er noch ein Stück weiter, wendet sich aber bald nach ihr um und kommt zurück. Während sie reglos mit abgewandtem Kopf verharrt, nähert er sich ihr und legt schließlich seinen Kopf auf ihren Rücken (Abb. 1). Sie verweilen kurz und gehen anschließend nach rechts aus dem Bild.
Der Film beginnt mit einem Schwarzfilm; Musik setzt ein, die aber bald endet, als aufgeblendet wird und ein winterlicher Laubwald zu sehen ist. Das bläuliche Licht, in das er getaucht ist, greift das Motiv einer klaren Kälte auf, zugleich kann es die Zeit der Dämmerung anzeigen - jene Zeit, die wegen ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit auch 'blaue Stunde' genannt wird. Schnee fällt, und unter den hohen, kahlen Bäumen gehen zwei Tiere. Ein Hirsch schreitet voraus, eine Hirschkuh folgt. Nachdem sie stehen geblieben ist, geht er noch ein Stück weiter, wendet sich aber bald nach ihr um und kommt zurück. Während sie reglos mit abgewandtem Kopf verharrt, nähert er sich ihr und legt schließlich seinen Kopf auf ihren Rücken (Abb. 1). Sie verweilen kurz und gehen anschließend nach rechts aus dem Bild.
Zeile 82: Zeile 82:
Die Eröffnungsszene ist nicht als Traum markiert. Weder formal noch inhaltlich gibt es Hinweise, dass die Szene im Wald ein Traumerlebnis darstellt. Traum- und folgende Realwelt werden in der Art der Darstellung gleich behandelt; beide sind in Bildern und Geräuschen auf eine feine Beobachtung und einen langsamen Rhythmus hin ausgerichtet. Auffällig aber ist der Kontrast zwischen der Welt im Wald, die sich deutlich später als die eines Schlaftraums herausstellt, und der Welt im Schlachthof. Während die Welt des Waldes kalt, menschenlos und von zwei freien, ungefährdeten Tieren bewohnt ist, liegt die menschenbelebte Realwelt in einer sommerlichen Stadt und ist mit einem Schlachthof verbunden, in dem domestizierte Tiere getötet und verarbeitet werden. Nach der eröffnenden Sequenz wird der eklatante Spalt zwischen Traum- und Realwelt für einen Übergang genutzt, der in eine Art von Tagtraum führt. Die todgeweihte Kuh wendet sich der Sonne zu, ist ebenso von ihr angezogen wie die Menschen, bevor mit einem Signal die Pause in ihrer aller Leben beendet wird. Die Glocke ist Signal- und Weckton; nach dem Erwachen aus der genussvollen Versonnenheit werden die Tagesgeschäfte aufgenommen. Anders als beim Schlaftraum bleibt der konkrete Inhalt der möglichen Tagträume ungeklärt, jedoch sind deren Umrisse kontextuell zu bestimmen. In ihrer gleichartigen Reaktion auf die Sonne als einer natürlichen licht- und wärmespendenden Kraft, werden Menschen und Kuh zu sich ähnelnden Lebewesen, während mit dem Signal- und Weckton ein existentiell bedeutsamer Antagonismus in Gang kommt, durch den sie geschieden werden. Darum und aus der unmittelbaren Verbindung zur vorausgegangenen Szene im Wald, erscheint die Waldszene als Wunschtraum eines freien, ungefährdeten Lebens.
Die Eröffnungsszene ist nicht als Traum markiert. Weder formal noch inhaltlich gibt es Hinweise, dass die Szene im Wald ein Traumerlebnis darstellt. Traum- und folgende Realwelt werden in der Art der Darstellung gleich behandelt; beide sind in Bildern und Geräuschen auf eine feine Beobachtung und einen langsamen Rhythmus hin ausgerichtet. Auffällig aber ist der Kontrast zwischen der Welt im Wald, die sich deutlich später als die eines Schlaftraums herausstellt, und der Welt im Schlachthof. Während die Welt des Waldes kalt, menschenlos und von zwei freien, ungefährdeten Tieren bewohnt ist, liegt die menschenbelebte Realwelt in einer sommerlichen Stadt und ist mit einem Schlachthof verbunden, in dem domestizierte Tiere getötet und verarbeitet werden. Nach der eröffnenden Sequenz wird der eklatante Spalt zwischen Traum- und Realwelt für einen Übergang genutzt, der in eine Art von Tagtraum führt. Die todgeweihte Kuh wendet sich der Sonne zu, ist ebenso von ihr angezogen wie die Menschen, bevor mit einem Signal die Pause in ihrer aller Leben beendet wird. Die Glocke ist Signal- und Weckton; nach dem Erwachen aus der genussvollen Versonnenheit werden die Tagesgeschäfte aufgenommen. Anders als beim Schlaftraum bleibt der konkrete Inhalt der möglichen Tagträume ungeklärt, jedoch sind deren Umrisse kontextuell zu bestimmen. In ihrer gleichartigen Reaktion auf die Sonne als einer natürlichen licht- und wärmespendenden Kraft, werden Menschen und Kuh zu sich ähnelnden Lebewesen, während mit dem Signal- und Weckton ein existentiell bedeutsamer Antagonismus in Gang kommt, durch den sie geschieden werden. Darum und aus der unmittelbaren Verbindung zur vorausgegangenen Szene im Wald, erscheint die Waldszene als Wunschtraum eines freien, ungefährdeten Lebens.


===Beschreibung der Traumsequenzen II (KS #:#:#-#:#:#), III (KS #:#:#-#:#:#) und IV (KS #:#:#-#:#:#): Zweisamkeit als individuelle Imagination===
===Beschreibung der Traumsequenzen II (KS 00:11:07-00:11:58), III (KS 00:21:59-00:22:23) und IV (KS 00:26:41-00:27:38): Zweisamkeit als individuelle Imagination===
Bevor nach dem Tagtraum der zweite Schlaftraum beginnt, sieht Endre Maria zum ersten Mal in der Realwelt und wird sogleich auf sie aufmerksam. Maria erlebt ihren ersten Arbeitstag im Schlachthof. Endre versucht Kontakt aufzunehmen, um ihr die Ankunft zu erleichtern. Zuhause spielt Maria die erste Begegnung nach, wobei sich erkennen lässt, wie schwer es ihr fällt, mit Endre zu sprechen, obwohl sie es gern möchte. Maria und Endre sind abends in ihren jeweiligen Wohnungen zu sehen. Bei beiden läuft im Fernseher ein alter schwarz-weißer Film. Während Maria zuschaut, ist Endre eingeschlafen. Von ihm wird in den bekannten winterlichen Wald geschnitten. Dort ist die unbestimmte, leise rauschende Tonkulisse genau wie in der ersten Traumsequenz zu hören, der Baumbestand aber ist optisch weniger durchlässig. Ein Hirsch steht auf einer Lichtung und blickt zu einer dunkelgrünen Wand aus Nadelbäumen, wo sich nach einer Weile die Hirschkuh zeigt. Sie zögert, läuft dann, ein wenig vom Hirsch entfernt, über die Lichtung, um am Rand des nächsten Dickichts stehen zu bleiben und sich zu dem männlichen Tier umzudrehen.
Bevor nach dem Tagtraum der zweite Schlaftraum beginnt, sieht Endre Maria zum ersten Mal in der Realwelt und wird sogleich auf sie aufmerksam. Maria erlebt ihren ersten Arbeitstag im Schlachthof. Endre versucht Kontakt aufzunehmen, um ihr die Ankunft zu erleichtern. Zuhause spielt Maria die erste Begegnung nach, wobei sich erkennen lässt, wie schwer es ihr fällt, mit Endre zu sprechen, obwohl sie es gern möchte. Maria und Endre sind abends in ihren jeweiligen Wohnungen zu sehen. Bei beiden läuft im Fernseher ein alter schwarz-weißer Film. Während Maria zuschaut, ist Endre eingeschlafen. Von ihm wird in den bekannten winterlichen Wald geschnitten. Dort ist die unbestimmte, leise rauschende Tonkulisse genau wie in der ersten Traumsequenz zu hören, der Baumbestand aber ist optisch weniger durchlässig. Ein Hirsch steht auf einer Lichtung und blickt zu einer dunkelgrünen Wand aus Nadelbäumen, wo sich nach einer Weile die Hirschkuh zeigt. Sie zögert, läuft dann, ein wenig vom Hirsch entfernt, über die Lichtung, um am Rand des nächsten Dickichts stehen zu bleiben und sich zu dem männlichen Tier umzudrehen.


Zeile 94: Zeile 94:
Abseits dieser Lesbarkeit wird nun im Film selbst begonnen, den Traum zu analysieren. Eine polizeiliche und eine psychologische Untersuchung wird angesetzt, nachdem aus dem Schlachthof sogenanntes Bullenpulver entwendet und dazu eingesetzt wurde, eine Gruppe von Menschen öffentlich sexuell zu enthemmen. Die hinzugezogene Psychologin untersucht die im Schlachthof Arbeitenden also unter dem Aspekt einer sexuell konnotierten Aktion. Neben Auskünften zum Intimleben wünscht sie, ebenfalls über Träume informiert zu werden.
Abseits dieser Lesbarkeit wird nun im Film selbst begonnen, den Traum zu analysieren. Eine polizeiliche und eine psychologische Untersuchung wird angesetzt, nachdem aus dem Schlachthof sogenanntes Bullenpulver entwendet und dazu eingesetzt wurde, eine Gruppe von Menschen öffentlich sexuell zu enthemmen. Die hinzugezogene Psychologin untersucht die im Schlachthof Arbeitenden also unter dem Aspekt einer sexuell konnotierten Aktion. Neben Auskünften zum Intimleben wünscht sie, ebenfalls über Träume informiert zu werden.


Vor ihrer anstehenden Befragung diskutieren einige Angestellte des Schlachthofs ihre Träume (KS #:#:#-#:#:#). Dabei gestehen sie sich die Intimität dieser Frage sowie ihre dadurch hervorgerufene Verletzlichkeit ein. Während ein junger Mann einräumt, von einem blauen Pferd geträumt zu haben, auf dem er ritt, sagt eine ältere, kaum attraktiv scheinende Putzfrau, sie „ficke“ in ihren Träumen. In beiden Fällen zeigen die Träume eine unerwartete Komplettierung der äußerlich wahrgenommenen Persönlichkeit.
Vor ihrer anstehenden Befragung diskutieren einige Angestellte des Schlachthofs ihre Träume (KS 00:34:31-00:35:49). Dabei gestehen sie sich die Intimität dieser Frage sowie ihre dadurch hervorgerufene Verletzlichkeit ein. Während ein junger Mann einräumt, von einem blauen Pferd geträumt zu haben, auf dem er ritt, sagt eine ältere, kaum attraktiv scheinende Putzfrau, sie „ficke“ in ihren Träumen. In beiden Fällen zeigen die Träume eine unerwartete Komplettierung der äußerlich wahrgenommenen Persönlichkeit.


Als die Psychologin Maria und Endre befragt (KS #:#:#-#:#:# und #:#:#-#:#:#), erzählen beide in ihren getrennten Sitzungen von einem identischen Traum. Endre tut das aus der Perspektive eines Hirsches, der er gewesen sei, Maria aus der Sicht einer Hirschkuh. Es ist das erste Mal, dass das Traumerlebnis in beschreibende Sprache übersetzt wird. Die Psychologin zielt mit ihren Fragen auf den verwandelnden, metaphorischen Charakter von Träumen für gewünschte, verborgene, unbewusste oder bewusst uneingestandene Gefühle. Außerdem folgt sie dem Auftrag, den sexuell konnotierten Diebstahl des Bullenpulvers aufzuklären. Beides kann erklären, warum sie Endre fragt, ob sich die Tiere in seinem Traum gepaart hätten. Endre verneint und betont, dass sich nur ihre Nasen berührt hätten. Auch aus Marias Schilderung ihres Traums lässt sich vor allem der vertraute und fürsorgliche Umgang zwischen den Tieren ablesen. So bezeichnet sie den Hirsch als Gefährten und berichtet, wie er ihr ein dickes, haariges, fleischiges Blatt überlassen habe, das sich als wohlschmeckend erwies.<ref>Die deutschen Untertitel zum ungarischen Original lauten etwas anders: Das Blatt sei saftig gewesen, auch ekelerregend, und ihr war danach merkwürdig zumute, heißt es hier. Auf Ungarisch sagt Maria, das Blatt sei „húsos“ gewesen, was „fleischig“ bedeutet.</ref>
Als die Psychologin Maria und Endre befragt (KS 00:30:33-00:34:30), erzählen beide in ihren getrennten Sitzungen von einem identischen Traum. Endre tut das aus der Perspektive eines Hirsches, der er gewesen sei, Maria aus der Sicht einer Hirschkuh. Es ist das erste Mal, dass das Traumerlebnis in beschreibende Sprache übersetzt wird. Die Psychologin zielt mit ihren Fragen auf den verwandelnden, metaphorischen Charakter von Träumen für gewünschte, verborgene, unbewusste oder bewusst uneingestandene Gefühle. Außerdem folgt sie dem Auftrag, den sexuell konnotierten Diebstahl des Bullenpulvers aufzuklären. Beides kann erklären, warum sie Endre fragt, ob sich die Tiere in seinem Traum gepaart hätten. Endre verneint und betont, dass sich nur ihre Nasen berührt hätten. Auch aus Marias Schilderung ihres Traums lässt sich vor allem der vertraute und fürsorgliche Umgang zwischen den Tieren ablesen. So bezeichnet sie den Hirsch als Gefährten und berichtet, wie er ihr ein dickes, haariges, fleischiges Blatt überlassen habe, das sich als wohlschmeckend erwies.<ref>Die deutschen Untertitel zum ungarischen Original lauten etwas anders: Das Blatt sei saftig gewesen, auch ekelerregend, und ihr war danach merkwürdig zumute, heißt es hier. Auf Ungarisch sagt Maria, das Blatt sei „húsos“ gewesen, was „fleischig“ bedeutet.</ref>


Obwohl im Film nicht kommentiert, sind das Blatt und dessen Eigenschaften bemerkenswert. Das Thema der Nahrung ist im ganzen Film durch das Setting in einem Schlachthof präsent. Zudem finden die erste und viele der weiteren Begegnungen zwischen Maria und Endre in der Kantine ihres Arbeitsortes statt. Gleich zu Beginn spricht Endre davon, was dort gut zubereitet würde und nennt dabei ausschließlich vegetarische Speisen. Das steht zum einen in Kontrast zum Produkt des Arbeitsplatzes, zum anderen harmoniert es mit der vegetarischen Kost eines Hirsches. Das, was Maria nun, in ihrer Gestalt als Hirschkuh, vom Hirsch zum Fressen überlassen wurde, hat allerdings sowohl pflanzliche wie tierliche Anteile. Es ist ein Blatt, doch auch haarig und fleischig. Dass es außerdem dick ist, lässt sich beiden Kategorien zuordnen. Insofern kann das Blatt auf eine Verbindung zwischen der Traum- und der Wachwelt hinweisen, da es angesiedelt ist zwischen der vegetarischen Lebensweise der Wildtiere und der fleischproduzierenden Umgebung, in der Maria und Endre arbeiten. Doch ebenso lassen sich – weil die Erzählung der Träume in die Suche nach einem sexuellen Kontext eingebettet ist – die außergewöhnlichen Eigenschaften des Blattes mit dem menschlichen, besonders dem weiblichen Geschlecht assoziieren. Will man auf diesem Weg weiterdenken, ließe sich das Fressen des Blattes nicht als Form der (Selbst-)Verstümmelung betrachten, sondern als Bereitschaft, bisher unbekannte Dinge zu kosten. Eine solche sexualisierte Deutung ist zumindest rein sprachlich assoziativ möglich.
Obwohl im Film nicht kommentiert, sind das Blatt und dessen Eigenschaften bemerkenswert. Das Thema der Nahrung ist im ganzen Film durch das Setting in einem Schlachthof präsent. Zudem finden die erste und viele der weiteren Begegnungen zwischen Maria und Endre in der Kantine ihres Arbeitsortes statt. Gleich zu Beginn spricht Endre davon, was dort gut zubereitet würde und nennt dabei ausschließlich vegetarische Speisen. Das steht zum einen in Kontrast zum Produkt des Arbeitsplatzes, zum anderen harmoniert es mit der vegetarischen Kost eines Hirsches. Das, was Maria nun, in ihrer Gestalt als Hirschkuh, vom Hirsch zum Fressen überlassen wurde, hat allerdings sowohl pflanzliche wie tierliche Anteile. Es ist ein Blatt, doch auch haarig und fleischig. Dass es außerdem dick ist, lässt sich beiden Kategorien zuordnen. Insofern kann das Blatt auf eine Verbindung zwischen der Traum- und der Wachwelt hinweisen, da es angesiedelt ist zwischen der vegetarischen Lebensweise der Wildtiere und der fleischproduzierenden Umgebung, in der Maria und Endre arbeiten. Doch ebenso lassen sich – weil die Erzählung der Träume in die Suche nach einem sexuellen Kontext eingebettet ist – die außergewöhnlichen Eigenschaften des Blattes mit dem menschlichen, besonders dem weiblichen Geschlecht assoziieren. Will man auf diesem Weg weiterdenken, ließe sich das Fressen des Blattes nicht als Form der (Selbst-)Verstümmelung betrachten, sondern als Bereitschaft, bisher unbekannte Dinge zu kosten. Eine solche sexualisierte Deutung ist zumindest rein sprachlich assoziativ möglich.


Der Traum und der zur offiziellen Traumdeutung veranlassende Vorfall mit dem Bullenpulver verlaufen – was ihre sexuellen Inhalte betrifft – in vollkommen entgegengesetzte Richtungen. Werden die vom Bullenpulver überwältigten Menschen gleichsam zu Tieren, die alle kulturellen Schranken ablegen und plötzlich zu öffentlichen sexuellen Handlungen übergehen, so begegnen sich die Tiere des Traums rein freundschaftlich, obwohl das Thema einer möglichen sexuellen Anziehungskraft naheliegt. Unterstrichen wird Letzteres auch durch eine Geste Endres, die er sowohl in seiner Gestalt als Hirsch wie als Mensch ausführt. Bereits in der ersten Traumsequenz fährt sich der Hirsch, als er sich zur Hirschkuh gesellt, mit der Zunge übers Maul. Ein ähnliches Schlecken ist zu sehen, als Endre der Psychologin gegenübersitzt und ihre Brüste unter der dünnen Bluse mustert (KS #:#:#).
Der Traum und der zur offiziellen Traumdeutung veranlassende Vorfall mit dem Bullenpulver verlaufen – was ihre sexuellen Inhalte betrifft – in vollkommen entgegengesetzte Richtungen. Werden die vom Bullenpulver überwältigten Menschen gleichsam zu Tieren, die alle kulturellen Schranken ablegen und plötzlich zu öffentlichen sexuellen Handlungen übergehen, so begegnen sich die Tiere des Traums rein freundschaftlich, obwohl das Thema einer möglichen sexuellen Anziehungskraft naheliegt. Unterstrichen wird Letzteres auch durch eine Geste Endres, die er sowohl in seiner Gestalt als Hirsch wie als Mensch ausführt. Bereits in der ersten Traumsequenz fährt sich der Hirsch, als er sich zur Hirschkuh gesellt, mit der Zunge übers Maul. Ein ähnliches Schlecken ist zu sehen, als Endre der Psychologin gegenübersitzt und ihre Brüste unter der dünnen Bluse mustert (KS 00:30:44).


In einem Gespräch, zu welchem Endre und Maria gemeinsam von der Psychologin geladen werden, einigt man sich oberflächlich darauf, der gleichlautende Traum sei ein verabredeter Scherz gewesen. Doch untergründig ist allen dreien klar, es mit etwas Außergewöhnlichem zu tun zu haben, auf das sie verschieden reagieren. Für die Psychologin, das bestätigt sich in einem späteren Dialog, scheint es möglich, dass durch wissenschaftsbasierte Befragung etwas entdeckt werden kann, dass dem bisherigen Erklärungssystem widerspricht. Endre spricht, als er kurz mit Maria allein ist, von einem Zufall. Damit ordnet er den gemeinsamen Traum noch dem bekannten rationalen System zu. Das hieße, dass die Traumereignisse nicht kausal zusammengehören, sondern auf unwahrscheinliche Art zusammenfallen, weshalb sich auch von einer Koinzidenz als spezieller Form des Zufalls sprechen ließe. Maria schweigt zu den Deutungen der anderen.
In einem Gespräch, zu welchem Endre und Maria gemeinsam von der Psychologin geladen werden, einigt man sich oberflächlich darauf, der gleichlautende Traum sei ein verabredeter Scherz gewesen. Doch untergründig ist allen dreien klar, es mit etwas Außergewöhnlichem zu tun zu haben, auf das sie verschieden reagieren. Für die Psychologin, das bestätigt sich in einem späteren Dialog, scheint es möglich, dass durch wissenschaftsbasierte Befragung etwas entdeckt werden kann, dass dem bisherigen Erklärungssystem widerspricht. Endre spricht, als er kurz mit Maria allein ist, von einem Zufall. Damit ordnet er den gemeinsamen Traum noch dem bekannten rationalen System zu. Das hieße, dass die Traumereignisse nicht kausal zusammengehören, sondern auf unwahrscheinliche Art zusammenfallen, weshalb sich auch von einer Koinzidenz als spezieller Form des Zufalls sprechen ließe. Maria schweigt zu den Deutungen der anderen.


===Beschreibung der Traumsequenzen V (KS #:#:#-#:#:#), VI (KS #:#:#-#:#:#) und VII (KS #:#:#-#:#:#): Sich Erkennen===
===Beschreibung der Traumsequenzen V (KS 00:43:41-00:44:06), VI (KS 00:47:37-00:48:08) und VII (KS 00:53:35-00:53:54): Sich Erkennen===
Maria und Endre sind in ihrem jeweiligen Zuhause angekommen. Endre isst, Maria geht ins Bett. Zum ersten Mal wird von ihr aus ins Traumgeschehen geschnitten. Darin sind Hirschkuh und Hirsch zu sehen. Sie stehen sich auf zwei Seiten eines kleinen runden Teiches im kahlen Wald gegenüber und schauen sich an. Am nächsten Tag begegnen sich Maria und Endre als Menschen in der Wachwelt, wiederum in der Kantine. Er leugnet seinen Traum, geht dann aber Maria nach, erzählt ihr das Geträumte, das auch die Zuschauenden kurz zuvor gesehen haben, und Maria sagt, sie habe dasselbe geträumt. Endre glaubt ihr nicht und meint, das sage sie jetzt nur so.
Maria und Endre sind in ihrem jeweiligen Zuhause angekommen. Endre isst, Maria geht ins Bett. Zum ersten Mal wird von ihr aus ins Traumgeschehen geschnitten. Darin sind Hirschkuh und Hirsch zu sehen. Sie stehen sich auf zwei Seiten eines kleinen runden Teiches im kahlen Wald gegenüber und schauen sich an. Am nächsten Tag begegnen sich Maria und Endre als Menschen in der Wachwelt, wiederum in der Kantine. Er leugnet seinen Traum, geht dann aber Maria nach, erzählt ihr das Geträumte, das auch die Zuschauenden kurz zuvor gesehen haben, und Maria sagt, sie habe dasselbe geträumt. Endre glaubt ihr nicht und meint, das sage sie jetzt nur so.
Im nächsten Traum begegnen sich Hirsch und Hirschkuh auf einer Lichtung. Von hier ziehen sie in ein Fichtendickicht, wo sie, von dünnen Stämmen getrennt, nebeneinanderher laufen.
Im nächsten Traum begegnen sich Hirsch und Hirschkuh auf einer Lichtung. Von hier ziehen sie in ein Fichtendickicht, wo sie, von dünnen Stämmen getrennt, nebeneinanderher laufen.
Zeile 112: Zeile 112:
Am Tag kauft Maria ein Telefon. Sie und Endre verabreden, sich abends zum Einschlafen anzurufen. Als sie das, beide auf ihren Betten sitzend, tun, sagt Endre: „Sie müssen keine Angst vor mir haben.“ Der Traum dieser Nacht wird, wie schon einmal geschehen, nicht gezeigt, nur die Reaktion darauf. Beide sitzen gemeinsam in der Kantine. Endre sagt: „Es war schön.“ Er strahlt Maria an und sie zeigt ein kleines Lächeln.
Am Tag kauft Maria ein Telefon. Sie und Endre verabreden, sich abends zum Einschlafen anzurufen. Als sie das, beide auf ihren Betten sitzend, tun, sagt Endre: „Sie müssen keine Angst vor mir haben.“ Der Traum dieser Nacht wird, wie schon einmal geschehen, nicht gezeigt, nur die Reaktion darauf. Beide sitzen gemeinsam in der Kantine. Endre sagt: „Es war schön.“ Er strahlt Maria an und sie zeigt ein kleines Lächeln.


===Analyse zu V (KS #:#:#-#:#:#), VI (KS #:#:#-#:#:#) und VII (KS #:#:#-#:#:#)===
===Analyse zu V (KS 00:43:41-00:44:06), VI (KS 00:47:37-00:48:08) und VII (KS 00:53:35-00:53:54)===
Da Maria und Endre den Umstand verifizieren können, sich nächtlich im gemeinsamen Traum zu begegnen, wird die Kategorie des Wunderbaren, die sich bereits zuvor andeutete, bestätigt. Dass die beiden noch vor ihrer ersten Begegnung in der Realwelt einen Traum teilten, erhöht die Stufe des Wunderbaren und gibt ihrem Zusammentreffen den Zug einer Vorbestimmung. Wenn sie sich anschließend erfolgreich für Begegnungen in ihren Nachtträumen verabreden, wird ein weiteres Merkmal von Träumen aufgehoben, nämlich dass diese kaum vom (bewussten) Ich steuerbar sind. Die gewöhnlich individuelle, subjektive und instabile Traumwelt ist also objektiviert, da sie durch zwei Menschen gleichermaßen wahrgenommen wird und dabei so verlässlich ist, dass sie sich wiederholt und bewusst aufsuchen lässt. Die gemeinsam geträumte Innenwelt besitzt also Qualitäten einer physisch wahrnehmbaren Außenwelt. Dennoch ist sie vollkommen exklusiv: Nur Endre und Maria können sie betreten. In dieser Verbindung aus Kohärenz, Logik, Unwahrscheinlichkeit und Exklusivität liegt der Übergang zum Wunder, also zu etwas, das unmöglich und naturwissenschaftlich nicht erklärbar, aber – innerhalb des Films – real ist.  
Da Maria und Endre den Umstand verifizieren können, sich nächtlich im gemeinsamen Traum zu begegnen, wird die Kategorie des Wunderbaren, die sich bereits zuvor andeutete, bestätigt. Dass die beiden noch vor ihrer ersten Begegnung in der Realwelt einen Traum teilten, erhöht die Stufe des Wunderbaren und gibt ihrem Zusammentreffen den Zug einer Vorbestimmung. Wenn sie sich anschließend erfolgreich für Begegnungen in ihren Nachtträumen verabreden, wird ein weiteres Merkmal von Träumen aufgehoben, nämlich dass diese kaum vom (bewussten) Ich steuerbar sind. Die gewöhnlich individuelle, subjektive und instabile Traumwelt ist also objektiviert, da sie durch zwei Menschen gleichermaßen wahrgenommen wird und dabei so verlässlich ist, dass sie sich wiederholt und bewusst aufsuchen lässt. Die gemeinsam geträumte Innenwelt besitzt also Qualitäten einer physisch wahrnehmbaren Außenwelt. Dennoch ist sie vollkommen exklusiv: Nur Endre und Maria können sie betreten. In dieser Verbindung aus Kohärenz, Logik, Unwahrscheinlichkeit und Exklusivität liegt der Übergang zum Wunder, also zu etwas, das unmöglich und naturwissenschaftlich nicht erklärbar, aber – innerhalb des Films – real ist.  


Zeile 130: Zeile 130:
Später begegnen sich beide wieder vor der Essensausgabe der Kantine, wo Maria, die sich inzwischen bereit fühlt, Endre anbietet, bei ihm zu schlafen. Er aber weist sie ab. Maria, die sich ihre Verletztheit nicht anmerken lässt, ordnet zu Hause ihre Sachen und versucht, sich zu töten. Während das Blut aus ihrer geöffneten Pulsader strömt, ruft Endre sie an und gesteht ihr seine Liebe. Ohne ihm zu erklären, was vorgefallen ist, verabredet sich Maria mit Endre. Sie versorgt ihre selbst beigebrachte Wunde, geht zu ihm und sie haben Sex. Am anderen Morgen stellen beide fest, dass sie im Schlaf nichts geträumt haben. Danach ist der Wald zu sehen, der Schnee, der bekannte kleine runde See, aber keine Tiere (Abb. 2). Ein Lichtstrahl zieht sich schräg durch das Bild. Er wird heller, bis das Bild gänzlich weiß ist. Dann folgt der Abspann.
Später begegnen sich beide wieder vor der Essensausgabe der Kantine, wo Maria, die sich inzwischen bereit fühlt, Endre anbietet, bei ihm zu schlafen. Er aber weist sie ab. Maria, die sich ihre Verletztheit nicht anmerken lässt, ordnet zu Hause ihre Sachen und versucht, sich zu töten. Während das Blut aus ihrer geöffneten Pulsader strömt, ruft Endre sie an und gesteht ihr seine Liebe. Ohne ihm zu erklären, was vorgefallen ist, verabredet sich Maria mit Endre. Sie versorgt ihre selbst beigebrachte Wunde, geht zu ihm und sie haben Sex. Am anderen Morgen stellen beide fest, dass sie im Schlaf nichts geträumt haben. Danach ist der Wald zu sehen, der Schnee, der bekannte kleine runde See, aber keine Tiere (Abb. 2). Ein Lichtstrahl zieht sich schräg durch das Bild. Er wird heller, bis das Bild gänzlich weiß ist. Dann folgt der Abspann.


===Analyse zu VIII (KS #:#:#-#:#:#) und IX (KS (#:#:#-#:#:#)===
===Analyse zu VIII (KS 01:27:47-01:28:19) und IX (KS (01:46:51-01:47:11)===
Die Anzahl und Länge der gezeigten Träume nimmt weiterhin ab. Das Publikum nimmt nicht mehr an den Träumen der Protagonisten teil, das heißt, der Annäherungsprozess des Paares tritt in einen intimen, geschützten Raum ein, in den das Publikum keinen Einblick mehr hat. Zugleich träumen sie noch, womit angezeigt ist, dass sie dieses Hilfsmittel benötigen, sich also in der Realwelt nicht so nahe gekommen sind, dass sie sich ohne die Auslagerung ihrer Wünsche und Sehnsüchte in die transformierende Traumwelt begegnen könnten. Trotz ihrer wachsenden Vertrautheit im Traum, behalten beide in ihrer realen Gestalt als Menschen das „Sie“ als distanzierende Anrede bei. Endres Traum, in dem er allein unterwegs ist, manifestiert hingegen die Störung in ihrer Beziehung.  
Die Anzahl und Länge der gezeigten Träume nimmt weiterhin ab. Das Publikum nimmt nicht mehr an den Träumen der Protagonisten teil, das heißt, der Annäherungsprozess des Paares tritt in einen intimen, geschützten Raum ein, in den das Publikum keinen Einblick mehr hat. Zugleich träumen sie noch, womit angezeigt ist, dass sie dieses Hilfsmittel benötigen, sich also in der Realwelt nicht so nahe gekommen sind, dass sie sich ohne die Auslagerung ihrer Wünsche und Sehnsüchte in die transformierende Traumwelt begegnen könnten. Trotz ihrer wachsenden Vertrautheit im Traum, behalten beide in ihrer realen Gestalt als Menschen das „Sie“ als distanzierende Anrede bei. Endres Traum, in dem er allein unterwegs ist, manifestiert hingegen die Störung in ihrer Beziehung.  


Navigationsmenü