"Nightmare in Red" (Fredric Brown): Unterschied zwischen den Versionen

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*a) ein Alptraum vom Weltuntergang bzw. eine apokalyptische Vision mit falschem Erwachen
*a) ein Alptraum vom Weltuntergang bzw. eine apokalyptische Vision mit falschem Erwachen
*b) die Erzählung einer tatsächlichen Apokalypse
*b) die Erzählung einer tatsächlichen Apokalypse
*c) im Sinne des unnatural storytelling (nach Alber u.a., vgl. 2014) Erzählung aus der Perspektive eines Flipper-Balls bzw. aus der Perspektive von jemandem, der sich kafkaesk über Nacht in einen solchen verwandelt hat oder auch ein Alptraum davon
*c) im Sinne des unnatural storytelling (nach Alber u.a. 2014) Erzählung aus der Perspektive eines Flipper-Balls bzw. aus der Perspektive von jemandem, der sich kafkaesk über Nacht in einen solchen verwandelt hat oder auch ein Alptraum davon


'''Zu a)''': Je nachdem, welche Indizien im Text herangezogen werden, erscheinen die Ansätze unterschiedlich wahrscheinlich. Der Titel lässt die Deutung als Traum bzw. traumähnliches Phänomen einerseits möglich erscheinen. Weitere Aspekte, die dafür sprechen, sind die seltsamen Lichterscheinungen und Geräusche, die die Hauptfigur wahrnimmt, sowie die teils fehlende raumzeitliche Orientierung, veränderte Topografie und unklare Motivationen. Andererseits sprechen einige Umstände dagegen: Trotz der Betitelung sind alle anderen so benannten „Nightmares“ keine Träume im engeren Sinn, sondern eher ‚wahrgewordene Alpträume‘ (allerdings weicht ''Red'' von diesen konzeptionell ab). Außerdem wird wie auch in den anderen Geschichten hier das Erwachen deutlich festgestellt und zusätzlich betont. Diese Umstände könnten wiederum im Sinne von ''false awakenings'' (vgl. Green 1968, 117; Green und McCreery 1994, 65; siehe ''[["Inception" (Christopher Nolan)|Inception]]'') als Kontraargumente gewertet werden, da das Verhalten des Protagonisten Traumberichten darüber (vgl. Green 1968, 121–124; Green & McCreery 1993, 65–77) ähnelt sowie ähnlichen literarischen Darstellungen, etwa in Gogols ''Portret'' (1835; vgl. Gogol 1982, 653–657), Maupassants ''Bel-Ami'' (1882; vgl. Maupassant 1910, 238 f.) oder Kehlmanns ''Mahlers Zeit'' (1998; vgl. Kehlmann 2016, 7–12), wo diese jeweils Teil einer ambivalenten ''Traum-im-Traum-Struktur'' sind (vgl. jeweils Neis 2024, 205–206; 152–165; 166–187). In jedem Fall wird die (Un-)Zuverlässigkeit der Wahrnehmung thematisiert (vgl. über ''Gray'' Lehrer•innenfortbildung BW 2016).
'''Zu a)''': Je nachdem, welche Indizien im Text herangezogen werden, erscheinen die Ansätze unterschiedlich wahrscheinlich. Der Titel lässt die Deutung als Traum bzw. traumähnliches Phänomen einerseits als möglich erscheinen. Weitere Aspekte, die dafür sprechen, sind die seltsamen Lichterscheinungen und Geräusche, die die Hauptfigur wahrnimmt, sowie die teils fehlende raumzeitliche Orientierung, veränderte Topografie und unklare Motivationen. Andererseits sprechen einige Umstände dagegen: Trotz der Betitelung sind alle anderen so benannten ''Nightmares'' keine Träume im engeren Sinn, sondern eher ‚wahrgewordene Alpträume‘ (allerdings weicht ''Red'' von diesen konzeptionell ab). Außerdem wird wie auch in den anderen Geschichten hier das Erwachen deutlich festgestellt und zusätzlich betont. Diese Umstände könnten wiederum im Sinne von ''false awakenings'' (Green 1968, 117; Green/McCreery 1994, 65; siehe ''[["Inception" (Christopher Nolan)|Inception]]'') als Kontraargumente gewertet werden, da das Verhalten des Protagonisten Traumberichten darüber (Green 1968, 121–124; Green/McCreery 1993, 65–77) ähnelt sowie ähnlichen literarischen Darstellungen, etwa in Gogols ''Portret'' (1835; Gogol 1982, 653–657), Maupassants ''Bel-Ami'' (1882; Maupassant 1910, 238 f.) oder Kehlmanns ''Mahlers Zeit'' (1998; Kehlmann 2016, 7–12), wo diese jeweils Teil einer ambivalenten ''Traum-im-Traum-Struktur'' sind (Neis 2024, 205–206; 152–165; 166–187). In jedem Fall wird die (Un-)Zuverlässigkeit der Wahrnehmung thematisiert (vgl. über ''Gray'' Lehrer•innenfortbildung BW 2016).


'''Zu b) (und a))''': Einige Merkmale des Textes deuten darauf hin, dass es sich um eine tatsächliche Apokalypse handeln könnte. Zugleich sind sie aber wiederum mit der Alptraumthese in Einklang zu bringen. Dazu zählen vor allem die Erschütterungen oder Erdbeben, besonders am Ende des Textes, als es heißt: „And then the real earthquake hit, the ground seemed to rise up under him and shake itself […] (NR 23). Die „temblors“ (NR 22) wären damit als Vorbeben zu verstehen, und auch die Hypothese der Hauptfigur, dass die Glocken Alarmglocken oder Warnsignale wegen des kommenden Erdbebens wären, würde dazu passen. Allerdings wird schon an der zitierten Stelle mit „seemed to“ wieder eine Unsicherheit (Modalisation) des Erlebenden erkennbar, die auch im Kontext des unzuverlässigen Erzählens in den anderen „Nightmares“ betrachtet werden kann. Doch ebenso wie die erwähnten Ungewissheiten in Bezug auf die Topografie und einige seiner Motivationen (u.a. den Bewegungsdrang) kann diese genauso wie mit Traumhaftigkeit ebenfalls mit der Ausnahmesituation und dem gerade erst kürzlich erfolgten möglichen Erwachen erklärt werden.   
'''Zu b) (und a))''': Einige Merkmale des Textes deuten darauf hin, dass es sich um eine tatsächliche Apokalypse handeln könnte. Zugleich sind sie aber wiederum mit der Alptraumthese in Einklang zu bringen. Dazu zählen vor allem die Erschütterungen oder Erdbeben, besonders am Ende des Textes, als es heißt: „And then the real earthquake hit, the ground seemed to rise up under him and shake itself“ (NR 23). Die „temblors“ (NR 22) wären damit als Vorbeben zu verstehen, und auch die Hypothese der Hauptfigur, dass die Glocken Alarmglocken oder Warnsignale wegen des kommenden Erdbebens wären, würde dazu passen. Allerdings wird schon an der zitierten Stelle mit „seemed to“ wieder eine Unsicherheit (Modalisation) des Erlebenden erkennbar, die auch im Kontext des unzuverlässigen Erzählens in den anderen ''Nightmares'' betrachtet werden kann. Doch ebenso wie die erwähnten Ungewissheiten in Bezug auf die Topografie und einige seiner Motivationen (u.a. den Bewegungsdrang) kann diese genauso wie mit Traumhaftigkeit ebenfalls mit der Ausnahmesituation und dem gerade erst kürzlich erfolgten möglichen Erwachen erklärt werden.   


In einiger Hinsicht – zu den apokalyptischen Merkmalen zählen hier u.a. das Erdbeben, die seltsam anmutende nächtliche Stunde, das Läuten der Glocken – lässt der Text an die Alptraumvision des Atheismus der ''Rede des toten Christus'' in Jean Pauls ''Siebenkäs'' (1797 f.) denken (vgl. Jean Paul 2020, 295–301) sowie an den Alptraumbericht von Franz Moor in Schillers ''Räubern'' (1781; vgl. Schiller 2009, 141–143; dazu Engel 2017, 37), die von biblischen Intertexten beeinflusst sind. Beide sind zusätzlich als ''Traum-im-Traum-Struktur'' eingebettet (vgl. Neis 2024, 98–101; 95–98). Im ersten Fall handelt es sich eher um eine „literary vision“ (Engel 2017, 37) als um eine echte Traumdarstellung, die dennoch die „oneiric qualities of a true nightmare“ (ebd., 38) erreicht und die zugleich eine didaktische Funktion hat (siehe auch den Alptraum in Poes ''[["The Premature Burial" (Edgar Allan Poe)|The Premature Burial]]'').  
In einiger Hinsicht – zu den apokalyptischen Merkmalen zählen hier u.a. das Erdbeben, die seltsam anmutende nächtliche Stunde, das Läuten der Glocken – lässt der Text an die Alptraumvision des Atheismus der ''Rede des toten Christus'' in Jean Pauls ''Siebenkäs'' (1797/98) denken (Jean Paul 2020, 295–301) sowie an den Alptraumbericht von Franz Moor in Schillers ''Räubern'' (1781; Schiller 2009, 141–143; dazu Engel 2017, 37), die von biblischen Intertexten beeinflusst sind. Beide sind zusätzlich als ''Traum-im-Traum-Struktur'' eingebettet (Neis 2024, 98–101; 95–98). Im ersten Fall handelt es sich eher um eine „literary vision“ (Engel 2017, 37) als um eine echte Traumdarstellung, die dennoch die „oneiric qualities of a true nightmare“ (ebd., 38) erreicht und die zugleich eine didaktische Funktion hat (siehe auch den Alptraum in Poes ''[["The Premature Burial" (Edgar Allan Poe)|The Premature Burial]]'').  


'''Zu c)''': Dies erscheint zumindest auf den ersten Blick als absurdeste Variante, ist zugleich aber diejenige, die Seabrook in seiner Brown-Monografie als selbstverständlich hinstellt: „''Nightmare in Red'' is silly, […]; here, the protagonist is bounced about mysteriously until we learn he’s a pinball“ (1993, 244). Einige Indizien sprechen aber für sie: Neben dem offensichtlichsten, der Leuchtschrift „TILT“ am Ende, die bei Flipperautomaten die Blockade des Spiels anzeigt, nachdem man versucht hat, durch Bewegen des Automaten das Spiel zu beeinflussen (vgl. „tilt“ in Glossary 2014), lassen sich weitere Elemente in der Handlung als Teile eines Flipperautomaten lesen: die „flashing lights“ (NR 22), die am Himmel zu sehen sind, die „bells“ (NR 22), das „gate“ und „field“ (NR 22) und der Zusammenstoß des Erlebenden mit dem „pole“ (NR 23; vgl. alle Glossary 2014). Das Erlöschen der Lichter und Ersterben der Geräusche am Ende bedeutet dann für den Ball das Ende des Spiels. Jedoch erklärt dies nicht, wieso dies „the end of everything“ (NR 23) sein sollte, denn üblicherweise kann ein neues Spiel begonnen werden. Zugleich ist von dieser Warte aus gesehen das Ende auch als immanente Referenz auf einen Schöpfer, für den der Mensch bloßer ‚Spielball‘ ist, denkbar, was wiederum ein theistischer Alptraum wäre.
'''Zu c)''': Dies erscheint zumindest auf den ersten Blick als absurdeste Variante, ist zugleich aber diejenige, die Seabrook in seiner Brown-Monografie als selbstverständlich hinstellt: „''Nightmare in Red'' is silly, […]; here, the protagonist is bounced about mysteriously until we learn he’s a pinball“ (1993, 244). Einige Indizien sprechen aber für sie: Neben dem offensichtlichsten, der Leuchtschrift „TILT“ am Ende, die bei Flipperautomaten die Blockade des Spiels anzeigt, nachdem man versucht hat, durch Bewegen des Automaten das Spiel zu beeinflussen (vgl. „tilt“ in Glossary 2014), lassen sich weitere Elemente in der Handlung als Teile eines Flipperautomaten lesen: die „flashing lights“ (NR 22), die am Himmel zu sehen sind, die „bells“ (NR 22), das „gate“ und „field“ (NR 22) und der Zusammenstoß des Erlebenden mit dem „pole“ (NR 23; Glossary 2014). Das Erlöschen der Lichter und Ersterben der Geräusche am Ende bedeutet dann für den Ball das Ende des Spiels. Jedoch erklärt dies nicht, wieso dies „the end of everything“ (NR 23) sein sollte, denn üblicherweise kann ein neues Spiel begonnen werden. Zugleich ist von dieser Warte aus gesehen das Ende auch als immanente Referenz auf einen Schöpfer, für den der Mensch bloßer ‚Spielball‘ ist, denkbar, was wiederum ein theistischer Alptraum wäre.


In ''Red'' sind der Plot Twist wie auch die Auflösung(en) im Unterschied zu den fünf anderen Geschichten mehrdeutig: Er kann so verstanden werden, dass der Protagonist stirbt, aufwacht, ein Flipperball ist/wird oder die Welt endet. Im Sinne der minimalistischen Phantastiktheorie ist der Protagonist destabilisiert (vgl. Durst 2010, 185–202), da er sich über verschiedene Umstände (Ort, Umgebung, Motivation) nicht sicher ist, und erlebte Rede zur Anwendung kommt (vgl. dazu Neis 2024, 36f.; zu ''Gray'' Lehrer•innenfortbildng BW 2016). Zugleich ist das mögliche Wunderbare teilweise unausformuliert (vgl. dazu Durst 2010, 290–308), d.h. das ‚Regelwerk‘ des Textes ist mit Leerstellen versehen und nicht vollkommen zu erfassen (vgl. zur Eigenschaft in SF auch Rüster 2008, 14–16). Daher kann der Text weder einfach wie die anderen „Nightmares“ als Realismus-kompatibel noch als im Sinne der Science Fiction eindeutig wunderbar eingeordnet werden. Im Abgleich mit den anderen Geschichten tritt die Abweichung noch deutlicher hervor.
In ''Red'' sind der Plot Twist wie auch die Auflösung(en) im Unterschied zu den fünf anderen Geschichten mehrdeutig: Er kann so verstanden werden, dass der Protagonist stirbt, aufwacht, ein Flipperball ist/wird oder die Welt endet. Im Sinne der minimalistischen Phantastiktheorie ist der Protagonist destabilisiert (Durst 2010, 185–202), da er sich über verschiedene Umstände (Ort, Umgebung, Motivation) nicht sicher ist, und erlebte Rede zur Anwendung kommt (Neis 2024, 36 f.; zu ''Gray'' Lehrer•innenfortbildng BW 2016). Zugleich ist das mögliche Wunderbare teilweise unausformuliert (Durst 2010, 290–308), d.h. das ‚Regelwerk‘ des Textes ist mit Leerstellen versehen und nicht vollkommen zu erfassen (zur Eigenschaft in SF auch Rüster 2008, 14–16). Daher kann der Text weder einfach wie die anderen ''Nightmares'' als Realismus-kompatibel noch als im Sinne der Science Fiction eindeutig wunderbar eingeordnet werden. Im Abgleich mit den anderen Geschichten tritt die Abweichung noch deutlicher hervor.


==Einordnung==
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