"Träume" (Günter Eich): Unterschied zwischen den Versionen

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Auffällig ist also, dass der Traum drei Jahre nach Kriegsende von einem deutschen Vertriebenen geträumt wird. Der Träumer ist gerade kein Shoah-Überlebender, auch wenn der Gehalt des Traumes aufgrund seiner auffälligen KZ-Symbolik (Schmitt-Lederhaus 1989, 117) fast durchgehend als Deportationsgeschichte verstanden wurde (Karst 1992). Liest bzw. hört man den Traum im Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangegangenen Gedicht, so wird die Tendenz zur Verallgemeinerung und Ent-Historisierung verstärkt: Das als Prolog fungierende Gedicht benennt die zurückliegenden Kriegsverbrechen nicht konkret, sondern evoziert diese lediglich in sehr allgemeinen Formulierungen, ohne die in den 1950er Jahren besonders brisante Frage nach einer möglichen Kollektivschuld zu stellen: „Sieh, was es gibt: Gefängnis und Folterung, / Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, / den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint“ (Eich 1991, 351). Das den ersten mit dem zweiten Traum verbindende Gedicht geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur wird die eigene Kriegsvergangenheit generalisiert; der Text spielt zudem durch die Ortsangaben „Korea“ und „Bikini“ direkt auf das unmittelbare Weltgeschehen der Nachkriegsepoche an: den Koreakrieg (1950-1953) und die Atomwaffenversuche der USA zwischen 1946 und 1958 im Pazifischen Ozean. Zwei weitere Momente, die auf den ersten Blick wie eine Verharmlosung des Traums erscheinen, lassen aufgrund ihres ironisch-sarkastischen Untertons aufhorchen: Die euphemistische Vorwegnahme, es handle sich um „einen nicht sonderlich angenehmen Traum“, und der Hinweis, dass der Traum gar nicht ernst zu nehmen sei, weil sich sein beunruhigender Gehalt durch die sogenannte Leib-Reiz-Theorie erklären lasse. Besonders diese Bemerkung birgt vor dem Hintergrund der entbehrungsreichen Nachkriegsjahre durchaus ein kritisches Potenzial: „Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist“ (Eich 1991, 351). Die beiden rahmenden Gedichte beinhalten darüber hinaus eine radikale Kritik an der eskapistischen Funktion von Schlaf und Traum: Dem in den 1950er Jahren vorherrschenden Bedürfnis, vor politischer Gewalt und den zurückliegenden Verbrechen die Augen zu verschließen, setzt der Autor einen eindeutigen Aufruf an seine Rezipienten entgegen, sich in das Weltgeschehen einzumischen, sich also in seinem „Nachmittagsschlaf“ „auf den Kissen mit roten Blumen“ ausdrücklich stören zu lassen (Urfassung, Eich/Klöckner 1996, 39). Besonders die im Kontext der 1968er-Bewegung berühmt gewordenen Verse: „Alles, was geschieht, geht dich an!“ (Eich 1991, 351) und „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“ (Eich/Klöckner 1991, 40) sind als Aufruf zu Verantwortung und politischer Einmischung zu verstehen.
Auffällig ist also, dass der Traum drei Jahre nach Kriegsende von einem deutschen Vertriebenen geträumt wird. Der Träumer ist gerade kein Shoah-Überlebender, auch wenn der Gehalt des Traumes aufgrund seiner auffälligen KZ-Symbolik (Schmitt-Lederhaus 1989, 117) fast durchgehend als Deportationsgeschichte verstanden wurde (Karst 1992). Liest bzw. hört man den Traum im Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangegangenen Gedicht, so wird die Tendenz zur Verallgemeinerung und Ent-Historisierung verstärkt: Das als Prolog fungierende Gedicht benennt die zurückliegenden Kriegsverbrechen nicht konkret, sondern evoziert diese lediglich in sehr allgemeinen Formulierungen, ohne die in den 1950er Jahren besonders brisante Frage nach einer möglichen Kollektivschuld zu stellen: „Sieh, was es gibt: Gefängnis und Folterung, / Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, / den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint“ (Eich 1991, 351). Das den ersten mit dem zweiten Traum verbindende Gedicht geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur wird die eigene Kriegsvergangenheit generalisiert; der Text spielt zudem durch die Ortsangaben „Korea“ und „Bikini“ direkt auf das unmittelbare Weltgeschehen der Nachkriegsepoche an: den Koreakrieg (1950-1953) und die Atomwaffenversuche der USA zwischen 1946 und 1958 im Pazifischen Ozean. Zwei weitere Momente, die auf den ersten Blick wie eine Verharmlosung des Traums erscheinen, lassen aufgrund ihres ironisch-sarkastischen Untertons aufhorchen: Die euphemistische Vorwegnahme, es handle sich um „einen nicht sonderlich angenehmen Traum“, und der Hinweis, dass der Traum gar nicht ernst zu nehmen sei, weil sich sein beunruhigender Gehalt durch die sogenannte Leib-Reiz-Theorie erklären lasse. Besonders diese Bemerkung birgt vor dem Hintergrund der entbehrungsreichen Nachkriegsjahre durchaus ein kritisches Potenzial: „Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist“ (Eich 1991, 351). Die beiden rahmenden Gedichte beinhalten darüber hinaus eine radikale Kritik an der eskapistischen Funktion von Schlaf und Traum: Dem in den 1950er Jahren vorherrschenden Bedürfnis, vor politischer Gewalt und den zurückliegenden Verbrechen die Augen zu verschließen, setzt der Autor einen eindeutigen Aufruf an seine Rezipienten entgegen, sich in das Weltgeschehen einzumischen, sich also in seinem „Nachmittagsschlaf“ „auf den Kissen mit roten Blumen“ ausdrücklich stören zu lassen (Urfassung, Eich/Klöckner 1996, 39). Besonders die im Kontext der 1968er-Bewegung berühmt gewordenen Verse: „Alles, was geschieht, geht dich an!“ (Eich 1991, 351) und „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“ (Eich/Klöckner 1991, 40) sind als Aufruf zu Verantwortung und politischer Einmischung zu verstehen.
Was das Traumgeschehen selbst angeht, so arbeitet der Text mit einer programmatischen Allgegenwart der traumatischen Erfahrung, welche die ältesten Familienmitglieder erlitten haben: Wenn der Uralte den Eingangssatz „Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten“ später als Frage wiederholt, so zeigt dies zum einen, dass sich die Erinnerungen des Uralten im Kreis drehen, es also kein Entrinnen aus der Vergangenheit gibt. Zum anderen verweist die Frage auch auf die grundsätzliche Problematik der Glaubwürdigkeit einer Erfahrung, die im Kontext der 1950er und 1960er Jahre noch längst nicht in das kollektive Gedächtnis eingedrungen ist (vgl. hierzu Gehle 2002 und Braese 2010). Auch der verzweifelte Ausruf „Weshalb hilft uns denn niemand?“ benennt die zentrale Frage, welche die Shoah-Opfer über Jahre hinweg immer wieder stellen und auf die sie keine Antwort erhalten (Schmitt-Lederhaus 1989, 116). Alle Betroffenen sind in derselben Situation gefangen – es handelt sich also nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Trauma mit einer Generationen übergreifenden Dimension: Man befindet sich zusammengepfercht in ein und demselben Raum, an dem „die Welt vorbei[fährt]“. Dieser Zustand im Güterwagon währt bereits 40 Jahre, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Der Traum stellt das traumatische Ereignis damit auf Dauer: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in einer Art Gefängnis zusammen, das in seiner Abgeschlossenheit immer weiter auf eine bedrohliche Katastrophe zusteuert. Festzuhalten bleibt, dass die Katastrophe selbst nicht in Worte gefasst wird, also als konkretes Ereignis ausgespart bleibt – einzig ihr unmittelbares Bevorstehen lässt sich in Worte fassen. Bemerkenswert ist des Weiteren eine geradezu programmatische Umkehrung von innerer (Traum-)Erfahrung und äußerer Realität: Während die alltägliche Wirklichkeit einem grundsätzlichen Zweifel unterzogen und als Traumgespinst klassifiziert wird – sie also den Status eines Traumes im Traum erhält –, stellt die gänzlich unrealistische Erfahrung, sich über mehrere Generationen-Zeiträume hinweg in einem Güterwagon zu bewegen, für die Betroffenen die einzige nicht in Frage zu stellende Realität dar. Diese Wahrnehmung der Normalität als traumhaft-irreal bzw. des traumatischen Ereignisses als allgegenwärtige Tatsache zeichnet auch zahlreiche andere Texte über die Shoah aus, die den Traum als ästhetisches Gestaltungsverfahren verwenden (vgl. z.B. die Artikel zu Primo Levi, Anna Langfus und Vercors).
Was das Traumgeschehen selbst angeht, so arbeitet der Text mit einer programmatischen Allgegenwart der traumatischen Erfahrung, welche die ältesten Familienmitglieder erlitten haben: Wenn der Uralte den Eingangssatz „Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten“ später als Frage wiederholt, so zeigt dies zum einen, dass sich die Erinnerungen des Uralten im Kreis drehen, es also kein Entrinnen aus der Vergangenheit gibt. Zum anderen verweist die Frage auch auf die grundsätzliche Problematik der Glaubwürdigkeit einer Erfahrung, die im Kontext der 1950er und 1960er Jahre noch längst nicht in das kollektive Gedächtnis eingedrungen ist (vgl. hierzu Gehle 2002 und Braese 2010). Auch der verzweifelte Ausruf „Weshalb hilft uns denn niemand?“ benennt die zentrale Frage, welche die Shoah-Opfer über Jahre hinweg immer wieder stellen und auf die sie keine Antwort erhalten (Schmitt-Lederhaus 1989, 116). Alle Betroffenen sind in derselben Situation gefangen – es handelt sich also nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Trauma mit einer Generationen übergreifenden Dimension: Man befindet sich zusammengepfercht in ein und demselben Raum, an dem „die Welt vorbei[fährt]“. Dieser Zustand im Güterwagon währt bereits 40 Jahre, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Der Traum stellt das traumatische Ereignis damit auf Dauer: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in einer Art Gefängnis zusammen, das in seiner Abgeschlossenheit immer weiter auf eine bedrohliche Katastrophe zusteuert. Festzuhalten bleibt, dass die Katastrophe selbst nicht benannt wird, also als konkretes Ereignis ausgespart bleibt – einzig ihr unmittelbares Bevorstehen lässt sich in Worte fassen. Bemerkenswert ist des Weiteren eine geradezu programmatische Umkehrung von innerer (Traum-)Erfahrung und äußerer Realität: Während die alltägliche Wirklichkeit einem grundsätzlichen Zweifel unterzogen und als Traumgespinst klassifiziert wird – sie also den Status eines Traumes im Traum erhält –, stellt die gänzlich unrealistische Erfahrung, sich über mehrere Generationen-Zeiträume hinweg in einem Güterwagon zu bewegen, für die Betroffenen die einzige nicht in Frage zu stellende Realität dar. Diese Wahrnehmung der Normalität als traumhaft-irreal bzw. des traumatischen Ereignisses als allgegenwärtige Tatsache zeichnet auch zahlreiche andere Texte über die Shoah aus, die den Traum als ästhetisches Gestaltungsverfahren verwenden (vgl. z.B. die Artikel zu Primo Levi, Anna Langfus und Vercors).
Weitere Bedeutungsebenen erhält der Traum durch mehrere gerade für die Traum-Thematik relevante Intertexte, auf die sich Eich mehr oder weniger explizit bezieht (Klöckner 1996, 52-59). Ins Auge fällt beispielsweise die häufige Nennung der zugleich anwesenden und abwesenden „gelben Blume“, die als Objekt einer diffusen Sehnsucht erscheint. Ihre Existenz wird von den nachfolgenden Generationen grundsätzlich angezweifelt und explizit als Lüge bezeichnet: „Sie sprechen immer von gelben Blumen“, „Es gibt keine gelben Blumen, mein Kind“ (Eich 1991, 354 und 354). Hier drängt sich ein Bezug zur Epoche der Romantik geradezu auf: Die Blume lässt sich im Zusammenhang mit der Hauptfigur aus Novalis’ gleichnamigem Romanfragment verstehen, nämlich Heinrich von Ofterdingens Suche nach der „blauen Blume“, die um 1800 zum Sinnbild romantischer Sehnsucht wird (Novalis 1960). Bei Eich allerdings wird sie aufgrund der auffälligen Form- und Farbsymbolik in einen spezifisch jüdischen Kontext versetzt, so dass es nahelieht, sie mit dem gelben ‚Judenstern’ zu assoziieren (vgl. Schmitt-Lederhaus 1989, 103-104). Dass sie für die Nachkriegsgeneration abwesend oder erlogen ist und der Gedanke daran die beiden Uralten frösteln lässt (Eich 1991, 357), rückt das Traumerlebnis zusätzlich ins Licht der Shoah. Auch Platons Höhengleichnis stellt einen entscheidenden Bezugstext für das Verständnis des Traumes dar (Eich/Klöckner 1996, 52-54). Versteht man das grelle Licht, das in den Wagon eindringt, als Ans-Licht-Bringen bzw. Ins-Licht-Rücken der unverstellten Wirklichkeit, so handelt der Traum auch von einem schmerzhaften Blick auf die nicht zu leugnende Wahrheit der Shoah: Wie die Höhlenbewohner in Platons Gleichnis die Täuschung durch die Schatten im Dunkeln der grellen Wahrheit vorziehen, so wollen auch die Insassen des Wagons die Wirklichkeit nicht kennen, verschließen die Augen vor ihr und verleugnen sie. Und wie für denjenigen, der bei Platon einmal das Licht der Wahrheit geschaut hat, keine Rückkehr zum illusionären Zustand der Gefangenschaft in der Höhle mehr möglich ist, stellen auch die Alten fest: „Es ist nicht wie vorher“ (Eich 1991, 357). In diesem Zusammenhang resümiert Lothar Schröder: „Der Blick ist ein existenzieller Schock, ist ein Blick hinter die Kulisse der Welt [...] Dieser Riss reicht aus, um das bis dahin geführte Leben als reine Staffage zu entlarven. So unerträglich jene Erkenntnis auch sein mag, so unauslöschbar ist ihre einmal gemachte Entdeckung“ (Schröder 1991, 214).
Weitere Bedeutungsebenen erhält der Traum durch mehrere gerade für die Traum-Thematik relevante Intertexte, auf die sich Eich mehr oder weniger explizit bezieht (Klöckner 1996, 52-59). Ins Auge fällt beispielsweise die häufige Nennung der zugleich anwesenden und abwesenden „gelben Blume“, die als Objekt einer diffusen Sehnsucht erscheint. Ihre Existenz wird von den nachfolgenden Generationen grundsätzlich angezweifelt und explizit als Lüge bezeichnet: „Sie sprechen immer von gelben Blumen“, „Es gibt keine gelben Blumen, mein Kind“ (Eich 1991, 354 und 354). Hier drängt sich ein Bezug zur Epoche der Romantik geradezu auf: Die Blume lässt sich im Zusammenhang mit der Hauptfigur aus Novalis’ gleichnamigem Romanfragment verstehen, nämlich Heinrich von Ofterdingens Suche nach der „blauen Blume“, die um 1800 zum Sinnbild romantischer Sehnsucht wird (Novalis 1960). Bei Eich allerdings wird sie aufgrund der auffälligen Form- und Farbsymbolik in einen spezifisch jüdischen Kontext versetzt, so dass es nahelieht, sie mit dem gelben ‚Judenstern’ zu assoziieren (vgl. Schmitt-Lederhaus 1989, 103-104). Dass sie für die Nachkriegsgeneration abwesend oder erlogen ist und der Gedanke daran die beiden Uralten frösteln lässt (Eich 1991, 357), rückt das Traumerlebnis zusätzlich ins Licht der Shoah. Auch Platons Höhengleichnis stellt einen entscheidenden Bezugstext für das Verständnis des Traumes dar (Eich/Klöckner 1996, 52-54). Versteht man das grelle Licht, das in den Wagon eindringt, als Ans-Licht-Bringen bzw. Ins-Licht-Rücken der unverstellten Wirklichkeit, so handelt der Traum auch von einem schmerzhaften Blick auf die nicht zu leugnende Wahrheit der Shoah: Wie die Höhlenbewohner in Platons Gleichnis die Täuschung durch die Schatten im Dunkeln der grellen Wahrheit vorziehen, so wollen auch die Insassen des Wagons die Wirklichkeit nicht kennen, verschließen die Augen vor ihr und verleugnen sie. Und wie für denjenigen, der bei Platon einmal das Licht der Wahrheit geschaut hat, keine Rückkehr zum illusionären Zustand der Gefangenschaft in der Höhle mehr möglich ist, stellen auch die Alten fest: „Es ist nicht wie vorher“ (Eich 1991, 357). In diesem Zusammenhang resümiert Lothar Schröder: „Der Blick ist ein existenzieller Schock, ist ein Blick hinter die Kulisse der Welt [...] Dieser Riss reicht aus, um das bis dahin geführte Leben als reine Staffage zu entlarven. So unerträglich jene Erkenntnis auch sein mag, so unauslöschbar ist ihre einmal gemachte Entdeckung“ (Schröder 1991, 214).


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