"Das Dritte Reich des Traums" (Charlotte Beradt): Unterschied zwischen den Versionen
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Kurzerläuterung | ==Kurzerläuterung== | ||
''Das Dritte Reich des Traums'' ist eine Sammlung von ca. 50 Traumberichten und zahlreichen weiteren, seriell bzw. in Variationen wiedergegebenen Träumen mit politischer Dimension, welche die Journalistin Charlotte Beradt zwischen 1933 und 1939 aufzeichnet und später im Exil publiziert. Die ursprünglich ca. 300 Traumprotokolle von Träumern unterschiedlichen Alters, Glaubens, Geschlechts, Berufs und sozialer Schicht können als „seismographische Aufzeichnungen“ des beginnenden nationalsozialistischen Terrors gelten (Lux 2008, 12 nach Beradt 1981, 10). Sie dokumentieren anhand eindrücklicher Traumbilder, Traumsituationen und Traumereignisse, wie die Ideologie totaler Herrschaft zunehmend in die Wahrnehmung des einzelnen Individuums eindringt. Die erzählten Träume erweisen sich als verlängerter Arm des Regimes und zugleich als Erkenntnismedium der Struktur totalitärer Herrschaft (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 127). | ''Das Dritte Reich des Traums'' ist eine Sammlung von ca. 50 Traumberichten und zahlreichen weiteren, seriell bzw. in Variationen wiedergegebenen Träumen mit politischer Dimension, welche die Journalistin Charlotte Beradt zwischen 1933 und 1939 aufzeichnet und später im Exil publiziert. Die ursprünglich ca. 300 Traumprotokolle von Träumern unterschiedlichen Alters, Glaubens, Geschlechts, Berufs und sozialer Schicht können als „seismographische Aufzeichnungen“ des beginnenden nationalsozialistischen Terrors gelten (Lux 2008, 12 nach Beradt 1981, 10). Sie dokumentieren anhand eindrücklicher Traumbilder, Traumsituationen und Traumereignisse, wie die Ideologie totaler Herrschaft zunehmend in die Wahrnehmung des einzelnen Individuums eindringt. Die erzählten Träume erweisen sich als verlängerter Arm des Regimes und zugleich als Erkenntnismedium der Struktur totalitärer Herrschaft (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 127). | ||
Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption | ==Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption== | ||
Das Werk der Publizistin Charlotte Beradt, geboren am 7. Dezember 1907 in Forst in der Lausitz, gestorben am 15. Mai 1986 im Exil in New York, umfasst unter anderem eine Biographie des Politikers Paul Levi, die Übersetzung mehrerer politischer Essays von Hannah Arendt aus dem Amerikanischen ins Deutsche sowie die Herausgabe der Briefe Rosa Luxemburgs an ihre Freundin Mathilde Jacob. Bekannt ist die Journalistin aus jüdischer Familie, die in den 1920er und 30er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands ist, heute jedoch vor allem für ihre Sammlung politischer Träume, die sie zwischen 1933 und 1939 aufzeichnet und später unter dem Titel ''Das Dritte Reich des Traums'' publiziert. Ab 1933 aufgrund einer Denunziation vorübergehend inhaftiert und unmittelbar darauf mit einem Berufsverbot belegt (Steuwer 2017, 534), befragt Beradt seit Beginn der Machtergreifung Hitlers Bekannte, Freunde und weitere Personen in ihrem Umfeld nach deren politischen Träumen, notiert diese in verschlüsselter Form, versteckt sie und schickt sie schließlich ins Ausland, bevor sie mit ihrem Ehemann 1938 über London nach New York ins Exil flieht, wo sie ab 1939 bis zu ihrem Tode bleibt (vgl. Bulkeley 1994, 115). | Das Werk der Publizistin Charlotte Beradt, geboren am 7. Dezember 1907 in Forst in der Lausitz, gestorben am 15. Mai 1986 im Exil in New York, umfasst unter anderem eine Biographie des Politikers Paul Levi, die Übersetzung mehrerer politischer Essays von Hannah Arendt aus dem Amerikanischen ins Deutsche sowie die Herausgabe der Briefe Rosa Luxemburgs an ihre Freundin Mathilde Jacob. Bekannt ist die Journalistin aus jüdischer Familie, die in den 1920er und 30er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands ist, heute jedoch vor allem für ihre Sammlung politischer Träume, die sie zwischen 1933 und 1939 aufzeichnet und später unter dem Titel ''Das Dritte Reich des Traums'' publiziert. Ab 1933 aufgrund einer Denunziation vorübergehend inhaftiert und unmittelbar darauf mit einem Berufsverbot belegt (Steuwer 2017, 534), befragt Beradt seit Beginn der Machtergreifung Hitlers Bekannte, Freunde und weitere Personen in ihrem Umfeld nach deren politischen Träumen, notiert diese in verschlüsselter Form, versteckt sie und schickt sie schließlich ins Ausland, bevor sie mit ihrem Ehemann 1938 über London nach New York ins Exil flieht, wo sie ab 1939 bis zu ihrem Tode bleibt (vgl. Bulkeley 1994, 115). | ||
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Die Träume | ==Die Träume== | ||
===Beispiele=== | |||
Beispiele | |||
Die folgende Auflistung umfasst die Titel der elf Kapitel des Buches (ohne Motti) und führt im Anschluss exemplarisch einen besonders repräsentativen Traum der jeweiligen Kategorie im vollständigen Wortlaut auf. Die ergänzenden Kommentare der Träumenden und der Herausgeberin wurden gestrichen. Es handelt sich bei den ausgewählten Beispielen entweder um den Traum, aus dem das Titelzitat entstammt, oder um einen Traum, der die Gesamtthematik des jeweiligen Kapitels in besonders prägnanter Weise auf den Punkt bringt: | Die folgende Auflistung umfasst die Titel der elf Kapitel des Buches (ohne Motti) und führt im Anschluss exemplarisch einen besonders repräsentativen Traum der jeweiligen Kategorie im vollständigen Wortlaut auf. Die ergänzenden Kommentare der Träumenden und der Herausgeberin wurden gestrichen. Es handelt sich bei den ausgewählten Beispielen entweder um den Traum, aus dem das Titelzitat entstammt, oder um einen Traum, der die Gesamtthematik des jeweiligen Kapitels in besonders prägnanter Weise auf den Punkt bringt: | ||
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Auswahlkriterien | ====Auswahlkriterien==== | ||
Die Kriterien, nach denen Charlotte Beradt die ihr berichteten Träume in die Sammlung aufnimmt, legt sie im ersten Kapitel ihres Buches dar: Sie wählt nur Träume aus, deren politischer Gehalt durch die offensichtlichen Bezüge zum nationalsozialistischen Regime unmittelbar erkennbar ist (Beradt 1981, 13). Aussortiert hat sie dabei all jene Traumaufzeichnungen, die von körperlicher Gewalt und physiologischer Angst handeln oder eindeutige erotische Phantasien darstellen. Ihre (allerdings nicht unbedingt überzeugende) Begründung lautet, dass gerade diese Träume überzeitlicher Natur seien, nicht als repräsentativ für die Zeit des Nationalsozialismus gelten können und daher wenig über die gesellschaftspolitische Situation aussagen, die sie hervorbringen; nämlich die allmähliche Herstellung des „totalen Untertans“ (Beradt 1981, 16). | Die Kriterien, nach denen Charlotte Beradt die ihr berichteten Träume in die Sammlung aufnimmt, legt sie im ersten Kapitel ihres Buches dar: Sie wählt nur Träume aus, deren politischer Gehalt durch die offensichtlichen Bezüge zum nationalsozialistischen Regime unmittelbar erkennbar ist (Beradt 1981, 13). Aussortiert hat sie dabei all jene Traumaufzeichnungen, die von körperlicher Gewalt und physiologischer Angst handeln oder eindeutige erotische Phantasien darstellen. Ihre (allerdings nicht unbedingt überzeugende) Begründung lautet, dass gerade diese Träume überzeitlicher Natur seien, nicht als repräsentativ für die Zeit des Nationalsozialismus gelten können und daher wenig über die gesellschaftspolitische Situation aussagen, die sie hervorbringen; nämlich die allmähliche Herstellung des „totalen Untertans“ (Beradt 1981, 16). | ||
Authentizität | ====Authentizität==== | ||
Zur Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung „retouchiert“ wurden (Beradt 1981, 11). Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und hinsichtlich der Erzählstruktur ausgesprochen homogen. | Zur Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung „retouchiert“ wurden (Beradt 1981, 11). Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und hinsichtlich der Erzählstruktur ausgesprochen homogen. | ||
Textsorte | ====Textsorte==== | ||
Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der ''Träume'' Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die präsentierten Träume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 und 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u. a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 und 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der Präsentation ihrer gesammelten Träume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von Träumen. Dieses führt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 und 108). Beradt zeigt also mit ihrer Präsentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen (Beradt 1981, 15). | Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der ''Träume'' Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die präsentierten Träume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 und 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u. a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 und 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der Präsentation ihrer gesammelten Träume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von Träumen. Dieses führt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 und 108). Beradt zeigt also mit ihrer Präsentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen (Beradt 1981, 15). | ||
Aufbau | ====Aufbau==== | ||
Der Aufbau der Sammlung folgt einer minutiös durchkomponierten Anordnung, die Barbara Hahn detailliert analysiert hat: Insgesamt werden 50 Träume vollständig wiedergegeben, wobei ursprünglich ca. 300 Personen befragt wurden, deren Berichte als Variationen ein- und derselben Erfahrung ergänzt werden. 20 Träumer kommen innerhalb der Sammlung mehrfach zu Wort; sei es, weil sie unterschiedliche Träume zu Protokoll geben, sei es, weil sie selbst einen Grundtraum in mehreren Ausprägungsformen oder ganze Traumserien zu berichten haben. Das Buch umfasst elf Kapitel. In deren Gesamtanordnung macht Barbara Hahn eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches über die Entwicklungsstationen des totalitären Regimes verläuft und kurz vor dem Ende durch einen Teil zu den widerständig handelnden Träumern unterbrochen wird, bevor es mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem über Frauen, deren Träume als zumeist beschämende Wunschträume, sich mit Hitler oder anderen NS-Größen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel über „träumende Juden“ (Hahn in Beradt 2016, 152 und 153). Auch wenn diese Anordnung mit der besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklärt wird, die im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen (Beradt 1981, 100), so fällt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder Rasse bzw. Religion folgt. Damit lassen sich der Sortierung des Materials durchaus latent antisemitische oder misogyne Züge bescheinigen (vgl. Lühe 2014, 320). | Der Aufbau der Sammlung folgt einer minutiös durchkomponierten Anordnung, die Barbara Hahn detailliert analysiert hat: Insgesamt werden 50 Träume vollständig wiedergegeben, wobei ursprünglich ca. 300 Personen befragt wurden, deren Berichte als Variationen ein- und derselben Erfahrung ergänzt werden. 20 Träumer kommen innerhalb der Sammlung mehrfach zu Wort; sei es, weil sie unterschiedliche Träume zu Protokoll geben, sei es, weil sie selbst einen Grundtraum in mehreren Ausprägungsformen oder ganze Traumserien zu berichten haben. Das Buch umfasst elf Kapitel. In deren Gesamtanordnung macht Barbara Hahn eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches über die Entwicklungsstationen des totalitären Regimes verläuft und kurz vor dem Ende durch einen Teil zu den widerständig handelnden Träumern unterbrochen wird, bevor es mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem über Frauen, deren Träume als zumeist beschämende Wunschträume, sich mit Hitler oder anderen NS-Größen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel über „träumende Juden“ (Hahn in Beradt 2016, 152 und 153). Auch wenn diese Anordnung mit der besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklärt wird, die im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen (Beradt 1981, 100), so fällt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder Rasse bzw. Religion folgt. Damit lassen sich der Sortierung des Materials durchaus latent antisemitische oder misogyne Züge bescheinigen (vgl. Lühe 2014, 320). | ||
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Intertextualität | ====Intertextualität==== | ||
Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T. S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem ''Deutschen Requiem'' von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. | Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T. S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem ''Deutschen Requiem'' von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. | ||
Themen und Motive | ====Themen und Motive==== | ||
Von den zahlreichen nennenswerten Themen, Figuren und Motiven der Traumsammlung seien nur die wichtigsten genannt. Hierzu zählen unter anderem sich belebende Alltagsobjekte, die zu Verrätern werden (vgl. Bulkeley 1994, 120), die Figur des „stellvertretenden Meinungssagers“ (Beradt 1981, 47), die Erfindung technischer Kontroll- und Einschüchterungsapparate, das Zusammenspiel von Henker und Opfer, der Druck von Terror und Propaganda, der zur Selbstzensur zwingt, das Zusammenbrechen von Individualität, Unterwerfung aus schlechtem Gewissen, schleichende Anpassung, Sprechzwänge und Schweigegebote, das Errichten und Zusammenbrechen von Raumgrenzen, Verzerrung und Verfremdung von Propagandaparolen (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126ff. und Solte-Gresser 2017) sowie spezifische Metaträume, etwa denjenigen über das Verbot zu träumen. | Von den zahlreichen nennenswerten Themen, Figuren und Motiven der Traumsammlung seien nur die wichtigsten genannt. Hierzu zählen unter anderem sich belebende Alltagsobjekte, die zu Verrätern werden (vgl. Bulkeley 1994, 120), die Figur des „stellvertretenden Meinungssagers“ (Beradt 1981, 47), die Erfindung technischer Kontroll- und Einschüchterungsapparate, das Zusammenspiel von Henker und Opfer, der Druck von Terror und Propaganda, der zur Selbstzensur zwingt, das Zusammenbrechen von Individualität, Unterwerfung aus schlechtem Gewissen, schleichende Anpassung, Sprechzwänge und Schweigegebote, das Errichten und Zusammenbrechen von Raumgrenzen, Verzerrung und Verfremdung von Propagandaparolen (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126ff. und Solte-Gresser 2017) sowie spezifische Metaträume, etwa denjenigen über das Verbot zu träumen. | ||
Titel | ====Titel==== | ||
Was den Titel der Traumprotokolle betrifft, so deutet Barbara Hahn die Tatsache, dass Beradt die Sammlung nicht, analog zum ursprünglichen Zeitschriftenessay, „Träume im Dritten Reich“ oder „Träume unter dem Dritten Reich“ genannt hat, in ''The Art of Dreams'' als Einschreiben einer historischen Dimension des wissenschaftlichen Traumdiskurses in das Genre des Traumberichts (Hahn 2013, 91 und 92): Als „erstes Reich des Traums“ erscheint, will man dieser Interpretation folgen, das Zeitalter vor der Psychoanalyse, das zweite entspräche der Epoche der Freud'schen Traumdeutung, wohingegen mit dem Traumwissen im und vom Nationalsozialismus Träume vorherrschen, die „now include their own interpretations. It could hardly be more dissapointing: there is no private life in dreams. No resistance to overarching rules. In their dreams, people teach themselves how to live under totalitarian rule. (...) the book seems to suggest, that the world of dreams under these circumstances is even more ‚real’ than the real world“ (Hahn 2013, 91). | Was den Titel der Traumprotokolle betrifft, so deutet Barbara Hahn die Tatsache, dass Beradt die Sammlung nicht, analog zum ursprünglichen Zeitschriftenessay, „Träume im Dritten Reich“ oder „Träume unter dem Dritten Reich“ genannt hat, in ''The Art of Dreams'' als Einschreiben einer historischen Dimension des wissenschaftlichen Traumdiskurses in das Genre des Traumberichts (Hahn 2013, 91 und 92): Als „erstes Reich des Traums“ erscheint, will man dieser Interpretation folgen, das Zeitalter vor der Psychoanalyse, das zweite entspräche der Epoche der Freud'schen Traumdeutung, wohingegen mit dem Traumwissen im und vom Nationalsozialismus Träume vorherrschen, die „now include their own interpretations. It could hardly be more dissapointing: there is no private life in dreams. No resistance to overarching rules. In their dreams, people teach themselves how to live under totalitarian rule. (...) the book seems to suggest, that the world of dreams under these circumstances is even more ‚real’ than the real world“ (Hahn 2013, 91). | ||
Interpretation | ==Interpretation== | ||
Die drei maßgeblichen Intentionen der Publikation werden durch Charlotte Beradt selbst von Beginn an programmatisch offengelegt: Erstens geht es Beradt darum, die Traumprotokolle gegen eine psychoanalytische Deutung abzuschotten, auch oder gerade weil die Traumerfahrungen von zumeist psychoanalytisch informierten Träumern stammen. Dies wird nicht nur in den Kommentaren der Traumsammlung selbst, sondern auch in den kontroversen Positionen gegenüber dieser Verweigerung einer psychoanalytischen Lesart der Träume deutlich, wie sie in der Rezeption u.a. durch Bruno Bettelheim und Reinhardt Koselleck repräsentiert werden (s. hierzu den Absatz unten). | Die drei maßgeblichen Intentionen der Publikation werden durch Charlotte Beradt selbst von Beginn an programmatisch offengelegt: Erstens geht es Beradt darum, die Traumprotokolle gegen eine psychoanalytische Deutung abzuschotten, auch oder gerade weil die Traumerfahrungen von zumeist psychoanalytisch informierten Träumern stammen. Dies wird nicht nur in den Kommentaren der Traumsammlung selbst, sondern auch in den kontroversen Positionen gegenüber dieser Verweigerung einer psychoanalytischen Lesart der Träume deutlich, wie sie in der Rezeption u.a. durch Bruno Bettelheim und Reinhardt Koselleck repräsentiert werden (s. hierzu den Absatz unten). | ||
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Einordnung | ==Einordnung== | ||
Nadja Lux sieht die herausragende Bedeutung von Charlotte Beradts Traumsammlung unter anderem in der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven Erfahrungswelten des Nationalsozialismus weder aus der „Perspektive des Exils, noch aus der erinnerten Rückschau innerer Emigranten nach 1945 vermittelt (werden), sondern im Spiegel zeitgenössischer Traumerzählungen aus dem Innenraum der Diktatur (erfolgen)“. Die Einsichten in die „Strukturen und Funktionsweisen totalitärer Herrschaft lassen sich also explizit aus der ästhetischen Form ableiten“ (Lux 2008, 15). Indem die Träume nicht die äußere Wirklichkeit zeigen, wie sie sich in der alltäglichen Wahrnehmung bietet, sondern die Struktur, die in ihr verborgen ist, enthüllen die erzählten Traumgeschichten „die geheimen Antriebskräfte und Einpassungszwänge“ der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie „bezeugen – als fiktionale Texte – den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst. Sie werden in den Leib diktiert“ (Koselleck in Beradt 1981, 127 und 128). | Nadja Lux sieht die herausragende Bedeutung von Charlotte Beradts Traumsammlung unter anderem in der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven Erfahrungswelten des Nationalsozialismus weder aus der „Perspektive des Exils, noch aus der erinnerten Rückschau innerer Emigranten nach 1945 vermittelt (werden), sondern im Spiegel zeitgenössischer Traumerzählungen aus dem Innenraum der Diktatur (erfolgen)“. Die Einsichten in die „Strukturen und Funktionsweisen totalitärer Herrschaft lassen sich also explizit aus der ästhetischen Form ableiten“ (Lux 2008, 15). Indem die Träume nicht die äußere Wirklichkeit zeigen, wie sie sich in der alltäglichen Wahrnehmung bietet, sondern die Struktur, die in ihr verborgen ist, enthüllen die erzählten Traumgeschichten „die geheimen Antriebskräfte und Einpassungszwänge“ der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie „bezeugen – als fiktionale Texte – den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst. Sie werden in den Leib diktiert“ (Koselleck in Beradt 1981, 127 und 128). | ||
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Namenssigle | ==Namenssigle== | ||
SG | SG | ||
Literatur | ==Literatur== | ||
===Ausgaben (in chronologischer Reihung):=== | |||
Ausgaben (in chronologischer Reihung): | |||
Erste Veröffentlichung einer Auswahl der Traumprotokolle in einem englischsprachigen Aufsatz: Charlotte Beradt: „Dreams under Dictatorship“, in: Free World, Oktober 1943, S. 333-337. | Erste Veröffentlichung einer Auswahl der Traumprotokolle in einem englischsprachigen Aufsatz: Charlotte Beradt: „Dreams under Dictatorship“, in: Free World, Oktober 1943, S. 333-337. | ||
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Forschung und weitere zitierte Literatur | ===Forschung und weitere zitierte Literatur=== | ||
Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York: Schocken Books 1951. | Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York: Schocken Books 1951. | ||