"Das Dritte Reich des Traums" (Charlotte Beradt): Unterschied zwischen den Versionen
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Das Dritte Reich des Traums (Charlotte Beradt, geb. Aron) | Das Dritte Reich des Traums (Charlotte Beradt, geb. Aron) | ||
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Nachdem ''Das Dritte Reich des Traums'' über lange Zeit hinweg vergriffen war, gibt Barbara Hahn im Jahre 2016 eine Neuauflage heraus, in der sich auch erstmals eine von der Herausgeberin verfasste Übersetzung des 1943 in ''Free World'' publizierten Essays findet (Hahn in Beradt 2016, 137-147). In diesem Zusammenhang zeigt Hahn auch pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch auf: Der historische Abstand von ca. 20 Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollständig zurücktreten (Hahn 2016, 32). Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume vorwegnehmen. Im Essay präsentiert Beradt also viele Träume auf vergleichsweise engem Raum. Hahn stellt hierfür eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest (Hahn 2016, 36). Während die Traumberichte des Essays damit mehr oder weniger für sich sprechen und auf diese Weise eine gewisse Autonomie erlangen, sind sie in der Buchsammlung Teil eines größeren Interpretations- und Verweisungszusammenhangs aus Zitaten, Motti sowie Parallelisierungen mit Motiven, Themen und Erzählverfahren aus der Literatur. Diese erfolgen, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre, so dass mit der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus präsentiert und forciert wird (Steuwer 2017, 538ff.). | Nachdem ''Das Dritte Reich des Traums'' über lange Zeit hinweg vergriffen war, gibt Barbara Hahn im Jahre 2016 eine Neuauflage heraus, in der sich auch erstmals eine von der Herausgeberin verfasste Übersetzung des 1943 in ''Free World'' publizierten Essays findet (Hahn in Beradt 2016, 137-147). In diesem Zusammenhang zeigt Hahn auch pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch auf: Der historische Abstand von ca. 20 Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollständig zurücktreten (Hahn 2016, 32). Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume vorwegnehmen. Im Essay präsentiert Beradt also viele Träume auf vergleichsweise engem Raum. Hahn stellt hierfür eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest (Hahn 2016, 36). Während die Traumberichte des Essays damit mehr oder weniger für sich sprechen und auf diese Weise eine gewisse Autonomie erlangen, sind sie in der Buchsammlung Teil eines größeren Interpretations- und Verweisungszusammenhangs aus Zitaten, Motti sowie Parallelisierungen mit Motiven, Themen und Erzählverfahren aus der Literatur. Diese erfolgen, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre, so dass mit der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus präsentiert und forciert wird (Steuwer 2017, 538ff.). | ||
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===Auswahlkriterien und Authentizität=== | |||
Die Kriterien, nach denen Charlotte Beradt die ihr berichteten Träume in die Sammlung aufnimmt, legt sie im ersten Kapitel ihres Buches dar: Sie wählt nur Träume aus, deren politischer Gehalt durch die offensichtlichen Bezüge zum nationalsozialistischen Regime unmittelbar erkennbar ist (Beradt 1981, 13). Aussortiert hat sie dabei all jene Traumaufzeichnungen, die von körperlicher Gewalt und physiologischer Angst handeln oder eindeutige erotische Phantasien darstellen. Ihre (allerdings nicht unbedingt überzeugende) Begründung lautet, dass gerade diese Träume überzeitlicher Natur seien, nicht als repräsentativ für die Zeit des Nationalsozialismus gelten können und daher wenig über die gesellschaftspolitische Situation aussagen, die sie hervorbringen; nämlich die allmähliche Herstellung des „totalen Untertans“ (Beradt 1981, 16). Zur Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung „retouchiert“ wurden (Beradt 1981, 11). Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und hinsichtlich der Erzählstruktur ausgesprochen homogen. | |||
===Textsorte=== | |||
Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der ''Träume'' Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die präsentierten Träume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 und 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u. a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 und 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der Präsentation ihrer gesammelten Träume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von Träumen. Dieses führt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 und 108). Beradt zeigt also mit ihrer Präsentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen (Beradt 1981, 15). | Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der ''Träume'' Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die präsentierten Träume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 und 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u. a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 und 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der Präsentation ihrer gesammelten Träume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von Träumen. Dieses führt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 und 108). Beradt zeigt also mit ihrer Präsentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen (Beradt 1981, 15). | ||
===Aufbau=== | |||
Der Aufbau der Sammlung folgt einer minutiös durchkomponierten Anordnung, die Barbara Hahn detailliert analysiert hat: Insgesamt werden 50 Träume vollständig wiedergegeben, wobei ursprünglich ca. 300 Personen befragt wurden, deren Berichte als Variationen ein- und derselben Erfahrung ergänzt werden. 20 Träumer kommen innerhalb der Sammlung mehrfach zu Wort; sei es, weil sie unterschiedliche Träume zu Protokoll geben, sei es, weil sie selbst einen Grundtraum in mehreren Ausprägungsformen oder ganze Traumserien zu berichten haben. Das Buch umfasst elf Kapitel. In deren Gesamtanordnung macht Barbara Hahn eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches über die Entwicklungsstationen des totalitären Regimes verläuft und kurz vor dem Ende durch einen Teil zu den widerständig handelnden Träumern unterbrochen wird, bevor es mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem über Frauen, deren Träume als zumeist beschämende Wunschträume, sich mit Hitler oder anderen NS-Größen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel über „träumende Juden“ (Hahn in Beradt 2016, 152 und 153). Auch wenn diese Anordnung mit der besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklärt wird, die im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen (Beradt 1981, 100), so fällt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder Rasse bzw. Religion folgt. Damit lassen sich der Sortierung des Materials durchaus latent antisemitische oder misogyne Züge bescheinigen (vgl. Lühe 2014, 320). | Der Aufbau der Sammlung folgt einer minutiös durchkomponierten Anordnung, die Barbara Hahn detailliert analysiert hat: Insgesamt werden 50 Träume vollständig wiedergegeben, wobei ursprünglich ca. 300 Personen befragt wurden, deren Berichte als Variationen ein- und derselben Erfahrung ergänzt werden. 20 Träumer kommen innerhalb der Sammlung mehrfach zu Wort; sei es, weil sie unterschiedliche Träume zu Protokoll geben, sei es, weil sie selbst einen Grundtraum in mehreren Ausprägungsformen oder ganze Traumserien zu berichten haben. Das Buch umfasst elf Kapitel. In deren Gesamtanordnung macht Barbara Hahn eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches über die Entwicklungsstationen des totalitären Regimes verläuft und kurz vor dem Ende durch einen Teil zu den widerständig handelnden Träumern unterbrochen wird, bevor es mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem über Frauen, deren Träume als zumeist beschämende Wunschträume, sich mit Hitler oder anderen NS-Größen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel über „träumende Juden“ (Hahn in Beradt 2016, 152 und 153). Auch wenn diese Anordnung mit der besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklärt wird, die im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen (Beradt 1981, 100), so fällt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder Rasse bzw. Religion folgt. Damit lassen sich der Sortierung des Materials durchaus latent antisemitische oder misogyne Züge bescheinigen (vgl. Lühe 2014, 320). | ||
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===Intertextualität=== | |||
Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T. S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem ''Deutschen Requiem'' von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. | Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T. S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem ''Deutschen Requiem'' von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. | ||
===Themen, Motive, Titel=== | |||
Von den zahlreichen nennenswerten Themen, Figuren und Motiven der Traumsammlung seien nur die wichtigsten genannt. Hierzu zählen unter anderem sich belebende Alltagsobjekte, die zu Verrätern werden (vgl. Bulkeley 1994, 120), die Figur des „stellvertretenden Meinungssagers“ (Beradt 1981, 47), die Erfindung technischer Kontroll- und Einschüchterungsapparate, das Zusammenspiel von Henker und Opfer, der Druck von Terror und Propaganda, der zur Selbstzensur zwingt, das Zusammenbrechen von Individualität, Unterwerfung aus schlechtem Gewissen, schleichende Anpassung, Sprechzwänge und Schweigegebote, das Errichten und Zusammenbrechen von Raumgrenzen, Verzerrung und Verfremdung von Propagandaparolen (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126ff. und Solte-Gresser 2017) sowie spezifische Metaträume, etwa denjenigen über das Verbot zu träumen. | Von den zahlreichen nennenswerten Themen, Figuren und Motiven der Traumsammlung seien nur die wichtigsten genannt. Hierzu zählen unter anderem sich belebende Alltagsobjekte, die zu Verrätern werden (vgl. Bulkeley 1994, 120), die Figur des „stellvertretenden Meinungssagers“ (Beradt 1981, 47), die Erfindung technischer Kontroll- und Einschüchterungsapparate, das Zusammenspiel von Henker und Opfer, der Druck von Terror und Propaganda, der zur Selbstzensur zwingt, das Zusammenbrechen von Individualität, Unterwerfung aus schlechtem Gewissen, schleichende Anpassung, Sprechzwänge und Schweigegebote, das Errichten und Zusammenbrechen von Raumgrenzen, Verzerrung und Verfremdung von Propagandaparolen (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126ff. und Solte-Gresser 2017) sowie spezifische Metaträume, etwa denjenigen über das Verbot zu träumen. | ||
Was den Titel der Traumprotokolle betrifft, so deutet Barbara Hahn die Tatsache, dass Beradt die Sammlung nicht, analog zum ursprünglichen Zeitschriftenessay, „Träume im Dritten Reich“ oder „Träume unter dem Dritten Reich“ genannt hat, in ''The Art of Dreams'' als Einschreiben einer historischen Dimension des wissenschaftlichen Traumdiskurses in das Genre des Traumberichts (Hahn 2013, 91 und 92): Als „erstes Reich des Traums“ erscheint, will man dieser Interpretation folgen, das Zeitalter vor der Psychoanalyse, das zweite entspräche der Epoche der Freud'schen Traumdeutung, wohingegen mit dem Traumwissen im und vom Nationalsozialismus Träume vorherrschen, die „now include their own interpretations. It could hardly be more dissapointing: there is no private life in dreams. No resistance to overarching rules. In their dreams, people teach themselves how to live under totalitarian rule. (...) the book seems to suggest, that the world of dreams under these circumstances is even more ‚real’ than the real world“ (Hahn 2013, 91). | |||
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Der besondere Wert der Aufzeichnungen besteht demnach vornehmlich darin, dass es sich um eine dokumentarische Sammlung narrativer Texte handelt, die weder realistisch ist, noch realistisch sein will: „Träume, obwohl nicht willentlich produzierbar, gehören gleichwohl zum Bereich menschlicher Fiktionen. Sie bieten keine realistische Darstellung der Wirklichkeit, werfen jedoch ein besonders grelles Licht auf jene Wirklichkeit, der sie entstammen“ (Koselleck in Beradt 1981, 125). Gerade die Einsicht in die Unmöglichkeit eines unmittelbaren, gewissermaßen naiven Realismus ist es aber, die Literatur und Traum gemeinsam haben und die in Beradts Traumprotokollen besonders augenscheinlich wird. Hierin zeigt sich, wie Nadja Lux in ihrer umfassenden Studie zu ''Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’'' erörtert, auch die Janusköpfigkeit des Traums, die das Träumen mit literarischen Texten gemein hat: Die Sammlung macht die Terrorisierung des Einzelnen durch den Traum offensichtlich, der dazu beiträgt, das totalitäre System im Unterbewusstsein zu verankern. Zugleich zeigt sich aber auch die kreative Suche nach Auswegen im und durch den Traum: Träume und Erzählungen erfüllen gleichermaßen die Funktion, Bilder und Worte für die schiefe Logik, für das Verkehrte und Abgründige des Systems, für die Verzerrungen und Verfremdungen der ideologisch durchtränkten Wirklichkeit hervorzubringen (Lux 2008, 397). Dabei bergen sie mitunter, wie etwa die Meta-Träume von Traumverbot und verschlüsselter Traumsprache zeigen, ein deutlich subversives Potenzial. | Der besondere Wert der Aufzeichnungen besteht demnach vornehmlich darin, dass es sich um eine dokumentarische Sammlung narrativer Texte handelt, die weder realistisch ist, noch realistisch sein will: „Träume, obwohl nicht willentlich produzierbar, gehören gleichwohl zum Bereich menschlicher Fiktionen. Sie bieten keine realistische Darstellung der Wirklichkeit, werfen jedoch ein besonders grelles Licht auf jene Wirklichkeit, der sie entstammen“ (Koselleck in Beradt 1981, 125). Gerade die Einsicht in die Unmöglichkeit eines unmittelbaren, gewissermaßen naiven Realismus ist es aber, die Literatur und Traum gemeinsam haben und die in Beradts Traumprotokollen besonders augenscheinlich wird. Hierin zeigt sich, wie Nadja Lux in ihrer umfassenden Studie zu ''Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’'' erörtert, auch die Janusköpfigkeit des Traums, die das Träumen mit literarischen Texten gemein hat: Die Sammlung macht die Terrorisierung des Einzelnen durch den Traum offensichtlich, der dazu beiträgt, das totalitäre System im Unterbewusstsein zu verankern. Zugleich zeigt sich aber auch die kreative Suche nach Auswegen im und durch den Traum: Träume und Erzählungen erfüllen gleichermaßen die Funktion, Bilder und Worte für die schiefe Logik, für das Verkehrte und Abgründige des Systems, für die Verzerrungen und Verfremdungen der ideologisch durchtränkten Wirklichkeit hervorzubringen (Lux 2008, 397). Dabei bergen sie mitunter, wie etwa die Meta-Träume von Traumverbot und verschlüsselter Traumsprache zeigen, ein deutlich subversives Potenzial. | ||
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Die Nähe der Träume zu literarisch-ästhetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also ein spezifisches Wissen über das Verhältnis von Traum, Erzählung und Totalitarismus, das keine andere Quellengattung in dieser Abgründigkeit bietet. Damit erlangen die Traumtexte Beradts nicht nur eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten und Diskussionen um die Funktionen und Potenziale von Literatur. Sie haben auch einen wesentlichen Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126). | Die Nähe der Träume zu literarisch-ästhetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also ein spezifisches Wissen über das Verhältnis von Traum, Erzählung und Totalitarismus, das keine andere Quellengattung in dieser Abgründigkeit bietet. Damit erlangen die Traumtexte Beradts nicht nur eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten und Diskussionen um die Funktionen und Potenziale von Literatur. Sie haben auch einen wesentlichen Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126). | ||
==Namenssigle== | ==Namenssigle== | ||
SG | SG | ||
==Literatur== | ==Literatur== | ||
===Ausgaben (in chronologischer Reihung) | ===Ausgaben (in chronologischer Reihung)=== | ||
Erste Veröffentlichung einer Auswahl der Traumprotokolle in einem englischsprachigen Aufsatz: Charlotte Beradt: „Dreams under Dictatorship“, in: Free World, Oktober 1943, S. 333-337. | |||
Erste Veröffentlichung einer Auswahl der Traumprotokolle in einem englischsprachigen Aufsatz: | |||
Charlotte Beradt: „Dreams under Dictatorship“, in: Free World, Oktober 1943, S. 333-337. | |||
Übersetzung der englischsprachigen Aufsatzversion von 1943: Charlotte Beradt: „Träume unter der Diktatur“, übersetzt von Barbara Hahn, in: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn, Frankfurt am Main 2016, S. 137-147. | Übersetzung der englischsprachigen Aufsatzversion von 1943: Charlotte Beradt: „Träume unter der Diktatur“, übersetzt von Barbara Hahn, in: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn, Frankfurt am Main 2016, S. 137-147. | ||
Radiosendung: | Radiosendung: | ||
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Träume vom Terror. Gesammelt und kommentiert von Charlotte Beradt, Westdeutscher Rundfunk, 21. März 1963. | Träume vom Terror. Gesammelt und kommentiert von Charlotte Beradt, Westdeutscher Rundfunk, 21. März 1963. | ||
Deutsche Erstausgabe: | |||
Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1966. | |||
Übersetzungen: | |||
Englische Erstausgabe: | |||
Charlotte Beradt: The Third Reich of Dreams. Translated from the German by Adriane Gottwald, with an Essay by Bruno Bettelheim, Chicago: Quadrangle Books 1968. | |||
Französische Ausgabe: | |||
Charlotte Beradt: Rêver sous le IIIe Reich. Préface de Martine Leibovici. Postface de Reinhart Koselleck et de François Gantheret. Traduit de l'allemand par Pierre Saint-Germain, Paris: Payot & Rivages 2002. | |||
Italienische Ausgabe: | |||
Charlotte Beradt: Il Terzo Reich dei sogni. Prefazione di Reinhart Koselleck. Postfazione di Bruno Bettelheim. Traduzione di Ingrid Harbach, Torino: Einaudi 1991. | |||
Verwendete Taschenbuchausgabe: | |||
Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981/1994. | |||
Neuausgabe: | |||
Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn, Frankfurt am Main 2016. | |||
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===Forschung und weitere zitierte Literatur=== | ===Forschung und weitere zitierte Literatur=== | ||
Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York: Schocken Books 1951. | Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York: Schocken Books 1951. | ||