"Das Dritte Reich des Traums" (Charlotte Beradt): Unterschied zwischen den Versionen
"Das Dritte Reich des Traums" (Charlotte Beradt) (Quelltext anzeigen)
Version vom 19. März 2017, 21:38 Uhr
, 19. März 2017keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
||
Zeile 11: | Zeile 11: | ||
Nachdem ''Das Dritte Reich des Traums'' über lange Zeit hinweg vergriffen war, gab Barbara Hahn im Jahre 2016 eine Neuauflage heraus, in der sich auch erstmals eine von der Herausgeberin verfasste Übersetzung des 1943 in ''Free World'' publizierten Essays findet (Hahn in Beradt 2016, 137-147). In diesem Zusammenhang zeigt Hahn auch pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch auf: Der historische Abstand von ca. 20 Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollständig zurücktreten (Hahn 2016, 32). Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume vorwegnehmen. Im Essay präsentiert Beradt also viele Träume auf vergleichsweise engem Raum. Hahn stellt hierfür eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest (Hahn 2016, 36). Während die Traumberichte des Essays damit mehr oder weniger für sich sprechen und auf diese Weise eine gewisse Autonomie erlangen, sind sie in der Buchsammlung Teil eines größeren Interpretations- und Verweisungszusammenhangs aus Zitaten, Motti sowie Parallelisierungen mit Motiven, Themen und Erzählverfahren aus der Literatur. Diese erfolgen, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre, so dass mit der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus präsentiert und forciert wird (Steuwer 2017, 538ff.). | Nachdem ''Das Dritte Reich des Traums'' über lange Zeit hinweg vergriffen war, gab Barbara Hahn im Jahre 2016 eine Neuauflage heraus, in der sich auch erstmals eine von der Herausgeberin verfasste Übersetzung des 1943 in ''Free World'' publizierten Essays findet (Hahn in Beradt 2016, 137-147). In diesem Zusammenhang zeigt Hahn auch pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch auf: Der historische Abstand von ca. 20 Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollständig zurücktreten (Hahn 2016, 32). Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume vorwegnehmen. Im Essay präsentiert Beradt also viele Träume auf vergleichsweise engem Raum. Hahn stellt hierfür eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest (Hahn 2016, 36). Während die Traumberichte des Essays damit mehr oder weniger für sich sprechen und auf diese Weise eine gewisse Autonomie erlangen, sind sie in der Buchsammlung Teil eines größeren Interpretations- und Verweisungszusammenhangs aus Zitaten, Motti sowie Parallelisierungen mit Motiven, Themen und Erzählverfahren aus der Literatur. Diese erfolgen, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre, so dass mit der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus präsentiert und forciert wird (Steuwer 2017, 538ff.). | ||
Zeile 74: | Zeile 75: | ||
„Zwei Bänke stehen im Tiergarten, eine normal grün, eine gelb, und zwischen beiden ein Papierkorb. Ich setze mich auf den Papierkorb und befestige selbst ein Schild an meinem Hals, wie es blinde Bettler zuweilen tragen, wie es aber auch ‚Rassenschändern’ behördlicherseits umgehängt wurde: ‚Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz’“ (Beradt 981, 104). | „Zwei Bänke stehen im Tiergarten, eine normal grün, eine gelb, und zwischen beiden ein Papierkorb. Ich setze mich auf den Papierkorb und befestige selbst ein Schild an meinem Hals, wie es blinde Bettler zuweilen tragen, wie es aber auch ‚Rassenschändern’ behördlicherseits umgehängt wurde: ‚Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz’“ (Beradt 981, 104). | ||
===Auswahlkriterien und Authentizität=== | ===Auswahlkriterien und Authentizität=== | ||
Die Kriterien, nach denen Charlotte Beradt die ihr berichteten Träume in die Sammlung aufnimmt, legt sie im ersten Kapitel ihres Buches dar: Sie wählt nur Träume aus, deren politischer Gehalt durch die offensichtlichen Bezüge zum nationalsozialistischen Regime unmittelbar erkennbar ist (Beradt 1981, 13). Aussortiert hat sie dabei all jene Traumaufzeichnungen, die von körperlicher Gewalt und physiologischer Angst handeln oder eindeutige erotische Phantasien darstellen. Ihre (allerdings nicht unbedingt überzeugende) Begründung lautet, dass gerade diese Träume überzeitlicher Natur seien, nicht als repräsentativ für die Zeit des Nationalsozialismus gelten können und daher wenig über die gesellschaftspolitische Situation aussagen, die sie hervorbringen; nämlich die allmähliche Herstellung des „totalen Untertans“ (Beradt 1981, 16). Zur Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung „retouchiert“ wurden (Beradt 1981, 11). Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und in ihrer Erzählstruktur ausgesprochen homogen. | Die Kriterien, nach denen Charlotte Beradt die ihr berichteten Träume in die Sammlung aufnimmt, legt sie im ersten Kapitel ihres Buches dar: Sie wählt nur Träume aus, deren politischer Gehalt durch die offensichtlichen Bezüge zum nationalsozialistischen Regime unmittelbar erkennbar ist (Beradt 1981, 13). Aussortiert hat sie dabei all jene Traumaufzeichnungen, die von körperlicher Gewalt und physiologischer Angst handeln oder eindeutige erotische Phantasien darstellen. Ihre (allerdings nicht unbedingt überzeugende) Begründung lautet, dass gerade diese Träume überzeitlicher Natur seien, nicht als repräsentativ für die Zeit des Nationalsozialismus gelten können und daher wenig über die gesellschaftspolitische Situation aussagen, die sie hervorbringen; nämlich die allmähliche Herstellung des „totalen Untertans“ (Beradt 1981, 16). Zur Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung „retouchiert“ wurden (Beradt 1981, 11). Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und in ihrer Erzählstruktur ausgesprochen homogen. | ||
===Textsorte=== | ===Textsorte=== | ||
Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der ''Träume '' Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die präsentierten Träume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 u. 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u.a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 u. 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der Präsentation ihrer gesammelten Träume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von Träumen. Dieses führt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 u. 108). Beradt zeigt also mit ihrer Präsentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen (Beradt 1981, 15). | Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der ''Träume '' Friedrich Huchs als eigenständige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere Literarizität der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die präsentierten Träume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 u. 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u.a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffälliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 u. 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der Präsentation ihrer gesammelten Träume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von Träumen. Dieses führt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 u. 108). Beradt zeigt also mit ihrer Präsentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen (Beradt 1981, 15). | ||
Zeile 88: | Zeile 92: | ||
Jedes Kapitel wird durch einen Titel eröffnet, der das zentrale Thema der im Folgenden präsentierten Träume benennt. Darauf folgt ein kurzes, prägnantes Zitat eines Träumers, der später seinen Traum erzählt. Jedem Kapitel sind zudem zwei Motti vorangestellt. Hierbei handelt es sich um eine, wie Hahn treffend bemerkt, „waghalsige Mischung“; nämlich eine „spannungsgeladene Vielfalt“ aus Zitaten des Alten und Neuen Testaments, von NS-Theoretikern, Schriftstellern und Dichtern sowie mehreren Propagandisten der nationalsozialistischen Ideologie (Hahn in Beradt 2016, 153). Hahn konstatiert, es handle sich also weniger um ein „neutrales Arrangement“ von Dokumenten, als vielmehr um die Konstruktion eines Dialogs aus mehreren Stimmen, deren Gespräch von Beradt nicht nur komponiert, sondern auch interpretiert wird (ebd.). Diese besondere Anordnung von „Traum, Kommentar und Zitat“ (Hahn in Beradt 2016, 152) schließt auch Informationen zum politischen, beruflichen und sozialen Umfeld der Träumenden mit ein. Mitunter werden zudem Hinweise auf Familiäres und Weltanschauliches ergänzt, häufig finden sich darüber hinaus explizite Verweise auf Tagesreste und Traumanlässe – Verbindungen, die teils von den Träumern selbst hergestellt, teils eher spekulativ von der Herausgeberin gezogen werden. | Jedes Kapitel wird durch einen Titel eröffnet, der das zentrale Thema der im Folgenden präsentierten Träume benennt. Darauf folgt ein kurzes, prägnantes Zitat eines Träumers, der später seinen Traum erzählt. Jedem Kapitel sind zudem zwei Motti vorangestellt. Hierbei handelt es sich um eine, wie Hahn treffend bemerkt, „waghalsige Mischung“; nämlich eine „spannungsgeladene Vielfalt“ aus Zitaten des Alten und Neuen Testaments, von NS-Theoretikern, Schriftstellern und Dichtern sowie mehreren Propagandisten der nationalsozialistischen Ideologie (Hahn in Beradt 2016, 153). Hahn konstatiert, es handle sich also weniger um ein „neutrales Arrangement“ von Dokumenten, als vielmehr um die Konstruktion eines Dialogs aus mehreren Stimmen, deren Gespräch von Beradt nicht nur komponiert, sondern auch interpretiert wird (ebd.). Diese besondere Anordnung von „Traum, Kommentar und Zitat“ (Hahn in Beradt 2016, 152) schließt auch Informationen zum politischen, beruflichen und sozialen Umfeld der Träumenden mit ein. Mitunter werden zudem Hinweise auf Familiäres und Weltanschauliches ergänzt, häufig finden sich darüber hinaus explizite Verweise auf Tagesreste und Traumanlässe – Verbindungen, die teils von den Träumern selbst hergestellt, teils eher spekulativ von der Herausgeberin gezogen werden. | ||
===Intertextualität=== | ===Intertextualität=== | ||
Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T. S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem ''Deutschen Requiem'' von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. | Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T.S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem ''Deutschen Requiem'' von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen. | ||
Zeile 98: | Zeile 104: | ||
Was den Titel der Traumprotokolle betrifft, so deutet Barbara Hahn die Tatsache, dass Beradt die Sammlung nicht, analog zum ursprünglichen Zeitschriftenessay, „Träume im Dritten Reich“ oder „Träume unter dem Dritten Reich“ genannt hat, in ''The Art of Dreams'' als Einschreiben einer historischen Dimension des wissenschaftlichen Traumdiskurses in das Genre des Traumberichts (Hahn 2013, 91 u. 92): Als „erstes Reich des Traums“ erscheint, will man dieser Interpretation folgen, das Zeitalter vor der Psychoanalyse, das zweite entspräche der Epoche der Freud'schen Traumdeutung, wohingegen mit dem Traumwissen im und vom Nationalsozialismus Träume vorherrschen, die „now include their own interpretations. It could hardly be more dissapointing: there is no private life in dreams. No resistance to overarching rules. In their dreams, people teach themselves how to live under totalitarian rule. [...] the book seems to suggest, that the world of dreams under these circumstances is even more ‚real’ than the real world“ (Hahn 2013, 91). | Was den Titel der Traumprotokolle betrifft, so deutet Barbara Hahn die Tatsache, dass Beradt die Sammlung nicht, analog zum ursprünglichen Zeitschriftenessay, „Träume im Dritten Reich“ oder „Träume unter dem Dritten Reich“ genannt hat, in ''The Art of Dreams'' als Einschreiben einer historischen Dimension des wissenschaftlichen Traumdiskurses in das Genre des Traumberichts (Hahn 2013, 91 u. 92): Als „erstes Reich des Traums“ erscheint, will man dieser Interpretation folgen, das Zeitalter vor der Psychoanalyse, das zweite entspräche der Epoche der Freud'schen Traumdeutung, wohingegen mit dem Traumwissen im und vom Nationalsozialismus Träume vorherrschen, die „now include their own interpretations. It could hardly be more dissapointing: there is no private life in dreams. No resistance to overarching rules. In their dreams, people teach themselves how to live under totalitarian rule. [...] the book seems to suggest, that the world of dreams under these circumstances is even more ‚real’ than the real world“ (Hahn 2013, 91). | ||
Zeile 110: | Zeile 117: | ||
Der besondere Wert der Aufzeichnungen besteht demnach vornehmlich darin, dass es sich um eine dokumentarische Sammlung narrativer Texte handelt, die weder realistisch ist, noch realistisch sein will: „Träume, obwohl nicht willentlich produzierbar, gehören gleichwohl zum Bereich menschlicher Fiktionen. Sie bieten keine realistische Darstellung der Wirklichkeit, werfen jedoch ein besonders grelles Licht auf jene Wirklichkeit, der sie entstammen“ (Koselleck in Beradt 1981, 125). Gerade die Einsicht in die Unmöglichkeit eines unmittelbaren, gewissermaßen naiven Realismus ist es aber, die Literatur und Traum gemeinsam haben und die in Beradts Traumprotokollen besonders augenscheinlich wird. Hierin zeigt sich, wie Nadja Lux in ihrer umfassenden Studie zu ''Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’'' erörtert, auch die Janusköpfigkeit des Traums, die das Träumen mit literarischen Texten gemein hat: Die Sammlung macht die Terrorisierung des Einzelnen durch den Traum offensichtlich, der dazu beiträgt, das totalitäre System im Unterbewusstsein zu verankern. Zugleich zeigt sich aber auch die kreative Suche nach Auswegen im und durch den Traum: Träume und Erzählungen erfüllen gleichermaßen die Funktion, Bilder und Worte für die schiefe Logik, für das Verkehrte und Abgründige des Systems, für die Verzerrungen und Verfremdungen der ideologisch durchtränkten Wirklichkeit hervorzubringen (Lux 2008, 397). Dabei bergen sie mitunter, wie etwa die Meta-Träume von Traumverbot und verschlüsselter Traumsprache zeigen, ein deutlich subversives Potenzial. | Der besondere Wert der Aufzeichnungen besteht demnach vornehmlich darin, dass es sich um eine dokumentarische Sammlung narrativer Texte handelt, die weder realistisch ist, noch realistisch sein will: „Träume, obwohl nicht willentlich produzierbar, gehören gleichwohl zum Bereich menschlicher Fiktionen. Sie bieten keine realistische Darstellung der Wirklichkeit, werfen jedoch ein besonders grelles Licht auf jene Wirklichkeit, der sie entstammen“ (Koselleck in Beradt 1981, 125). Gerade die Einsicht in die Unmöglichkeit eines unmittelbaren, gewissermaßen naiven Realismus ist es aber, die Literatur und Traum gemeinsam haben und die in Beradts Traumprotokollen besonders augenscheinlich wird. Hierin zeigt sich, wie Nadja Lux in ihrer umfassenden Studie zu ''Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’'' erörtert, auch die Janusköpfigkeit des Traums, die das Träumen mit literarischen Texten gemein hat: Die Sammlung macht die Terrorisierung des Einzelnen durch den Traum offensichtlich, der dazu beiträgt, das totalitäre System im Unterbewusstsein zu verankern. Zugleich zeigt sich aber auch die kreative Suche nach Auswegen im und durch den Traum: Träume und Erzählungen erfüllen gleichermaßen die Funktion, Bilder und Worte für die schiefe Logik, für das Verkehrte und Abgründige des Systems, für die Verzerrungen und Verfremdungen der ideologisch durchtränkten Wirklichkeit hervorzubringen (Lux 2008, 397). Dabei bergen sie mitunter, wie etwa die Meta-Träume von Traumverbot und verschlüsselter Traumsprache zeigen, ein deutlich subversives Potenzial. | ||
Zeile 116: | Zeile 124: | ||
Die Nähe der Träume zu literarisch-ästhetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also ein spezielles Wissen über das Verhältnis von Traum, Erzählung und Totalitarismus, das keine andere Quellengattung in dieser Abgründigkeit bietet. Damit erlangen die Traumtexte Beradts nicht nur eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten und Diskussionen um die Funktionen und Potenziale von Literatur. Sie haben auch einen wesentlichen Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126). | Die Nähe der Träume zu literarisch-ästhetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also ein spezielles Wissen über das Verhältnis von Traum, Erzählung und Totalitarismus, das keine andere Quellengattung in dieser Abgründigkeit bietet. Damit erlangen die Traumtexte Beradts nicht nur eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten und Diskussionen um die Funktionen und Potenziale von Literatur. Sie haben auch einen wesentlichen Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126). | ||
Zeile 196: | Zeile 205: | ||
|} | |} | ||
[[Kategorie:Traumbericht]] | |||
[[Kategorie:20. Jahrhundert]] | |||
[[Kategorie:Drittes Reich]] | |||
[[Kategorie:Deutschsprachig]] | |||
[[Kategorie:Deutschland]] |