"Little Nemo in Slumberland" (Winsor McCay): Unterschied zwischen den Versionen

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Bis Ende Februar 1906 scheitert jeder dieser Versuche am Aufwachen Nemos am Ende des Strips (Canemaker 2005, 97), und jeden Sonntag muss ein neuer Versuch unternommen werden. Visualisiert wird dieses Scheitern durch immer neue Variationen der Auflösung und des Zusammenbruchs. So führt schon die zweite Folge Nemo in einen Wald aus Pilzen, den er durchqueren soll, ohne die Stämme zu berühren (Abb. 1). Als er aus Versehen einen Stamm berührt, löst er einen Dominoeffekt aus und der gesamte Wald bricht um ihn herum zusammen. Aus diesem Chaos gibt es keinen Ausweg: Nemo droht von herabstürzenden Pilzen zerquetscht zu werden, ruft in seiner Not nach seinem Vater – und findet sich in seinem Bett wieder, an dem der Vater sitzt und ihn dafür tadelt, vor dem Schlafengehen zu viel Rosinenkuchen gegessen zu haben.  
Bis Ende Februar 1906 scheitert jeder dieser Versuche am Aufwachen Nemos am Ende des Strips (Canemaker 2005, 97), und jeden Sonntag muss ein neuer Versuch unternommen werden. Visualisiert wird dieses Scheitern durch immer neue Variationen der Auflösung und des Zusammenbruchs. So führt schon die zweite Folge Nemo in einen Wald aus Pilzen, den er durchqueren soll, ohne die Stämme zu berühren (Abb. 1). Als er aus Versehen einen Stamm berührt, löst er einen Dominoeffekt aus und der gesamte Wald bricht um ihn herum zusammen. Aus diesem Chaos gibt es keinen Ausweg: Nemo droht von herabstürzenden Pilzen zerquetscht zu werden, ruft in seiner Not nach seinem Vater – und findet sich in seinem Bett wieder, an dem der Vater sitzt und ihn dafür tadelt, vor dem Schlafengehen zu viel Rosinenkuchen gegessen zu haben.  


[[Datei:Nemo_22.10.1905.jpg|none|frame|Abb. 1]]
[[Datei:Nemo_22.10.1905.jpg|thumb|right|869x769px|'''Abb. 1''' "Little Nemo in Slumberland" vom 22.10.1905 (Ausschnitt).]]


Dieses Muster der Eskalation wird vor allem in den ersten Folgen immer wieder variiert. Es ist davon auszugehen, dass die redundante Handlungsstruktur der Strips der ersten vier Monate auch einem zu Beginn einer Serie stärker ausgeprägten Ziel der Lesergewinnung zu tun hat. Auch die wohl berühmteste Folge der Serie, die ''walking bed''-Episode (Blank 2016, 287-292), bedient sich des Musters der Eskalation mit abruptem Wechsel in die Wachwelt im letzten Panel. Zu diesem Erzählschema tritt ein Muster, das man als 'Katastrophe mit Folgen' bezeichnen könnte und das im untenstehenden Beispiel vertieft wird. Ab der Folge vom 4. März 1906 an wird das Muster der scheiternden Reise aufgegeben: Die Folgen bauen nun größtenteils aufeinander auf und erzählen von den Abenteuern Nemos im Schlummerland. Obwohl Nemo weiterhin im letzten Panel aufwacht, setzt der Traum der nächsten Folge nun meistens an der Stelle ein, an der der Protagonist aufgewacht war.  
Dieses Muster der Eskalation wird vor allem in den ersten Folgen immer wieder variiert. Es ist davon auszugehen, dass die redundante Handlungsstruktur der Strips der ersten vier Monate auch einem zu Beginn einer Serie stärker ausgeprägten Ziel der Lesergewinnung zu tun hat. Auch die wohl berühmteste Folge der Serie, die ''walking bed''-Episode (Blank 2016, 287-292), bedient sich des Musters der Eskalation mit abruptem Wechsel in die Wachwelt im letzten Panel. Zu diesem Erzählschema tritt ein Muster, das man als 'Katastrophe mit Folgen' bezeichnen könnte und das im untenstehenden Beispiel vertieft wird. Ab der Folge vom 4. März 1906 an wird das Muster der scheiternden Reise aufgegeben: Die Folgen bauen nun größtenteils aufeinander auf und erzählen von den Abenteuern Nemos im Schlummerland. Obwohl Nemo weiterhin im letzten Panel aufwacht, setzt der Traum der nächsten Folge nun meistens an der Stelle ein, an der der Protagonist aufgewacht war.  
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Im Folgenden wird mit der [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Little_Nemo_1905-11-19.jpg Episode vom 19.11.1905] ein Beispiel analysiert, das dem Erzählschema 'Katastrophe mit Folgen' zuzuordnen ist. Anhand dieser frühen, in mehrfacher Hinsicht typischen Episode können zentrale Darstellungsprinzipien McCays verdeutlicht werden: das Prinzip der Metamorphose des Bekannten in das Unbekannte; das Motiv des Zusammenbruchs; der Zusammenhang zwischen Träumer und Traumwelt; die comicspezifische Nutzung des Layouts als Mittel des Erzählens der 'Traumreise'; die typischen affektiven Reaktionen des Träumers auf die Traumwelt im positiven wie im negativen Spektrum. Die Episode inszeniert den Übertritt in die Traumwelt als eine graduelle Metamorphose des Raums. In einer Exposition (Abb. 2) wird dem Lesepublikum die allgemeine Problematik der Passage ins Schlummerland ins Gedächtnis gerufen und gleichzeitig das spezielle Hindernis der aktuellen Folge etabliert: Unter Androhung von Strafe durch König Morpheus persönlich darf niemand der später eingeführten Figur Chrystalette etwas zuleide tun.
Im Folgenden wird mit der [https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Little_Nemo_1905-11-19.jpg Episode vom 19.11.1905] ein Beispiel analysiert, das dem Erzählschema 'Katastrophe mit Folgen' zuzuordnen ist. Anhand dieser frühen, in mehrfacher Hinsicht typischen Episode können zentrale Darstellungsprinzipien McCays verdeutlicht werden: das Prinzip der Metamorphose des Bekannten in das Unbekannte; das Motiv des Zusammenbruchs; der Zusammenhang zwischen Träumer und Traumwelt; die comicspezifische Nutzung des Layouts als Mittel des Erzählens der 'Traumreise'; die typischen affektiven Reaktionen des Träumers auf die Traumwelt im positiven wie im negativen Spektrum. Die Episode inszeniert den Übertritt in die Traumwelt als eine graduelle Metamorphose des Raums. In einer Exposition (Abb. 2) wird dem Lesepublikum die allgemeine Problematik der Passage ins Schlummerland ins Gedächtnis gerufen und gleichzeitig das spezielle Hindernis der aktuellen Folge etabliert: Unter Androhung von Strafe durch König Morpheus persönlich darf niemand der später eingeführten Figur Chrystalette etwas zuleide tun.


[[Datei:Nemo_19.11.1905_1.Zeile.jpg|none|frame|Abb. 2]]
[[Datei:Nemo_19.11.1905_1.Zeile.jpg|thumb|right|869x215px|'''Abb. 2''' "Little Nemo in Slumberland" vom 22.10.1905 (Ausschnitt).]]


Die Nemo betreffende Traumhandlung beginnt in der zweiten Zeile (Abb. 3) im vertrauten, alltäglichen Raum von Nemos Zuhause, das sich aber unmerklich in einen anderen, wunderbaren Ort zu verwandeln beginnt. Dieser Übergang wird über vier Panels aufgebaut. Das erste Panel ist mit dem letzten fast identisch und könnte auch der Erzählebene des Wachzustands zugeordnet werden, wenn nicht der Erzähltext unter den Panels bereits vermerken würde, dass die Handlung mitten in der Nacht ("past midnight") einsetzt, also zu einer Zeit, die außerhalb des normalen Tagesablaufs des Kindes liegt und damit dafür prädestiniert ist, aus der gewohnten Ordnung herauszufallen. Der Erstkontakt mit der wunderbaren anderen Welt wird vor allem durch den Kontrast mit der Alltagswelt als außergewöhnlich markiert. Im zweiten Panel beugt sich Nemo, der sich am Alltagsgegenstand Waschbecken festhält, neugierig in Richtung der Glashöhle, die plötzlich dort erschienen ist, wo sich normalerweise sein Spielzimmer befindet („where his playroom should be, a cave of glass now appeared”). Der dargestellte Traum integriert somit die alltägliche Welt Nemos (und des zeitgenössischen Lesepublikums). Die von Nemo häufig an den Tag gelegte Rezeptionshaltung des Staunens über das Schöne und Wunderbare ist typisch für die fantastische Literatur. Auch sie verankert den Ausgangspunkt der alltäglichen Welt fest im fantastischen Geschehen.
Die Nemo betreffende Traumhandlung beginnt in der zweiten Zeile (Abb. 3) im vertrauten, alltäglichen Raum von Nemos Zuhause, das sich aber unmerklich in einen anderen, wunderbaren Ort zu verwandeln beginnt. Dieser Übergang wird über vier Panels aufgebaut. Das erste Panel ist mit dem letzten fast identisch und könnte auch der Erzählebene des Wachzustands zugeordnet werden, wenn nicht der Erzähltext unter den Panels bereits vermerken würde, dass die Handlung mitten in der Nacht ("past midnight") einsetzt, also zu einer Zeit, die außerhalb des normalen Tagesablaufs des Kindes liegt und damit dafür prädestiniert ist, aus der gewohnten Ordnung herauszufallen. Der Erstkontakt mit der wunderbaren anderen Welt wird vor allem durch den Kontrast mit der Alltagswelt als außergewöhnlich markiert. Im zweiten Panel beugt sich Nemo, der sich am Alltagsgegenstand Waschbecken festhält, neugierig in Richtung der Glashöhle, die plötzlich dort erschienen ist, wo sich normalerweise sein Spielzimmer befindet („where his playroom should be, a cave of glass now appeared”). Der dargestellte Traum integriert somit die alltägliche Welt Nemos (und des zeitgenössischen Lesepublikums). Die von Nemo häufig an den Tag gelegte Rezeptionshaltung des Staunens über das Schöne und Wunderbare ist typisch für die fantastische Literatur. Auch sie verankert den Ausgangspunkt der alltäglichen Welt fest im fantastischen Geschehen.


[[Datei:Nemo_Abb._3.jpg|none|frame|Abb. 3]]
[[Datei:Nemo_Abb._3.jpg|thumb|right|871x198px|'''Abb. 3''' "Little Nemo in Slumberland" vom 15.11.1905 (Ausschnitt).]]


Von der Alltagswelt ist im dritten Panel nur noch ein Teil des Vorhangs zu sehen, der den Übergang zur wunderbaren Welt markiert. Auch das Glas, das Nemo eben noch in der Hand hielt, ist verschwunden. Das Wunderbare und Außergewöhnliche wird nun auch in direkter Rede hervorgehoben, obwohl der Erzähltext behauptet, Nemo sei sprachlos vor Staunen: "Well, I never saw this before in our house. Isn’t it pretty?" Die Schönheit der fremden Welt ("marvelous beauty") stellt einen ersten 'Verführungs'-Faktor dar, der Nemo dazu veranlasst, seine Welt zu verlassen und die Stufen zur Glashöhle zu betreten, deren Gesetze deutlich von denen der Wachwelt abweichen (Engel 2003, S. 154): Auch die Bewohner der Höhle sind aus Glas; ihre Königin Chrystalette, die Nemo nach Schlummerland eskortieren soll, ist besonders zerbrechlich. Das Figurenpersonal des Traums wird also nicht nur durch Namen und Sprache, sondern auch in seiner Körperlichkeit als 'anders' gekennzeichnet (Engel 2016, 21). So ist einer der Gefolgsleute der Königin so groß, dass er nur gebückt in das Panel passt; die bereits in der Exposition sichtbaren Wächter hingegen haben überproportional große Köpfe auf kugeligen Körpern und sehen alle gleich aus. Dennoch werden diese Besonderheiten der Traumwelt nicht mehr als erstaunlich kommentiert: Es scheint ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt zu haben, der mit dem visuellen Ausblenden der Alltagswelt einhergeht.
Von der Alltagswelt ist im dritten Panel nur noch ein Teil des Vorhangs zu sehen, der den Übergang zur wunderbaren Welt markiert. Auch das Glas, das Nemo eben noch in der Hand hielt, ist verschwunden. Das Wunderbare und Außergewöhnliche wird nun auch in direkter Rede hervorgehoben, obwohl der Erzähltext behauptet, Nemo sei sprachlos vor Staunen: "Well, I never saw this before in our house. Isn’t it pretty?" Die Schönheit der fremden Welt ("marvelous beauty") stellt einen ersten 'Verführungs'-Faktor dar, der Nemo dazu veranlasst, seine Welt zu verlassen und die Stufen zur Glashöhle zu betreten, deren Gesetze deutlich von denen der Wachwelt abweichen (Engel 2003, S. 154): Auch die Bewohner der Höhle sind aus Glas; ihre Königin Chrystalette, die Nemo nach Schlummerland eskortieren soll, ist besonders zerbrechlich. Das Figurenpersonal des Traums wird also nicht nur durch Namen und Sprache, sondern auch in seiner Körperlichkeit als 'anders' gekennzeichnet (Engel 2016, 21). So ist einer der Gefolgsleute der Königin so groß, dass er nur gebückt in das Panel passt; die bereits in der Exposition sichtbaren Wächter hingegen haben überproportional große Köpfe auf kugeligen Körpern und sehen alle gleich aus. Dennoch werden diese Besonderheiten der Traumwelt nicht mehr als erstaunlich kommentiert: Es scheint ein Prozess der Gewöhnung eingesetzt zu haben, der mit dem visuellen Ausblenden der Alltagswelt einhergeht.