"La Boutique obscure" (Georges Perec): Unterschied zwischen den Versionen
"La Boutique obscure" (Georges Perec) (Quelltext anzeigen)
Version vom 15. April 2019, 17:21 Uhr
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Die Texte sind zwischen Mai 1968 und August 1972 entstanden. Lässt sich für eine erste Entstehungsphase ein psychologisches Interesse des Autors belegen – im Mai 1971 begann er eine Therapie bei dem renommierten Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis und legte im Zuge der Sitzungen einige der Traumprotokolle vor – dominiert im Laufe der Zeit eine ästhetische Perspektive auf den Traum. Im Vorwort beschreibt Perec die Textgenese als eine zumindest teilweise bewusst ablaufende Entwicklung: | Die Texte sind zwischen Mai 1968 und August 1972 entstanden. Lässt sich für eine erste Entstehungsphase ein psychologisches Interesse des Autors belegen – im Mai 1971 begann er eine Therapie bei dem renommierten Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis und legte im Zuge der Sitzungen einige der Traumprotokolle vor – dominiert im Laufe der Zeit eine ästhetische Perspektive auf den Traum. Im Vorwort beschreibt Perec die Textgenese als eine zumindest teilweise bewusst ablaufende Entwicklung: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Je croyais noter les rêves que je faisais: je me suis rendu compte que, très vite, je ne rêvais déjà plus que pour écrire mes rêves. De ces rêves trop rêvés, trop relus, trop écrits, que pouvais-je désormais attendre, sinon de les faire devenir textes, gerbe de textes déposée en offrande aux portales de cette ‚voie royale‘ qu’il me reste à parcourir – les yeux ouverts? (BO, Vorwort) | : <span style="color: #7b879e;">Je croyais noter les rêves que je faisais: je me suis rendu compte que, très vite, je ne rêvais déjà plus que pour écrire mes rêves. De ces rêves trop rêvés, trop relus, trop écrits, que pouvais-je désormais attendre, sinon de les faire devenir textes, gerbe de textes déposée en offrande aux portales de cette ‚voie royale‘ qu’il me reste à parcourir – les yeux ouverts? (BO, Vorwort) </span> | ||
: <span style="color: #7b879e;">( | : <span style="color: #7b879e;"><span style="color: #7b879e;">(Ich glaubte die Träume, die ich machte, zu notieren: Sehr schnell wurde mir klar, dass ich längst schon nur noch träumte, um von meinen Träumen zu schreiben. Was konnte ich mit diesen zu sehr geträumten, zu oft wieder gelesenen, zu sehr geschriebenen Träumen jetzt noch anderes anfangen als Texte aus ihnen zu machen, ein Textgebinde, eine Opfergabe, niedergelegt an der Pforte zu jenem ‚Königsweg‘, den ich noch zu durchlaufen habe, und dies offenen Auges?)</span></span> | ||
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Perec selbst bezeichnete ''La Boutique obscure'' in einem Interview als einen seiner autobiographischen Texte, denen innerhalb seines Werkes ein großer Stellenwert zukommt. Autobiographie versteht er allerdings nicht als mimetische Darstellung einer Summe von Erlebnissen durch Sprache: | Perec selbst bezeichnete ''La Boutique obscure'' in einem Interview als einen seiner autobiographischen Texte, denen innerhalb seines Werkes ein großer Stellenwert zukommt. Autobiographie versteht er allerdings nicht als mimetische Darstellung einer Summe von Erlebnissen durch Sprache: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Je pense que la somme de mes livres pourra fonctionner aussi comme autobiographie. Seulement, l’autobiographie, ce n’est pas seulement raconter les événements qui sont arrivés dans la vie de quelqu’un. (EeC II, 64) | : <span style="color: #7b879e;">Je pense que la somme de mes livres pourra fonctionner aussi comme autobiographie. Seulement, l’autobiographie, ce n’est pas seulement raconter les événements qui sont arrivés dans la vie de quelqu’un. (EeC II, 64)</span> | ||
: <span style="color: #7b879e;">( | : <span style="color: #7b879e;">(Ich denke, dass die Summe meiner Bücher auch als Autobiographie funktionieren wird. Nur bedeutet Autobiographie eben nicht ausschließlich, von den Ereignissen zu erzählen, die im Leben eines Menschen passiert sind.[Übers. durch die Autorin])</span> | ||
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Im Vorwort führt Perec vorab einige orthographische Spielregeln der Lektüre auf. Doppelte Spiegelstriche zeigen absichtliche Auslassungen im Text an, also gewissermaßen zensierte Traumpassagen. Traumnotat Nr. 96 („La fenêtre“) macht deutlich, dass es sich hierbei jedoch nicht nur um ein Werkzeug zum Schutz der Privatsphäre handelt: Unter dem Titel steht an dieser Stelle nur der doppelte Spiegelstrich. Der im Nachlass erhaltene Text thematisiert die Trennung von der Geliebten Suzanne Lipinska. Durch die markierte Auslassung tritt der ludische Charakter der Traumnotate zu Tage, die zum Spiel zwischen Autor und Leser werden, indem Hinweise zugleich gegeben und codiert werden. Die gesetzte Leerstelle wirft ein Licht auf das dialektische Verhältnis zwischen einer dem autobiographischen Schreiben und auch dem Traum inhärenten Selbstpreisgabe auf der einen, sowie einer Zensur persönlicher Inhalte auf der anderen Seite. Marie Bonnot interpretiert „La fenêtre“ als ''clinamen'', als kalkulierten Fehler im System der ''contrainte'', der die Ästhetik der ''Boutique obscure'' entscheidend prägt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen besteht die ''contrainte'' des Traumnotats in der Selbstoffenbarung, die jedoch durch die markierte Zensur unterminiert wird – Nr. 96 wird zugleich preisgegeben und verschwiegen. Diese Dialektik ist Teil einer Perecschen Traumästhetik und wird in der ''Boutique obscure'' immer wieder durch markierte Leerstellen sichtbar gemacht.<br />Der Mechanismus ist auch in der später erschienenen autobiographischen Schrift ''W ou le Souvenir d’enfance'' (1975) zu finden, die sich mit der Aufarbeitung von Perecs Kindheit und speziell der Ermordung seiner Mutter im Konzentrationslager befasst. In der Mitte des Buches symbolisiert eine fast leere Seite, auf der lediglich drei Punkte in Klammern zu sehen sind, das Verschwinden der Mutter. Stellt man den Bezug zwischen beiden Texten her, ist das 96. Traumnotat als doppelte Leerstelle lesbar, die zwei Verlusterfahrungen (der Geliebten und der Mutter) übereinander blendet. Damit sind zwei thematische Schwerpunkte der ''Boutique obscure'' genannt, die immer wieder auftauchen und die gereihten Traumnotate verbinden: Trennung auf der einen und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust auf der anderen Seite.<br />Innerhalb des Bandes gibt es einen ganzen Motivkreis, der sich in Bezug zur NS-Zeit setzen lässt. So spielt sich etwa das erste Traumnotat („La taille“/„Die Messung“) in einem Konzentrationslager ab, das in einer reflexiven Passage als „Metapher“ und „Bild“ bezeichnet wird, welches die Imagination des Träumers beherrscht und damit sein Innenleben, seine Psyche. Ein Entkommen ist nicht möglich: Das Traum-Ich ist dem Folterknecht, der mit seiner Gleichgültigkeit dem Opfer gegenüber die Schrecken des Konzentrationslagers verkörpert, ebenso ausgeliefert wie dem Traum: | Im Vorwort führt Perec vorab einige orthographische Spielregeln der Lektüre auf. Doppelte Spiegelstriche zeigen absichtliche Auslassungen im Text an, also gewissermaßen zensierte Traumpassagen. Traumnotat Nr. 96 („La fenêtre“) macht deutlich, dass es sich hierbei jedoch nicht nur um ein Werkzeug zum Schutz der Privatsphäre handelt: Unter dem Titel steht an dieser Stelle nur der doppelte Spiegelstrich. Der im Nachlass erhaltene Text thematisiert die Trennung von der Geliebten Suzanne Lipinska. Durch die markierte Auslassung tritt der ludische Charakter der Traumnotate zu Tage, die zum Spiel zwischen Autor und Leser werden, indem Hinweise zugleich gegeben und codiert werden. Die gesetzte Leerstelle wirft ein Licht auf das dialektische Verhältnis zwischen einer dem autobiographischen Schreiben und auch dem Traum inhärenten Selbstpreisgabe auf der einen, sowie einer Zensur persönlicher Inhalte auf der anderen Seite. Marie Bonnot interpretiert „La fenêtre“ als ''clinamen'', als kalkulierten Fehler im System der ''contrainte'', der die Ästhetik der ''Boutique obscure'' entscheidend prägt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen besteht die ''contrainte'' des Traumnotats in der Selbstoffenbarung, die jedoch durch die markierte Zensur unterminiert wird – Nr. 96 wird zugleich preisgegeben und verschwiegen. Diese Dialektik ist Teil einer Perecschen Traumästhetik und wird in der ''Boutique obscure'' immer wieder durch markierte Leerstellen sichtbar gemacht.<br />Der Mechanismus ist auch in der später erschienenen autobiographischen Schrift ''W ou le Souvenir d’enfance'' (1975) zu finden, die sich mit der Aufarbeitung von Perecs Kindheit und speziell der Ermordung seiner Mutter im Konzentrationslager befasst. In der Mitte des Buches symbolisiert eine fast leere Seite, auf der lediglich drei Punkte in Klammern zu sehen sind, das Verschwinden der Mutter. Stellt man den Bezug zwischen beiden Texten her, ist das 96. Traumnotat als doppelte Leerstelle lesbar, die zwei Verlusterfahrungen (der Geliebten und der Mutter) übereinander blendet. Damit sind zwei thematische Schwerpunkte der ''Boutique obscure'' genannt, die immer wieder auftauchen und die gereihten Traumnotate verbinden: Trennung auf der einen und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust auf der anderen Seite.<br />Innerhalb des Bandes gibt es einen ganzen Motivkreis, der sich in Bezug zur NS-Zeit setzen lässt. So spielt sich etwa das erste Traumnotat („La taille“/„Die Messung“) in einem Konzentrationslager ab, das in einer reflexiven Passage als „Metapher“ und „Bild“ bezeichnet wird, welches die Imagination des Träumers beherrscht und damit sein Innenleben, seine Psyche. Ein Entkommen ist nicht möglich: Das Traum-Ich ist dem Folterknecht, der mit seiner Gleichgültigkeit dem Opfer gegenüber die Schrecken des Konzentrationslagers verkörpert, ebenso ausgeliefert wie dem Traum: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Ce qui me sauve, c’est seulement l’indifférence du tortionnaire, sa liberté de faire ou de ne pas faire; je suis entièrement soumis à son arbitraire (exactement de la même façon que je suis soumis à ce rêve: je sais que ce n’est qu’un rêve, mais je ne peux échapper à ce rêve). (BO 1) | : <span style="color: #7b879e;">Ce qui me sauve, c’est seulement l’indifférence du tortionnaire, sa liberté de faire ou de ne pas faire; je suis entièrement soumis à son arbitraire (exactement de la même façon que je suis soumis à ce rêve: je sais que ce n’est qu’un rêve, mais je ne peux échapper à ce rêve). (BO 1)</span> | ||
: <span style="color: #7b879e;">( | : <span style="color: #7b879e;"><span style="color: #7b879e;">(Was mich rettet, ist lediglich die Gleichgültigkeit des Folterers, seine Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen; ich bin ganz seiner Willkür ausgeliefert (ganz genauso, wie ich diesem Traum ausgeliefert bin: Ich weiß, dass es nur ein Traum ist, aber ich kann diesem Traum nicht entrinnen</span></span><span style="color: #7b879e;">.)</span> | ||
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Das Traumlager zeichnet sich vor allem durch eine Willkür aus, der gegenüber der Träumer hilflos ist. Er ist in einem nie endenden Lagertraum gefangen, dessen Handlung er nicht beeinflussen kann. Dieser Eindruck wird durch das letzte Traumnotat verstärkt. In Nummer 124 („La dénonciation“/„Die Denunziation“) wird der Vater des Träumers durch die SS verhaftet und gemeinsam mit ihm deportiert. Der Vater versucht, eine alte Verletzung wieder aufzubrechen, um aussortiert zu werden. Sein Bestreben, selbst Kontrolle über das Geschehen zu gewinnen, ist jedoch zum Scheitern verurteilt aufgrund der Gleichgültigkeit der anderen. Der Kommentar des Traum-Ichs ist ernüchternd: | Das Traumlager zeichnet sich vor allem durch eine Willkür aus, der gegenüber der Träumer hilflos ist. Er ist in einem nie endenden Lagertraum gefangen, dessen Handlung er nicht beeinflussen kann. Dieser Eindruck wird durch das letzte Traumnotat verstärkt. In Nummer 124 („La dénonciation“/„Die Denunziation“) wird der Vater des Träumers durch die SS verhaftet und gemeinsam mit ihm deportiert. Der Vater versucht, eine alte Verletzung wieder aufzubrechen, um aussortiert zu werden. Sein Bestreben, selbst Kontrolle über das Geschehen zu gewinnen, ist jedoch zum Scheitern verurteilt aufgrund der Gleichgültigkeit der anderen. Der Kommentar des Traum-Ichs ist ernüchternd: | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Je sais ce qui nous attend. Je n’ai pas d’espoir. En finir au plus tôt. Ou alors, un miracle… Un jour, apprendre à survivre? (BO 124) | : <span style="color: #7b879e;">Je sais ce qui nous attend. Je n’ai pas d’espoir. En finir au plus tôt. Ou alors, un miracle… Un jour, apprendre à survivre? (BO 124)</span> | ||
: <span style="color: #7b879e;">( | : <span style="color: #7b879e;"><span style="color: #7b879e;">(Ich weiß, was uns erwartet. Ich habe keinerlei Hoffnung. Je schneller es zu Ende ist, desto besser. Es sei denn, ein Wunder… Eines Tages überleben lernen?</span></span><span style="color: #7b879e;">)</span> | ||
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