"Oneirokritika" (Artemidor von Daldis): Unterschied zwischen den Versionen

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==Forschung==
==Forschung==
Gerade die Begründungen, die mitunter banal oder weit hergeholt erscheinen, sind für (sozial-)historische Fragestellungen ungemein wertvoll: Sie bieten nämlich reichhaltiges Material für Einsichten in antike Mentalitäten und in zentrale Bereiche des Alltagslebens, etwa in Ängste und Hoffnungen gesellschaftlicher Gruppen, zumal solcher, die in anderen Quellen nicht dergestalt fassbar sind (Laukamm 1930; Hahn 1992). Dies gilt insbesondere für die Passagen über verschiedene Formen der Sexualität (Artem. 1,78-80, dazu Foucault 41995, 7-51; Meyer-Zwiffelhoffer 1995, 166-177), die in früheren Artemidor-Übersetzungen übergangen wurden, und über die Gladiatur (2,32, dazu Harris-McCoy 2012, 485f.). Gerade in diesen Kontexten ist die moderne Forschung in den letzten Jahren erheblich weitergekommen (Perspektiven bei Weber 2017). So wurden etliche Themenbereiche neu erschlossen, etwa die Rechtstraditionen (Ménard 2015), die Tierwelt (Monbrun 2015), die Ernährung (Dalby 2014), Gottheiten und Mythen (Maffre 2012; Bilbija/Flinterman 2015, Auger 2015) und Gender-Fragen (MacAlister 1992; Walde 2014), aber auch Emotionen (Weber 2015b), Jenseitsvorstellungen (Weber 2012) sowie Gesundheit und Krankheit (Walde 2013; Weber 2019) Es ist nicht überraschend, dass das Material von Artemidor mit methodischen Zugriffsweisen aus Psychologie und Psychoanalyse zusammengebracht wurden (Price 1986/2004).
Gerade die Begründungen, die mitunter banal oder weit hergeholt erscheinen, sind für (sozial-)historische Fragestellungen ungemein wertvoll: Sie bieten nämlich reichhaltiges Material für Einsichten in antike Mentalitäten und in zentrale Bereiche des Alltagslebens, etwa in Ängste und Hoffnungen gesellschaftlicher Gruppen, zumal solcher, die in anderen Quellen nicht dergestalt fassbar sind (Laukamm 1930; Hahn 1992). Dies gilt insbesondere für die Passagen über verschiedene Formen der Sexualität (Artem. 1,78-80; dazu Foucault 1989, 7-51; Meyer-Zwiffelhoffer 1995, 166-177), die in früheren Artemidor-Übersetzungen übergangen wurden, und über die Gladiatur (2,32; dazu Harris-McCoy 2012, 485 f.). Gerade bei diesen Kontexten ist die moderne Forschung in den letzten Jahren erheblich weitergekommen (Perspektiven bei Weber 2017). So wurden etliche Themenbereiche neu erschlossen, etwa die Rechtstraditionen (Ménard 2015), die Tierwelt (Monbrun 2015), die Ernährung (Dalby 2014), Gottheiten und Mythen (Maffre 2012; Bilbija/Flinterman 2015; Auger 2015) und Gender-Fragen (MacAlister 1992; Walde 2014), aber auch Emotionen (Weber 2015b), Jenseitsvorstellungen (Weber 2012) sowie Gesundheit und Krankheit (Walde 2013; Weber 2019) Es ist nicht überraschend, dass das Material von Artemidor mit methodischen Zugriffsweisen aus Psychologie und Psychoanalyse zusammengebracht wurden (Price 1986/2004).


Allerdings ermöglichen die ''Oneirokritika'' keinen direkten Zugang zum realen Leben der antiken Zeitgenossen, da viele Deutungen ohne jeglichen Kontext gegeben werden bzw. assoziativ erscheinen. Dies gilt auch für Versuche, Träume, die etwa in historiographischen oder biographischen Quellen überliefert sind, mit Hilfe der ''Oneirokritika'' zu deuten (Weber 2000). Auch wenn ein solches Unterfangen in Einzelfällen gelingen mag und sich zumindest eine Vorstellung von möglichen Symbolfeldern erreichen lässt, kann eine Anamnese im beschriebenen und erforderlichen Sinne nicht gelingen, weil in aller Regel die für die Deutung notwendigen Informationen fehlen, ein anderer Sozialstatus vorliegt oder bestimmte Symbolkonstellationen bei Artemidor nicht vorhanden sind (Näf 2010).
Allerdings ermöglichen die ''Oneirokritika'' keinen direkten Zugang zum realen Leben der antiken Zeitgenossen, da viele Deutungen ohne jeglichen Kontext gegeben werden bzw. assoziativ erscheinen. Dies gilt auch für Versuche, Träume, die etwa in historiographischen oder biographischen Quellen überliefert sind, mit Hilfe der ''Oneirokritika'' zu deuten (Weber 2000). Auch wenn ein solches Unterfangen in Einzelfällen gelingen mag und sich zumindest eine Vorstellung von möglichen Symbolfeldern erreichen lässt, kann eine Anamnese im beschriebenen und erforderlichen Sinne nicht gelingen, weil in aller Regel die für die Deutung notwendigen Informationen fehlen, ein anderer Sozialstatus vorliegt oder bestimmte Symbolkonstellationen bei Artemidor nicht vorhanden sind (Näf 2010).


Steten Materialzuwachs lässt sich freilich bei Traumdeutungsbüchern in hieroglyphischer Schrift und vor allem demotischer Sprache feststellen. Auch wenn Artemidor derartige Texte und die verwendeten Deutemethoden nicht kannte (Prada 2015) und bei ihm Ägypten weder topographisch noch im Bereich der Religion (mit Ausnahme der Gottheiten Isis, Sarapis und Anubis) vertreten ist, macht ein Vergleich durchaus Sinn, um einerseits die jeweiligen Spezifika der Deutung und andererseits die Orts- und Zeitgebundenheit der Symbolwelt stärker zu profilieren. Dies gilt auch für die verschiedenen Traumdeutungsbücher aus byzantinischer Zeit, die weitgehend auf Begründungen für die Deutung verzichten, gegenüber Artemidor geradezu ‚unterkomplex‘ erscheinen und ihn nur bedingt rezipiert haben (Weber 2020).
Steter Materialzuwachs lässt sich bei Traumdeutungsbüchern in hieroglyphischer Schrift und vor allem demotischer Sprache feststellen. Auch wenn Artemidor derartige Texte und die verwendeten Deutungsmethoden nicht kannte (Prada 2015) und bei ihm Ägypten weder topographisch noch im Bereich der Religion (mit Ausnahme der Gottheiten Isis, Sarapis und Anubis) vertreten ist, macht ein Vergleich durchaus Sinn, um einerseits die jeweiligen Spezifika der Deutung, andererseits die Orts- und Zeitgebundenheit der Symbolwelt stärker zu profilieren. Dies gilt auch für die verschiedenen Traumdeutungsbücher aus byzantinischer Zeit, die weitgehend auf Begründungen für die Deutung verzichten, gegenüber Artemidor geradezu ‚unterkomplex‘ erscheinen und ihn nur bedingt rezipiert haben (Weber 2020).




==Leserschaft==
==Leserschaft==
Ob man sich für die ''Oneirokritika'' eine externe Leserschaft vorstellen kann und wie diese beschaffen gewesen sein könnte, wird immer wieder diskutiert, haben doch Autor und Werk in der antiken Literatur so gut wie keine Spuren hinterlassen. Hierzu lassen sich einige Indizien zusammentragen: Aus dem Duktus der ''Oneirokritika'' wird deutlich, dass Artemidor durchaus über rhetorische Strategien bei der Präsentation seines Werkes verfügte, somit auch eine entsprechende Ausbildung erhalten haben musste (Harris-McCoy 2015). Dies setzt freilich eine (gebildete) Leserschaft voraus (Bowersock 1994, 77-98), wofür die komplexe Syntax und das reiche Vokabular in Anspruch genommen werden (Bowersock 2004). Man kann aber auch von einem zweifachen ‚Publikum‘ ausgehen (Weber 1999, 222-227): Einerseits die Klienten aller Schichten, deren Träume Artemidor und sein Sohn, in dessen Ermessen die dosierte Weitergabe des Buches gestellt wurde (Artem. 4,prooem.,237,26-238,6; 5,prooem.,301,14f.), mit Hilfe des Buches konkret deuteten und die somit in mündlicher Form ausgewählte Inhalte vermittelt bekamen; andererseits Leser, die sich wiederum aus Fachleuten, ebenso interessierten, gebildeten Laien zusammensetzten. Letztere konnten sich selbst an einer Deutung versuchen und aus dem Besitz des Werkes auch Prestige beziehen. Der Sprachgebrauch und die Raumvorstellungen innerhalb des Werkes verweisen jedenfalls auf eine starke lokale Verwurzelung im westlichen Kleinasien (Bowersock 2004, 60-62; Weber 2014).
Ob man sich für die ''Oneirokritika'' eine externe Leserschaft vorstellen kann und wie diese beschaffen gewesen sein könnte, wird immer wieder diskutiert - haben doch Autor und Werk in der antiken Literatur so gut wie keine Spuren hinterlassen. Hierzu lassen sich einige Indizien zusammentragen: Aus dem Duktus der ''Oneirokritika'' wird deutlich, dass Artemidor durchaus über rhetorische Strategien bei der Präsentation seines Werkes verfügte, somit auch eine entsprechende Ausbildung erhalten haben musste (Harris-McCoy 2015). Dies setzt freilich eine (gebildete) Leserschaft voraus (Bowersock 1994, 77-98), wofür die komplexe Syntax und das reiche Vokabular in Anspruch genommen werden (Bowersock 2004). Man kann aber auch von einem zweifachen ‚Publikum‘ ausgehen (Weber 1999, 222-227): einerseits die Klienten aller Schichten, deren Träume Artemidor und sein Sohn, in dessen Ermessen die dosierte Weitergabe des Buches gestellt wurde (Artem. 4,prooem.,237,26-238,6; 5,prooem.,301,14f.), mit Hilfe des Buches konkret deuteten und die somit in mündlicher Form ausgewählte Inhalte vermittelt bekamen; andererseits Leser, die sich wiederum aus Fachleuten und interessierten, gebildeten Laien zusammensetzten. Letztere konnten sich selbst an einer Deutung versuchen und aus dem Besitz des Werkes auch Prestige beziehen. Der Sprachgebrauch und die Raumvorstellungen innerhalb des Werkes verweisen jedenfalls auf eine starke lokale Verwurzelung im westlichen Kleinasien (Bowersock 2004, 60-62; Weber 2014).


<div style="text-align: right;">[[Autoren|Gregor Weber]]</div>
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