"Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung): Unterschied zwischen den Versionen
"Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung) (Quelltext anzeigen)
Version vom 12. August 2022, 15:34 Uhr
, 12. August 2022→Initial- und Mandalaträume als zentrale Kategorien der Traumsymbole des Individuationsprozesses
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==Initial- und Mandalaträume als zentrale Kategorien der ''Traumsymbole des Individuationsprozesses''== | ==Initial- und Mandalaträume als zentrale Kategorien der ''Traumsymbole des Individuationsprozesses''== | ||
''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' ist untergliedert in die beiden Traum-Hauptkapitel der "Initialträume" (TS 66-114) und der "Mandalasymbolik" (TS 115-247). Ersteres beinhaltet 22 Träume und hypnagogische "visuelle Eindrücke" des Traum-Probanden Wolfang Paul; das Kapitel "Mandalasymbolik" enthält 59 Träume. Am Ende der Initialträume hat der Träumende einen Entwicklungsprozess durchgemacht, in dessen Zuge er in einen Zustand des inneren Konflikts zwischen Bewusstem und Unbewusstem gelangt ist. Diese Träume verkörpern damit vorrangig einen Traumtypus, welcher Irritationsmomente im erwachten Träumer erzeugt und ihn zur Reflexion über seine Existenz beziehungsweise das Verhältnis von Unbewusstem und Bewussten anregt. Am Ende des Mandalasymbolik-Kapitels löst sich der mentale Konflikt des Träumenden im Archetypus des "Mandalamotivs" auf, wobei letzteres bereits im Laufe der Traumserie zunehmend an Konturen gewinnt. Mit dem Sichtbarwerden des Mandala-Archetypus schreitet somit der Prozess der ganzheitlichen Selbstwerdung – bildlich gesprochen: aus sich selbst heraus – voran (TS 245-247). | |||
===Jungs Analysen der "Initialträume"=== | ===Jungs Analysen der "Initialträume"=== | ||
Bereits in der Deutung des ersten Initialtraums wird die Art von Jungs Traumdeutung versinnbildlicht: | Bereits in der Deutung des ersten Initialtraums wird die Art von Jungs Traumdeutung versinnbildlicht: "1. TRAUM: Der Träumer ist in einer Gesellschaft, wo er sich beim Abschied statt des seinigen einen fremden Hut aufsetzt" (TS 66). Aus dem Traumnotat folgert Jung eine bildsymbolische Nähe zum "Hut des Athanasius" in Gustav Meyrinks fantastischem Roman ''Der Golem'' (1913/14) sowie, aufgrund der geometrischen Kreisform des Huts, zugleich eine Nähe zum "Sonnenkreis der Krone" (TS 66). Jung wertet den fremden Hut im Traum am Ende seiner Interpretation sogar als einen ersten Indikator für eine Mandalastruktur des Unbewussten im Traum. Er bedient sich vorrangig einer Assoziationstechnik, die einzelne Traumelemente auf mögliche intertextuelle beziehungsweise intermediale Quellen oder Bezugspunkte zurückführt, die ihrerseits potenziell als Tagesreste oder in Form von archetypischen Grundmustern auf das Traumleben des Traumprobanden eingewirkt haben könnten. Dabei tritt nicht nur die "Fremdheit" in unterschiedlichen Kostümen beziehungsweise Figurationen in den einzelnen Traumnotaten zutage, sondern auch Transformations- oder Transzendenzsymbole schlagen sich in gehäufter Form darin nieder. | ||
Beispielhaft für den Transformationsprozess kann unter anderem die immer wieder auftauchende "unbekannte [und meist verhüllte] Frau" angeführt werden, die das Traum-Ich heimsucht (vgl. u.a. die Initialträume 4, 6, 7, 10 und 20) und erst allmählich ihr Gesicht entschleiert, wodurch schlussendlich der sich vollziehende Individuationsprozess des Träumenden manifest wird. Einen sich erst ankündigenden Transformationsprozess indiziert hingegen der dritte Initialtraum, als "das Meer bricht, alles überflutend, ins Land hinein. Dann sitzt er [das Traum-Ich] auf einsamer Insel" (TS 68). | |||
Im letzten Initialtraum findet sich der Träumende, nachdem er im 21. und vorletzten Initialtraum ins von Nymphen gesäumte Reich des Unbewussten vorgedrungen war, in einem Urwald wieder | Auch Transzendenzerfahrungen treten in verschiedenen ästhetischen Formen in Erscheinung: So verkündet "eine Stimme" dem Traum-Ich im vierten Initialtraum, dass letzteres "erst weg vom Vater" (TS 69) müsse. Jung wertet diese Verkündung als notwendiges Ausscheren des Individuum aus der "traditionellen männlichen Welt mit ihrem Intellektualismus und Rationalismus" (ebd.). Ohne ein solches Ausscheren sei ein Ausgleich zwischen Unbewusstem und Bewusstem und damit auch die Selbstwerdung nicht möglich. Auch die "chimärische Regenbogenbrücke" (TS 80) des achten Traums, unter der man hindurchgehen muss, um dem Tod zu entrinnen, deutet Jung durch einen bildlichen Vergleich. Diesen findet er durch die Verknüpfung von Traumsymbolen des achten Traums mit solchen aus dem zehnten Traumnotat: "10. VISUELLER EINDRUCK: Im Schafland steht die unbekannte Frau und weist den Weg" (TS 79). Jung zieht aus dieser bildlichen Verknüpfung die Schlussfolgerung, dass alles, was den ursprünglichen Seelensphären entstammt, sich symbolisch notwendigerweise doppelgesichtig beziehungsweise ambivalent präsentieren würde, weil das Bewusstsein sich wie ein Bergsteiger voran bewege: Von einem Gipfel zum nächsten gelange der Wanderer nicht, indem er sich in die Lüfte erhebe und die Distanz schwebend überbrücke, sondern indem er vom ersten Gipfel ins Tal [des Unbewussten] hinabwandere, ehe er mühsam den nächsten Gipfel erklimmen könne. | ||
Mit dem Eingreifen des Intellekts durch den Spitzbart leitet Jung zum zweiten Teil seiner Untersuchung über, dem Kapitel "Mandalasymbolik", welches sich der Analyse der "Symbole des Selbst" widmet ( | |||
Im letzten Initialtraum findet sich der Träumende, nachdem er im 21. (und vorletzten) Initialtraum ins von Nymphen gesäumte Reich des Unbewussten vorgedrungen war, in einem Urwald wieder: | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | |||
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: <span style="color: #7b879e;">22. VISUELLER EINDRUCK: Im Urwald. Ein Elefant ist etwas bedrohlich. Dann ein großer Menschenaffe oder Bär oder Höhlenmensch mit Keule, der den Träumer anzufallen droht. [...] Plötzlich ist der «Spitzbart» da und fixiert den Angreifer so, daß dieser davon gebannt wird. Der Träumer ist aber in großer Angst. Die Stimme sagt: muß alles vom Licht regiert werden (TS 112).</span> | |||
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Jung wertet den sich anbahnenden Konflikt, der in den Mandalaträumen weiter ausgeführt wird, als Spannungsverhältnis zwischen dem aus der Sozialisierung stammenden Intellekt, den er im spitzbärtigen Traum-Teufel personifiziert sieht, und dem Unbewussten, wobei er diesen inneren Konflikt mit den "Arbeiten des Herakles" mythologisierend vergleicht (ebd., 114). Mit dem Eingreifen des Intellekts durch den Spitzbart leitet Jung zum zweiten Teil seiner Untersuchung über, dem Kapitel "Mandalasymbolik", welches sich der Analyse der "Symbole des Selbst" widmet (TS 113). | |||
===Jungs Traumdeutungen im Rahmen der "Mandalasymbolik"=== | ===Jungs Traumdeutungen im Rahmen der "Mandalasymbolik"=== | ||
Für die Nutzung des Terminus "Mandala" entscheidet sich Jung nicht zuletzt auch deshalb, um der hervorstechenden Häufung von geometrischen Formen – meist handelt es sich um Variationen von Kreis- oder Quadratformen – in den Träumen seines naturwissenschaftlichen Traumprobanden gerecht werden zu können. Dessen Individuationsprozess soll aber darüber hinaus auch mit einer Ästhetik des rituellen oder magischen Kreises, welcher besonders im Lamaismus als Kontemplationsinstrument gebraucht wird, in Verbindung gebracht werden ( | Für die Nutzung des Terminus "Mandala" entscheidet sich Jung nicht zuletzt auch deshalb, um der hervorstechenden Häufung von geometrischen Formen – meist handelt es sich um Variationen von Kreis- oder Quadratformen – in den Träumen seines naturwissenschaftlichen Traumprobanden gerecht werden zu können. Dessen Individuationsprozess soll aber darüber hinaus auch mit einer Ästhetik des rituellen oder magischen Kreises, welcher besonders im Lamaismus als Kontemplationsinstrument gebraucht wird, in Verbindung gebracht werden (TS 115). Insbesondere die Tatsache, dass östliche Mandalas traditionell festgelegte Gebilde sind, die nicht nur gezeichnet oder gemalt, sondern auch körperhaft geformt werden, macht sie aus Jungs Sicht geeignet für die Beschreibung von zunächst bizarr anmutenden Träumen. Durch den "lamaistischen Rimpotche [tibetischer Ehrentitel] Lingdam Gomchen" erfuhr Jung zudem, dass Mandalas im Lamaismus den Stellenwert eines geistigen Bildes (''imago mentalis'') beigemessen bekämen, welches nur mittels der Expertise und Kraft der Imagination eines unterrichteten Lama (re-)konstruiert werden könne (TS 115). Auch sei kein Mandala wie das andere; vielmehr zeichne sich jedes Mandala durch seine hochgradige Individualität aus. Deshalb hätten zum Beispiel die Mandalas, die man in Klöstern und Tempeln sehe, keine besondere Bedeutung, da es nur äußere Darstellungen seien und diese nicht in die Kategorie der ''imagines mentalis'' fielen. | ||
Diesem Exkurs über "äußere" Darstellungen fügte Jung seine eigene Überlegung an, wonach die Struktur vieler der bedeutsameren lamaistischen Mandalas ''quaternarischen Systemen'' entspräche (in der Quadratur des Kreises in Mandalas sah Jung eine Art von Verschränkung von zwei komplementären - geraden und kreisförmigen - Geometrieelementen verwirklicht), welche ihren Ursprung eindeutig in Träumen gehabt haben müssten: | Diesem Exkurs über "äußere" Darstellungen fügte Jung seine eigene Überlegung an, wonach die Struktur vieler der bedeutsameren lamaistischen Mandalas ''quaternarischen Systemen'' entspräche (in der Quadratur des Kreises in Mandalas sah Jung eine Art von Verschränkung von zwei komplementären - geraden und kreisförmigen - Geometrieelementen verwirklicht), welche ihren Ursprung eindeutig in Träumen gehabt haben müssten: | ||
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: <span style="color: #7b879e;"> | : <span style="color: #7b879e;">Es steht für mich außer Frage, daß im Osten diese Symbole ursprünglich aus Träumen und Visionen entstanden und nicht von irgendeinem Mahayana-Kirchenvater erfunden wurden. Sie gehören im Gegenteil zu den ältesten religiösen Symbolen der Menschheit […] und sind vielleicht schon im Paläolithikum anzutreffen (TS 121 f.).</span> | ||
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Jungs alchemistisches Kernanliegen an der Rekonstruktion der mandalaartigen Symbole des ''Selbst'' lässt sich somit dahingehend konkretisieren, dass er seine Patienten "auf den richtigen Punkt" (TS 123) hinzuführen versuchte, den er bei den meisten Menschen als sträflich vernachlässigt ansah. Der historisch dominanten Traditionslinie der Religionen, welche die menschliche Seele meist als "Gefäß aller Bosheit" (ebd.) ansähen, setzte Jung dabei ein Verständnis entgegen nach dem der Mensch eine wertvolle Seele habe, um die er sich kümmern sollte, weil gerade aus dieser Beschäftigung etwas Gutes erwachsen könne. Aus den Traumnotaten selbst leitete Jung diese dem Menschen innenwohnende Triebfeder nach Selbsterkenntnis induktiv her, wie etwa am siebten Traums des Mandalakapitels veranschaulicht werden kann. Darin wird das Traum-Ich mit einem Vorwurf durch die ''Anima'' konfrontiert, die auf ihre Uhr zeigt, auf der es "fünf vor … (?)" ist, und bemängelt, dass er sich bisher zu wenig um sie gesorgt habe (TS 128 f.). | |||
Dementsprechend geht es unter anderem in den Träumen 8, 11, 12 und 16 um das Streben des Traum-Ichs nach Symmetrie, wobei dessen Scheitern mit existenzieller Gefahr in Verbindung gebracht wird, wohingegen sich mit dem Erlangen von Symmetrie ein Weg in die Tiefen des Archaischen und Unbewussten zu eröffnen scheint. Bildlich wird dieses Ringen im Traum zunächst einmal durch ein neues Navigationsinstrument auf einem Schiff dargestellt, das aus einer Karte mit einem Kreis mit eingezeichnetem Mittelpunkt besteht (TS 128). Im nächsten Traumbeispiel befindet sich der Träumende hingegen zusammen mit einem Arzt, einem Pilot und der unbekannten Frau in einem Flugzeug, das abstürzt, nachdem dessen Spiegel, der als Navigationsinstrument im Traum fungiert, durch eine Krocketkugel getroffen und zerstört wird (TS 134). Im unmittelbar daran anknüpfenden zwölften Traum befinden sich der Träumer sowie dessen Vater, Mutter und Schwester "in sehr gefährlicher Lage auf einer Tramplattform" (TS 138). | |||
Jung weist in der Interpretation der beiden zuletzt angeführten Träume darauf hin, dass die jeweilige Figuren-Vierheit auf ein unbewusstes Streben nach Ganzheit hindeute (TS 140). Außerdem folgert er aus den jeweiligen Fortbewegungsmitteln im Traum, wie das Traum-Ich aktuell seelisch lebe, das heißt ob es individuell oder kollektiv ausgerichtet sei. Das vom [fremden] Piloten geführte, exklusive Flugzeug assoziiert Jung mit Individualismus und "Intuitionen unbewußter Herkunft" (TS 140), die Tram hingegen als Kollektivvehikel, das jedermann offenstehe; daher deutet dieses Traumsymbol darauf hind, dass sich die Anima danach sehne, sich wie jedermann zu verhalten. | |||
Im sechzehnten Traum schließlich sieht der Träumende eine größere Menschenansammlung: | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | |||
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: <span style="color: #7b879e;">16. TRAUM: Es sind viele Leute da. Alle gehen linksläufig im Quadrat herum. Der Träumer ist nicht in der Mitte, sondern auf einer Seite. Es heißt, man wolle den Gibbon rekonstruieren (TS 150).</span> | |||
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Die Linksläufigkeit der Bewegung setzt Jung mit dem Vorantasten ins Unbewusste gleich, wohingegen er rechtsläufige Bewegungen als solche charakterisiert, die in Richtung des Bewusstseins zielten. Mit der kultischen Formung des Quadrats assoziiert er einerseits die lamaistische Idee des Tempels, wobei nach buddhistischer Lehre diese Stupas stets rechtsläufig "zirkumambuliert werden" (TS 153) müssten, um zu (Selbst-) Erkenntnissen zu gelangen. Andererseits rekurriere das Quadrat auf das dionysische Mysterium und damit auf das Temenos, wo klassischerweise Theater – in diesem Fall also bizarrerweise Affentheater – gespielt würde (TS 154). Aus alchemistischer Sicht trete zu diesen Dechiffrierungen der Traumsymbole noch eine weitere Möglichkeitsperspektive hinzu, gemäß der mit dem Rekonstruktionsversuch des Affen das Wirken des Mercurialwassers (chemisch betrachtet das Element Quecksilber) gemeint sein könne, das in der Alchemie traditionell als Wandlungssubstanz schlechthin angesehen und deshalb auch mit dem Terminus ''argentum vivum'' bezeichnet worden sei (TS 158). In dieser Eigenschaft der Wandlungssubstanz wiederum macht Jung eine Kontinuitätslinie ausfindig, die von Mercurius über den "vierteiligen gnostischen Urmenschen" bis hin zum "Pantokrator Christus" reiche. Ihre gemeinsame Eigenschaft verortet Jung dabei in ästhetisch ähnlichen Überlieferungen, die er als "imagines lapidis" bezeichnet. Das diabolische Symbol des Hundsaffen selbst ließe sich vor diesem Hintergrund als Teilelement einer Traumlogik fruchtbar machen, die mit diesen "Steinbildern" interagiere (TS 160-162). Jung deutet die Linksläufigkeit der Quadratformung der Traumgemeinde als Indiz für den Versuch der Seele, "die Abtrennung des Bewußtseins vom Unbewußten, welches die eigentliche Lebensquelle ist, aufzuheben und eine Wiedervereinigung des Individuums mit dem Mutterboden der vererbten, instinktiven Disposition herbeizuführen" (TS 162). Diese Geistesbewegung der Seele im Traum sei aber nicht als einseitig rückwärtsgerichtete Bewegung anzusehen, weil den archetypischen Traumsymbolen zusätzlich auch vorwärtsdrängende, antizipatorische Komponenten der Intuition innewohnen könnten (TS 165). | |||
Insbesondere das 17. Traumnotat des Mandalakapitels springt aus rezeptionsästhetischer Perspektive ins Auge, erscheint es doch als eines von wenigen Notaten in ungekürzter Form. In diesem Traum wähnt sich der Träumende in einer Szenerie, die diesen an etwas "Bühnenhaftes, Theaterhaftes" (TS 165) erinnert. Über der Kulisse habe – so das Notat – ein zweisprachiger Text gestanden, auf dem stand, dass dies "die allgemeine katholische Kirche […] des Herrn" sei, in die alle eintreten sollten, die sich dazu berufen fühlten. Die weitere Beschreibung des Traums mutet bizarr an: An einer Wand prangt ein durch den Papst unterzeichneter Aufruf an alle "Soldaten", die ihren Herrn nicht ansprechen sollten, da "das Wertvolle und Wichtige" unsagbar sei (TS 166). Dazu scheinbar unpassend erinnert die Innenarchitektur den erwachten Träumer an eine der Hagia Sophia ähnelnde Moschee. Die Kirchenmitglieder, die sich in der Kirche versammelt haben, beginnen, nachdem der Chor eine Bach'sche Fuge gesungen hat, mit dem "gemütlichen Teil der Sitzung", in deren Verlauf zunächst "Wein und Erfrischungen" konsumiert werden, dann freudig über den Zuwachs an "Vereinsmitgliedern" gesprochen wird und zuletzt – wie "bei einem Massenbetrieb" – in ausgelassener Stimmung - per Lautsprecher verstärkten - Schlagerliedern gelauscht wird, ehe der Träumende erleichtert aufwacht (TS 166-168). Das Traum-Ich fühlt sich trotz seiner Anwesenheit in der Kirche von der Traumgemeinde der Gläubigen ausgeschlossen. Über das Ende des Traums notiert der Traumproband schließlich noch, dass ein Priester erklärt habe, die Gemeinde müsse sich in ihrem kirchlichen Massenbetrieb den "amerikanischen Methoden etwas anpassen", dem gegenüber sich die Traumkirchengemeinde bislang als deutlich "antiasketischer" präsentiert hatte (TS 167 f.). | |||
Jung ordnet die Traumhandlung aufgrund des Traumortes als kultische Handlung ein, die zugleich aber mit grotesk-komischen Elementen gespickt sei; diese verortet er vor allem im Schlussteil des Traums, als sich das Dionysos-Mysterium "im gemütlichen Teil der Handlung" (TS 170) ereignet. Die Hagia Sophia als synkretistisches Gebäude versinnbildliche das Ziel des Traums, christliche und dionysische religiöse Ideen zusammenzuführen, wobei die Richtung der Traumhandlung umgekehrt zum historischen Prozess in Richtung des dionysischen Heiligtums, dem Askese fremd ist, verlaufe (TS 170 f.). Amerika verkörpere als Traumsymbol ein utopisch überhöhtes Land "der vernünftigen Ideen des praktischen Intellekts" und entspräche damit implizit auch der modernen Definition von "Geist". Durch den Einzug des Dionysischen in die Kirche verliere letztere ihren sakralen Charakter, wodurch ein "systematischer Abstieg 'ad infernos'" (ebd.) möglich gemacht werde. In diesem dionysischen Moment macht Jung eben jene Emotionalität beziehungsweise Affektivität des Menschen aus, die der katholischen Kirche im Verlaufe des Mittelalters abhandengekommen sei. Der Kirche sei deshalb nunmehr lediglich "Trauer, Ernst, Strenge, und wohlabgemessene geistliche Freude" (ebd.) verblieben. Jung betont an dieser Stelle aber auch, dass das Unbewusste keineswegs aktiv blasphemische Absichten hege, sondern vielmehr in Anlehnung an Nietzsche das verloren gegangene Dionysos-Element in die religiöse Welt des modernen Menschen zu reintegrieren versucht (ebd.). | |||
Jung ordnet die Traumhandlung aufgrund des Traumortes als kultische Handlung ein, die zugleich aber mit grotesk-komischen Elementen gespickt sei | |||
Der weitere Verlauf des Mandalakapitels weist eine Vielzahl von weiteren Traumsymbolen auf, die Jung als Beispiele für den voranschreitenden Individuationsprozesses wertet. Diese progressive Entwicklung wird in den Träumen einerseits durch das zunehmend vermehrte Auftauchen von geometrischen Objekten wie Kreisen, Quadraten, Oktaedern und Kugeln begleitet (u.a. | Der weitere Verlauf des Mandalakapitels weist eine Vielzahl von weiteren Traumsymbolen auf, die Jung als Beispiele für den voranschreitenden Individuationsprozesses wertet. Diese progressive Entwicklung wird in den Träumen einerseits durch das zunehmend vermehrte Auftauchen von geometrischen Objekten wie Kreisen, Quadraten, Oktaedern und Kugeln begleitet (u.a. TS 219-227; Traum 38, 41, 44, 46, 52). Andererseits charakterisiert Jung auch den disruptiven Charakter des Individuationsprozesses in Traumsettings, die mit geometrisch geformten Örtlichkeiten aufwarten. Im siebenundzwanzigsten Mandalatraum träumt Pauli zum Beispiel von einem Kreis, in dessen Mittelpunkt ein Baum steht, der von den zwei Gruppen, welche den Traum bevölkern und die beiden Kreishälften gegeneinander kämpfend besetzt halten, nicht bemerkt werden. Diese dichotome Anordnung des Traumszenarios analysiert Jung als Manifestation eines unabgeschlossenen Individuationsprozesses, in dem die psychischen Anteilen des Ursprünglichen, Kindlichen oder "Wilden" zum Ausdruck gebracht würden (TS 205). Auch das Ringen von Licht und Dunkelheit weise – etwa durch das Traumsymbol des "Nebels" versinnbildlicht – noch diese Eigenschaften des Ursprünglichen auf, welches nunmehr aber im Sinne einer "Vektorialität" (Nünning 2008, 19-26) transgrediert werde, indem das Traumsubjekt den "Durchstoßpunkt" von Lichtstrahlen im Nebel sichtet und diesen Durchstoßpunkt als Mittelpunkt einer acht Strahlen aussendende Sonne erkennt (TS 222; Traum 43). Der Gedanke der alchemistischen Richtungsweisung wird in den letzten Mandalaträumen zunehmend intensiviert, etwa durch einen aus einem Ei geschlüpften Adler. Letzterer fliegt mit einem zu Gold gewordenen Ring in seinen Klauen dem Traum-Ich voraus, das ihm auf einem Schiff folgt, welches sich über dem Meer in liminaler Position zwischen Ahnung und Intuition einerseits sowie den "Tiefen des Unbewussten" andererseits befindet (TS 234-237; Traum 58). | ||
Abschließend zeigt ein Blick auf den letzten Traum des Mandalakapitels, der den Titel "Die Vision von der Weltuhr. Große Vision" ( | |||
Abschließend zeigt ein Blick auf den letzten Traum des Mandalakapitels, der den Titel "Die Vision von der Weltuhr. Große Vision" (TS 237-251; Traum 59) trägt, wie sich das Selbst am Ende des von Jung begleiteten Individuationsprozesses von den Schleiern des Unbewussten befreit hat: Der Träumende schildert in seinem Traumnotat den Anblick der durch einen schwarzen Vogel getragenen Weltuhr, die sich aus zwei Kreisen zusammensetzt, die senkrecht zueinander angeordnet sind und über einen gemeinsamen Mittelpunkt verfügen. In diesem Traum tritt mit der Farbsymbolik eine weitere Symbolebene zu den sonst eher dominierenden figuralen und geometrischen Traumsymbolebenen hinzu: | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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:<span style="color: #7b879e;"> | :<span style="color: #7b879e;">Es ist ein vertikaler und ein horizontaler Kreis mit gemeinsamem Mittelpunkt. Das ist die Weltuhr. Sie ist von schwarzen Vögeln getragen. Der vertikale Kreis ist eine blaue Scheibe mit weißem Rand, in 4x8 = 32 Teile geteilt. Darauf rotiert ein Zeiger. Der horizontale Kreis besteht aus vier Farben. Darauf stehen vier kleine Männchen mit Pendeln, und darum liegt der ehemals dunkle und jetzt goldene Ring (vormals von den vier Kindern getragen). Die "Uhr" hat drei Rhythmen oder Pulse: Der kleine Puls: Der Zeiger des blauen Vertikalkreises springt 1/32 weiter. Der mittlere Puls: Eine ganze Umdrehung des Zeigers. Zugleich rückt der horizontale Kreis um 1/32 weiter. Der große Puls: 32 mittlere Pulse machen einen Umlauf des goldenen Ringes aus (TS 237 f.).</span> | ||
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Durch die nunmehr erblickte Dreidimensionalität des Mandalas sieht Jung | Durch die nunmehr erblickte Dreidimensionalität des Mandalas sieht Jung dessen Körperhaftigkeit erstmals als gegeben an, was er mit dem erlangten Status der ''Selbst''-Verwirklichung gleichsetzt. Die Erlangung der "höchsten Harmonie" durch das ''Selbst'' des Träumenden macht Jung dabei an ästhetischen Qualitäten des Traums fest, die sowohl die Form als auch die Farbgebung des Mandalas betreffen. Dies beginnt mit dem Umstand, dass sich im gemeinsamen Mittelpunkt des vertikalen und horizontalen Kreises "zwei heterogene Systeme schneiden" würden, die wechselseitig durch die gesetzmäßige und funktionale Beziehung der "drei Rhythmen" und der "vier Farben" aufeinander verweisen würden (TS 238, 246-249). Mit der Zahl "drei" assoziiert Jung die christliche Trinität, wohingegen er in der Zahl "vier" als Traumsymbol die vier Evangelisten des Neuen Testaments repräsentiert sieht. | ||
Jung greift auf insgesamt acht Abbildungen zurück, die überwiegend aus christlicher Provenienz der Frühen Neuzeit (14. bis 17. Jahrhundert) stammen, die er aber darüber hinaus aufgrund ihrer mandalaartigen Ähnlichkeitsbeziehung auch auf die Horussymbolik der ägyptischen Mythologie zurückführt, was er ebenfalls mit einer Abbildung zu belegen versucht ( | Jung greift in seiner Deutung auf insgesamt acht Abbildungen zurück, die überwiegend aus christlicher Provenienz der Frühen Neuzeit (14. bis 17. Jahrhundert) stammen, die er aber darüber hinaus aufgrund ihrer mandalaartigen Ähnlichkeitsbeziehung auch auf die Horussymbolik der ägyptischen Mythologie zurückführt, was er ebenfalls mit einer Abbildung zu belegen versucht (TS 245). Insgesamt sollen die epochen- und religionsübergreifenden Gemeinsamkeiten den archetypischen Charakter der ästhetischen Konstruktion der Weltuhrvision des Träumers aufzeigen. Zur Veranschaulichung dieser von Jung propagierten Gemeinsamkeiten sollen im Folgenden zwei der insgesamt sieben von Jung genannten christlich geprägten Mandalas mitsamt ihrer Evangelisten- und Trinitätssymbolik sowie das von Jung angeführte Papyrus von Hunefer beitragen. Bei letzterem verweist die Zahl vier auf die vier auf der Lotusblume befindlichen Horusbrüder, wohingegen die Zahl drei bildlich durch Osiris auf dem Thron sowie die beiden hinter ihm stehenden Figuren bildlich repräsentiert wird. | ||
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Abb. 1 "Zeitsymbol des Lapis. Das Kreuz und die drei Evangelistensymbole mit Mensch (als Vertreter des Engels) weisen auf die Analogie mit Christus hin. | Abb. 1 "Zeitsymbol des Lapis. Das Kreuz und die drei Evangelistensymbole mit Mensch (als Vertreter des Engels) weisen auf die Analogie mit Christus hin. | ||
Tractatus qui dicitur Thomae Aquinatis de alchimia (1520)" ( | Tractatus qui dicitur Thomae Aquinatis de alchimia (1520)" (TS 239). | ||
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Abb. 2 "Gott als Trinität, den Tierkreis schaffend. | Abb. 2 "Gott als Trinität, den Tierkreis schaffend. Petrus Lombardus, De sacramentis (Vatikan, 14. Jh.)" (TS 248). | ||
Petrus Lombardus, De sacramentis (Vatikan, 14. Jh.)" ( | |||
Jung betont in diesem Zusammenhang, dass der von Gott geschaffene Tierkreis blau sei, woraus sich in | Jung betont in diesem Zusammenhang, dass der von Gott geschaffene Tierkreis blau sei, woraus sich in der Sichtbarmachung der Zeitlichkeitsdimension in christlicher Kunst eine literaturgeschichtliche Traditionslinie bis hin zu den Gedichten ''Les Pèlerinages'' (1330-1355) des Zisterzienser-Klosterpriors Guillaume de Digulleville ergebe, der die Bedeutung dieser Farbe allerdings bezeichnenderweise zu erwähnen "vergessen" habe. Jung zieht aus diesem (historisch gesehen oftmals reproduzierten) Vergessen der Farbe "blau" das Fazit, dass gerade diese Farbe, in der er zugleich "die traditionelle Farbe des Himmelsmantels der Jungfrau" ausmacht, besonders eindrücklich für das unterdrückte Unbewusste in der zweidimensionalen christlichen Kunst einstehe. Dementsprechend verweise die Weltuhr insgesamt auf die inhärente Zeitsymbolik des Mandalas, in welcher sich insbesondere das in der westlichen Astrologie der kirchlichen Kunst herausgebildete Mandala des "linksläufig circumambulierenden" Horoskops widerspiegele (TS 241 f.). | ||
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Abb. 3 "Osiris mit den vier Horussöhnen auf dem Lotus. | Abb. 3 "Osiris mit den vier Horussöhnen auf dem Lotus. Book of the Dead (Papyrus von Hunefer)" (TS 245). | ||
Book of the Dead (Papyrus von Hunefer)" ( | |||
Die Gemeinsamkeit zwischen der christlichen Mandalasymbolik und deren Trinitätslehre sowie Evangelistensymbolik einerseits und der ägyptischen Horussymbolik andererseits verortet Jung schließlich im Aspekt des in beiden Mandalas anzutreffenden " | Die Gemeinsamkeit zwischen der christlichen Mandalasymbolik und deren Trinitätslehre sowie Evangelistensymbolik einerseits und der ägyptischen Horussymbolik andererseits verortet Jung schließlich im Aspekt des in beiden Mandalas anzutreffenden "Menschensohns", der als eine "Antizipation der Idee des Selbst" angesehen werden könne (TS 242). In der Vereinigung der Gegensätze dieser beiden Systeme sieht Jung wiederum eine Analogiebeziehung zum "alchemistischen Hermaphroditen", der sich aus der männlichen Dreiheit und der weiblichen Vierheit zusammensetze und auf eine große literarische Traditionslinie bis in die Antike zurückverweise (Aurnhammer 1986, 191). Ferner betont Jung in seiner Traumanalyse die eminente Bedeutung der Zahl 32, die sich in der Anzahl der Pulse im Traum widerspiegelt und die er auf die jüdische Kabbala zurückführt, gemäß der Jahwe die Welt "in zweiunddreißig geheimnisvollen Pfaden der Weisheit" [die Jahwhe anhand von 10 in sich geschlossenen Zahlen und 22 Grundbuchstaben] geschaffen habe (TS 240; Sefer Jezirah 1,2). | ||
Das Zusammenspiel der einzelnen Traumelemente der Weltzeituhrvision werde durch die Farben gesteuert: Der blaue, vertikale Kreis verbinde die Höhen des [blauen] Himmels mit den Tiefen des [blauen] Meeres und fungiere als Störfaktor in Bezug auf die planare, rein horizontal gedachte Harmonie, die sich aus den "drei Hauptfarben: Grün [ | Das Zusammenspiel der einzelnen Traumelemente der Weltzeituhrvision werde durch die Farben gesteuert: Der blaue, vertikale Kreis verbinde die Höhen des [blauen] Himmels mit den Tiefen des [blauen] Meeres und fungiere als Störfaktor in Bezug auf die planare, rein horizontal gedachte Harmonie, die sich aus den "drei Hauptfarben: Grün [Heiliger Geist], Rot [Gott Sohn] und Gold [Gott Vater]" (TS 246 f.) ergebe, welche die Trinität farblich zum Ausdruck brächte. Die Tiefen des Meeres sowie die gesamte vertikale Komponente der dreidimensionalen Weltuhr führt Jung ferner zu seiner theoretischen Prämisse, wonach die Tiefen des Unbewussten männlicher Traumprobanden von einer weiblichen ''Anima'' regiert würden (TS 42, 256; GW 9,2, 423). Im horizontalen Kreis würde die vierte Farbe daher folgerichtig nicht erscheinen, wodurch die Weltuhr im Traum zu einem zunächst paradoxen Symbol avanciere, dessen innerer Widerspruch sich erst durch die aus der Verschränkung von horizontalen und vertikalen Elementen resultierenden Dreidimensionalität des Mandalas auflöse (TS 249 f.). Ohne die vertikale Dimension ergebe sich in summa lediglich ein körperloses "abstraktes[, äußeres] Bild", dem gegenüber erst die "Interferenz von Zeit und Raum in dem Hier und Jetzt […] Wirklichkeit" kreiere (ebd.). Die Weltuhr verdeutliche also schlussendlich, dass die weibliche ''Anima'' als vertikales, unbewusstes Komplement der männlichen ''Persona'' des Traumprobanden "Ganzheit im Augenblick" verleihe (TS 250 f.). | ||
==Die Rolle der Alchemie für die Analyse des Individuationsprozess anhand von Traumserien == | ==Die Rolle der Alchemie für die Analyse des Individuationsprozess anhand von Traumserien == |