"Mao" (Friedrich Huch): Unterschied zwischen den Versionen

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== Entstehungs- und Druckgeschichte ==
== Entstehungs- und Druckgeschichte ==
Die Arbeit an dem autobiografisch geprägten, psychologischen Roman ''Mao'' hat Friedrich Huch während einer Italienreise im Jahr 1903 aufgenommen (vgl. Imai 2001, 127). Einer Tagebucheintragung vom 21. Juli 1906 ist zu entnehmen, dass er überaus angetan von diesem Text war: „Mao. Mit welchen Gefühlen las ich das!! Das strömt alles aus der Tiefe, ganz von innen, es ist mir ungeheuer sympathisch. Bei jedem Satz denke ich: den Autor möchte ich kennen! Es ist so komisch dass ich das selbst geschrieben habe!!“ (zit. nach Huller 1974, 151 f.). Erschienen ist der Text im Jahr 1907 bei S. Fischer in Berlin. Mit zu seinen Lebzeiten nur ca. 50.000 verkauften Exemplaren reichte der Roman jedoch nicht an den Erfolg einiger späterer Werke des Autors, wie etwa ''Pitt und Fox'' oder ''Enzio''.
Die Arbeit an dem autobiografisch geprägten, psychologischen Roman ''Mao'' hat Friedrich Huch während einer Italienreise im Jahr 1903 aufgenommen (Imai 2001, 127). Einer Tagebucheintragung vom 21. Juli 1906 ist zu entnehmen, dass er überaus angetan von diesem Text war: „Mao. Mit welchen Gefühlen las ich das!! Das strömt alles aus der Tiefe, ganz von innen, es ist mir ungeheuer sympathisch. Bei jedem Satz denke ich: den Autor möchte ich kennen! Es ist so komisch dass ich das selbst geschrieben habe!!“ (zit. nach Huller 1974, 151 f.). Erschienen ist der Text im Jahr 1907 bei S. Fischer in Berlin. Mit zu seinen Lebzeiten nur ca. 50.000 verkauften Exemplaren reichte der Roman jedoch nicht an den Erfolg einiger späterer Werke des Autors, wie etwa ''Pitt und Fox'' oder ''Enzio''.




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Derartige Idealvorstellungen überträgt er zuweilen auch auf reale Personen in seinem Bekanntenkreis wie etwa auf seinen Klassenkammeraden Alexander, den er zunächst als Schutzgeist des geliebten Hauses imaginiert. Diese Träumerei wird jedoch jäh enttäusch als sich Alexander keineswegs angetan von den magischen Reizen des Hauses zeigt, sondern allenfalls gelangweilt reagiert. Folglich bindet Thomas seine Sehnsüchte wieder an tote Materie wie etwa an das bereits erwähnte Gemälde, das er Mao nennt und dessen Pulsschlag er zu spüren glaubt. In diesem Zustand empfindet er eine wohltuende Einheit mit den ihn umgebenden Mauern und dem Geist des geliebten Bildes, die jäh zerstört wird als die Familie das Haus verkauft und das Bild während des Umzugs verlorengeht. In dem finalen Sprung in die Ruinen des halb zerstörten Hauses gelangt die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit den geliebten Objekten zur Darstellung.  
Derartige Idealvorstellungen überträgt er zuweilen auch auf reale Personen in seinem Bekanntenkreis wie etwa auf seinen Klassenkammeraden Alexander, den er zunächst als Schutzgeist des geliebten Hauses imaginiert. Diese Träumerei wird jedoch jäh enttäusch als sich Alexander keineswegs angetan von den magischen Reizen des Hauses zeigt, sondern allenfalls gelangweilt reagiert. Folglich bindet Thomas seine Sehnsüchte wieder an tote Materie wie etwa an das bereits erwähnte Gemälde, das er Mao nennt und dessen Pulsschlag er zu spüren glaubt. In diesem Zustand empfindet er eine wohltuende Einheit mit den ihn umgebenden Mauern und dem Geist des geliebten Bildes, die jäh zerstört wird als die Familie das Haus verkauft und das Bild während des Umzugs verlorengeht. In dem finalen Sprung in die Ruinen des halb zerstörten Hauses gelangt die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit den geliebten Objekten zur Darstellung.  


Charakteristisch sind zudem die autobiografischen Züge des Romans, die etwa in der innigen Beziehung zu dem auch häufig in seinen Traumnotaten als Schauplatz in Erscheinung tretenden Elternhauses (vgl. ''Träume'' und ''Neue Träume'' bzw. Schäfer 2021) zur Darstellung gelangen, aber auch in der träumerischen, stets die Einsamkeit suchenden und von Identitätsunsicherheiten geprägten kindlichen Wahrnehmung sichtbar werden. So schreibt Friedrich Huch rückblickend beispielsweise, dass er sich gerne von anderen Kindern distanzierte, um im Schutz des geliebten Elternhauses, eine Beobachterperspektive einzunehmen. In einer dieser Situationen stellten sich Identitätsunsicherheiten ein, die er folgendermaßen beschreibt:  
Charakteristisch sind zudem die autobiografischen Züge des Romans, die etwa in der innigen Beziehung zu dem auch häufig in seinen Traumnotaten als Schauplatz in Erscheinung tretenden Elternhauses (vgl. ''Träume'' und ''Neue Träume''; Schäfer 2021) zur Darstellung gelangen, aber auch in der träumerischen, stets die Einsamkeit suchenden und von Identitätsunsicherheiten geprägten kindlichen Wahrnehmung sichtbar werden. So schreibt Friedrich Huch rückblickend beispielsweise, dass er sich gerne von anderen Kindern distanzierte, um im Schutz des geliebten Elternhauses, eine Beobachterperspektive einzunehmen. In einer dieser Situationen stellten sich Identitätsunsicherheiten ein, die er folgendermaßen beschreibt:  
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Das Gemälde bzw. der auf dem Gemälde nur noch schemenhaft wahrnehmbare Knabe, erhält den Namen Mao und wird zu einem geliebten Spiegel, aber auch Schutzgeist. Als die ungewöhnliche Faszination an dem Gemälde bemerkt wird, wirft ihm sein Vater sein „Umherträumen und Herumdämmern“ (M 76) vor, ermahnt ihn: „Reiß dich los aus deiner Weichlichkeit. Wir sind nicht auf der Welt, um zu träumen, sondern um zu arbeiten“ (M 77) und entfernt das Bild. Nach einiger Zeit erkennt Thomas, dass er den Gegenstand nicht benötigt, um das mit ihm verbundene Ideal zu vergegenwärtigen: „Das Bild war fort, aber Mao selbst war nun allgegenwärtig. Und das Haus stand um ihn, fest und ruhig und wie immer“ (M 78). Diese innere Ausgeglichenheit und Einheit mit der ihn umgebenden steinernen Hülle, im Sinne einer Dritten Haus (Funke 2006), erfährt eine Erschütterung durch den Entschluss des Vaters, das marode alte Haus zu verkaufen und umzuziehen. Obwohl seine Mutter einige alte Möbel in das neue Haus mitnimmt, um ihrem Sohn eine Freude zu machen, bleibt das Bild verschollen.
Das Gemälde bzw. der auf dem Gemälde nur noch schemenhaft wahrnehmbare Knabe, erhält den Namen Mao und wird zu einem geliebten Spiegel, aber auch Schutzgeist. Als die ungewöhnliche Faszination an dem Gemälde bemerkt wird, wirft ihm sein Vater sein „Umherträumen und Herumdämmern“ (M 76) vor, ermahnt ihn: „Reiß dich los aus deiner Weichlichkeit. Wir sind nicht auf der Welt, um zu träumen, sondern um zu arbeiten“ (M 77) und entfernt das Bild. Nach einiger Zeit erkennt Thomas, dass er den Gegenstand nicht benötigt, um das mit ihm verbundene Ideal zu vergegenwärtigen: „Das Bild war fort, aber Mao selbst war nun allgegenwärtig. Und das Haus stand um ihn, fest und ruhig und wie immer“ (M 78). Diese innere Ausgeglichenheit und Einheit mit der ihn umgebenden steinernen Hülle, im Sinne einer Dritten Haus (Funke 2006), erfährt eine Erschütterung durch den Entschluss des Vaters, das marode alte Haus zu verkaufen und umzuziehen. Obwohl seine Mutter einige alte Möbel in das neue Haus mitnimmt, um ihrem Sohn eine Freude zu machen, bleibt das Bild verschollen.


Als überaus bemerkenswert erweist sich die Schilderung dieses psychologischen Sonderfalls durch eine existenzial-philosophische Dimension, die auf das Wesen des Traumes bezogen werden kann. Denn der Protagonist scheint sich stets in einer diffusen Grenzregion von Wachen und Schlafen zu befinden. Diese ewig tagträumende Figur kann daher als „Dämmerungsmensch“ im Sinne der Romantik (vgl. Beese 2001, 122) gelesen werden, wobei der Variantenreichtum literarischer Träume deutlich wird. Thomas gleitet von Visionen zu Halluzinationen, Phantasmen, Wachträumen und Fieberträumen (Kreuzer 2014, 12).
Als überaus bemerkenswert erweist sich die Schilderung dieses psychologischen Sonderfalls durch eine existenzial-philosophische Dimension, die auf das Wesen des Traumes bezogen werden kann. Denn der Protagonist scheint sich stets in einer diffusen Grenzregion von Wachen und Schlafen zu befinden. Diese ewig tagträumende Figur kann daher als „Dämmerungsmensch“ im Sinne der Romantik (Beese 2001, 122) gelesen werden, wobei der Variantenreichtum literarischer Träume deutlich wird. Thomas gleitet von Visionen zu Halluzinationen, Phantasmen, Wachträumen und Fieberträumen (Kreuzer 2014, 12).


Die Mehrdeutigkeit als besondere „Spielart der Kommunikation über den Traum, die hier ihren eigenen Ort für die Aussprache über das begrifflich nicht Zugängliche einer dunkel geltenden Seelenlandschaft findet“ (Alt 2005, 26), ist das zentrale Motiv dieses Romans. Insbesondere in der Beschreibung der Gefühlswelt des Protagonisten gelangt die Ambivalenz des Zwischenraumes von Wachen und Schlafen zur Darstellung. Beispielsweise in folgender Passage:  
Die Mehrdeutigkeit als besondere „Spielart der Kommunikation über den Traum, die hier ihren eigenen Ort für die Aussprache über das begrifflich nicht Zugängliche einer dunkel geltenden Seelenlandschaft findet“ (Alt 2005, 26), ist das zentrale Motiv dieses Romans. Insbesondere in der Beschreibung der Gefühlswelt des Protagonisten gelangt die Ambivalenz des Zwischenraumes von Wachen und Schlafen zur Darstellung. Beispielsweise in folgender Passage:  
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Der Traum bzw. eine höchst individuelle, traumhafte Wahrnehmung sind in dieser Erzählung auf mehreren Ebenen dominant. Was die Struktur betrifft, kommen der Traum und das Träumen in einem traumförmig strukturierten Handlungsablauf (Steinlein 2008, 2) zur Darstellung, der surrealistische Erzählweisen vorwegnimmt. Inspiriert sind diese Darstellungen eines diffusen Zwischenraumes von Wach- und Traumbewusstsein augenscheinlich aus den Kindheitserlebnissen des Autors, aber auch aus seinen Traumnotaten (vgl. Schäfer 2021). Mit Blick auf den Effekt dieser Darstellung wird eine Nähe zur schwarzen Romantik deutlich, da der Traum auch hier „als Medium der Entdifferenzierung und Aufhebung der Identität, als Schauplatz von Verdopplung, Ich-Diffusion und Selbstentfremdung, von Rollenwechsel und Transgression, von Besessenheit und Triebdetermination“ (Alt 2005, 20) erscheint. Hinzu kommt der Aspekt, dass traumhafte und kindliche Wahrnehmung enggeführt werden, wobei eine qualitative Differenzierung von weiblichen und männlichen Figuren sichtbar wird. So bedauert es die Mutter des Protagonisten, dass ihre Tochter so hartherzig und pragmatisch ist, während ihr Sohn sich als überaus sensibel und träumerisch erweist; Attribute, die man einem Mädchen verzeihen könnte, die sich für einen Jungen jedoch nicht zu eignen scheinen. Der Umzug und der damit verbundene endgültige Verlust des geliebten Bildes markieren das Ende der kindlichen Träumerei (vgl. Li 1989, 77). Die finale Szene, die einer wahnhaften (Traum-)Vision gleicht, kann daher auch als bewusste Abwehr der Anforderungen an die Integration eines männlichen Individuums in die geschilderte Erwachsenengesellschaft gelesen werden. Die Figur ist nicht im Stande oder nicht gewillt, ihre individuelle traumhafte Wahrnehmung sowie die als höchst angenehm empfundene Symbiose mit dem Elternhaus und dem geliebten Bild aufzugeben.
Der Traum bzw. eine höchst individuelle, traumhafte Wahrnehmung sind in dieser Erzählung auf mehreren Ebenen dominant. Was die Struktur betrifft, kommen der Traum und das Träumen in einem traumförmig strukturierten Handlungsablauf (Steinlein 2008, 2) zur Darstellung, der surrealistische Erzählweisen vorwegnimmt. Inspiriert sind diese Darstellungen eines diffusen Zwischenraumes von Wach- und Traumbewusstsein augenscheinlich aus den Kindheitserlebnissen des Autors, aber auch aus seinen Traumnotaten (Schäfer 2021). Mit Blick auf den Effekt dieser Darstellung wird eine Nähe zur schwarzen Romantik deutlich, da der Traum auch hier „als Medium der Entdifferenzierung und Aufhebung der Identität, als Schauplatz von Verdopplung, Ich-Diffusion und Selbstentfremdung, von Rollenwechsel und Transgression, von Besessenheit und Triebdetermination“ (Alt 2005, 20) erscheint. Hinzu kommt der Aspekt, dass traumhafte und kindliche Wahrnehmung enggeführt werden, wobei eine qualitative Differenzierung von weiblichen und männlichen Figuren sichtbar wird. So bedauert es die Mutter des Protagonisten, dass ihre Tochter so hartherzig und pragmatisch ist, während ihr Sohn sich als überaus sensibel und träumerisch erweist; Attribute, die man einem Mädchen verzeihen könnte, die sich für einen Jungen jedoch nicht zu eignen scheinen. Der Umzug und der damit verbundene endgültige Verlust des geliebten Bildes markieren das Ende der kindlichen Träumerei (Li 1989, 77). Die finale Szene, die einer wahnhaften (Traum-)Vision gleicht, kann daher auch als bewusste Abwehr der Anforderungen an die Integration eines männlichen Individuums in die geschilderte Erwachsenengesellschaft gelesen werden. Die Figur ist nicht im Stande oder nicht gewillt, ihre individuelle traumhafte Wahrnehmung sowie die als höchst angenehm empfundene Symbiose mit dem Elternhaus und dem geliebten Bild aufzugeben.