"Körper und Seele" (Ildikó Enyedi): Unterschied zwischen den Versionen
"Körper und Seele" (Ildikó Enyedi) (Quelltext anzeigen)
Version vom 10. Juni 2023, 06:23 Uhr
, 10. Juni 2023keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
||
Zeile 73: | Zeile 73: | ||
Um diese Montagen übersichtlich darzustellen, wurden die Traumsequenzen nummeriert und zu dramaturgischen Gruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Beschreibung und Analyse der Traumsequenzen ist berücksichtigt, wie diese in Szenen der Wachwelt eingebettet sind. | Um diese Montagen übersichtlich darzustellen, wurden die Traumsequenzen nummeriert und zu dramaturgischen Gruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Beschreibung und Analyse der Traumsequenzen ist berücksichtigt, wie diese in Szenen der Wachwelt eingebettet sind. | ||
===Beschreibung der Traumsequenz I: Eröffnung (KS #:##-#:#:#)=== | ===Beschreibung der Traumsequenz I: Eröffnung (KS #:#:#-#:#:#)=== | ||
Der Film beginnt mit einem Schwarzfilm; Musik setzt ein, die aber bald endet, als aufgeblendet wird und ein winterlicher Laubwald zu sehen ist. Das bläuliche Licht, in das er getaucht ist, greift das Motiv einer klaren Kälte auf, zugleich kann es die Zeit der Dämmerung anzeigen - jene Zeit, die wegen ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit auch 'blaue Stunde' genannt wird. Schnee fällt, und unter den hohen, kahlen Bäumen gehen zwei Tiere. Ein Hirsch schreitet voraus, eine Hirschkuh folgt. Nachdem sie stehen geblieben ist, geht er noch ein Stück weiter, wendet sich aber bald nach ihr um und kommt zurück. Während sie reglos mit abgewandtem Kopf verharrt, nähert er sich ihr und legt schließlich seinen Kopf auf ihren Rücken. Sie verweilen kurz und gehen anschließend nach rechts aus dem Bild. | Der Film beginnt mit einem Schwarzfilm; Musik setzt ein, die aber bald endet, als aufgeblendet wird und ein winterlicher Laubwald zu sehen ist. Das bläuliche Licht, in das er getaucht ist, greift das Motiv einer klaren Kälte auf, zugleich kann es die Zeit der Dämmerung anzeigen - jene Zeit, die wegen ihrer außergewöhnlichen Farbigkeit auch 'blaue Stunde' genannt wird. Schnee fällt, und unter den hohen, kahlen Bäumen gehen zwei Tiere. Ein Hirsch schreitet voraus, eine Hirschkuh folgt. Nachdem sie stehen geblieben ist, geht er noch ein Stück weiter, wendet sich aber bald nach ihr um und kommt zurück. Während sie reglos mit abgewandtem Kopf verharrt, nähert er sich ihr und legt schließlich seinen Kopf auf ihren Rücken. Sie verweilen kurz und gehen anschließend nach rechts aus dem Bild. | ||
Zeile 81: | Zeile 81: | ||
Die Eröffnungsszene ist nicht als Traum markiert. Weder formal noch inhaltlich gibt es Hinweise, dass die Szene im Wald ein Traumerlebnis darstellt. Traum- und folgende Realwelt werden in der Art der Darstellung gleich behandelt; beide sind in Bildern und Geräuschen auf eine feine Beobachtung und einen langsamen Rhythmus hin ausgerichtet. Auffällig aber ist der Kontrast zwischen der Welt im Wald, die sich deutlich später als die eines Schlaftraums herausstellt, und der Welt im Schlachthof. Während die Welt des Waldes kalt, menschenlos und von zwei freien, ungefährdeten Tieren bewohnt ist, liegt die menschenbelebte Realwelt in einer sommerlichen Stadt und ist mit einem Schlachthof verbunden, in dem domestizierte Tiere getötet und verarbeitet werden. Nach der eröffnenden Sequenz wird der eklatante Spalt zwischen Traum- und Realwelt für einen Übergang genutzt, der in eine Art von Tagtraum führt. Die todgeweihte Kuh wendet sich der Sonne zu, ist ebenso von ihr angezogen wie die Menschen, bevor mit einem Signal die Pause in ihrer aller Leben beendet wird. Die Glocke ist Signal- und Weckton; nach dem Erwachen aus der genussvollen Versonnenheit werden die Tagesgeschäfte aufgenommen. Anders als beim Schlaftraum bleibt der konkrete Inhalt der möglichen Tagträume ungeklärt, jedoch sind deren Umrisse kontextuell zu bestimmen. In ihrer gleichartigen Reaktion auf die Sonne als einer natürlichen licht- und wärmespendenden Kraft, werden Menschen und Kuh zu sich ähnelnden Lebewesen, während mit dem Signal- und Weckton ein existentiell bedeutsamer Antagonismus in Gang kommt, durch den sie geschieden werden. Darum und aus der unmittelbaren Verbindung zur vorausgegangenen Szene im Wald, erscheint die Waldszene als Wunschtraum eines freien, ungefährdeten Lebens. | Die Eröffnungsszene ist nicht als Traum markiert. Weder formal noch inhaltlich gibt es Hinweise, dass die Szene im Wald ein Traumerlebnis darstellt. Traum- und folgende Realwelt werden in der Art der Darstellung gleich behandelt; beide sind in Bildern und Geräuschen auf eine feine Beobachtung und einen langsamen Rhythmus hin ausgerichtet. Auffällig aber ist der Kontrast zwischen der Welt im Wald, die sich deutlich später als die eines Schlaftraums herausstellt, und der Welt im Schlachthof. Während die Welt des Waldes kalt, menschenlos und von zwei freien, ungefährdeten Tieren bewohnt ist, liegt die menschenbelebte Realwelt in einer sommerlichen Stadt und ist mit einem Schlachthof verbunden, in dem domestizierte Tiere getötet und verarbeitet werden. Nach der eröffnenden Sequenz wird der eklatante Spalt zwischen Traum- und Realwelt für einen Übergang genutzt, der in eine Art von Tagtraum führt. Die todgeweihte Kuh wendet sich der Sonne zu, ist ebenso von ihr angezogen wie die Menschen, bevor mit einem Signal die Pause in ihrer aller Leben beendet wird. Die Glocke ist Signal- und Weckton; nach dem Erwachen aus der genussvollen Versonnenheit werden die Tagesgeschäfte aufgenommen. Anders als beim Schlaftraum bleibt der konkrete Inhalt der möglichen Tagträume ungeklärt, jedoch sind deren Umrisse kontextuell zu bestimmen. In ihrer gleichartigen Reaktion auf die Sonne als einer natürlichen licht- und wärmespendenden Kraft, werden Menschen und Kuh zu sich ähnelnden Lebewesen, während mit dem Signal- und Weckton ein existentiell bedeutsamer Antagonismus in Gang kommt, durch den sie geschieden werden. Darum und aus der unmittelbaren Verbindung zur vorausgegangenen Szene im Wald, erscheint die Waldszene als Wunschtraum eines freien, ungefährdeten Lebens. | ||
===Beschreibung der Traumsequenzen II (KS #:#:#-#:#:), III (KS #:#:#-#:#:) und IV (KS #:#:#-#:#:): Zweisamkeit als individuelle Imagination=== | ===Beschreibung der Traumsequenzen II (KS #:#:#-#:#:#), III (KS #:#:#-#:#:#) und IV (KS #:#:#-#:#:#): Zweisamkeit als individuelle Imagination=== | ||
Bevor nach dem Tagtraum der zweite Schlaftraum beginnt, sieht Endre Maria zum ersten Mal in der Realwelt und wird sogleich auf sie aufmerksam. Maria erlebt ihren ersten Arbeitstag im Schlachthof. Endre versucht Kontakt aufzunehmen, um ihr die Ankunft zu erleichtern. Zuhause spielt Maria die erste Begegnung nach, wobei sich erkennen lässt, wie schwer es ihr fällt, mit Endre zu sprechen, obwohl sie es gern möchte. Maria und Endre sind abends in ihren jeweiligen Wohnungen zu sehen. Bei beiden läuft im Fernseher ein alter schwarz-weißer Film. Während Maria zuschaut, ist Endre eingeschlafen. Von ihm wird in den bekannten winterlichen Wald geschnitten. Dort ist die unbestimmte, leise rauschende Tonkulisse genau wie in der ersten Traumsequenz zu hören, der Baumbestand aber ist optisch weniger durchlässig. Ein Hirsch steht auf einer Lichtung und blickt zu einer dunkelgrünen Wand aus Nadelbäumen, wo sich nach einer Weile die Hirschkuh zeigt. Sie zögert, läuft dann, ein wenig vom Hirsch entfernt, über die Lichtung, um am Rand des nächsten Dickichts stehen zu bleiben und sich zu dem männlichen Tier umzudrehen. | Bevor nach dem Tagtraum der zweite Schlaftraum beginnt, sieht Endre Maria zum ersten Mal in der Realwelt und wird sogleich auf sie aufmerksam. Maria erlebt ihren ersten Arbeitstag im Schlachthof. Endre versucht Kontakt aufzunehmen, um ihr die Ankunft zu erleichtern. Zuhause spielt Maria die erste Begegnung nach, wobei sich erkennen lässt, wie schwer es ihr fällt, mit Endre zu sprechen, obwohl sie es gern möchte. Maria und Endre sind abends in ihren jeweiligen Wohnungen zu sehen. Bei beiden läuft im Fernseher ein alter schwarz-weißer Film. Während Maria zuschaut, ist Endre eingeschlafen. Von ihm wird in den bekannten winterlichen Wald geschnitten. Dort ist die unbestimmte, leise rauschende Tonkulisse genau wie in der ersten Traumsequenz zu hören, der Baumbestand aber ist optisch weniger durchlässig. Ein Hirsch steht auf einer Lichtung und blickt zu einer dunkelgrünen Wand aus Nadelbäumen, wo sich nach einer Weile die Hirschkuh zeigt. Sie zögert, läuft dann, ein wenig vom Hirsch entfernt, über die Lichtung, um am Rand des nächsten Dickichts stehen zu bleiben und sich zu dem männlichen Tier umzudrehen. | ||
Zeile 89: | Zeile 89: | ||
Dass vom schlafenden Endre wieder auf eine Waldszene geschnitten wurde, ist ein erster Hinweis darauf, dass diese einen Traum darstellt, der hier scheinbar von Endre allein geträumt wird. Die Begegnung der Tiere lässt sich als metaphorische Verarbeitung seiner Begegnung mit Maria verstehen. Durch die Traum-Metamorphosen wird ein Moment des Wunderbaren eingeführt, denn, wie das Publikum aus der ersten Filmszene schließen kann, waren beide Tiere schon gemeinsam im Wald unterwegs, bevor Maria und Endre sich trafen. Darum erschient der Traum nicht nur als die gestaltete Sehnsucht des Mannes, deren mögliche reale Erfüllung sich ihm am Tag gezeigt hat, sondern auch als ein bereits vorbestimmtes Treffen mit dieser einen Frau. | Dass vom schlafenden Endre wieder auf eine Waldszene geschnitten wurde, ist ein erster Hinweis darauf, dass diese einen Traum darstellt, der hier scheinbar von Endre allein geträumt wird. Die Begegnung der Tiere lässt sich als metaphorische Verarbeitung seiner Begegnung mit Maria verstehen. Durch die Traum-Metamorphosen wird ein Moment des Wunderbaren eingeführt, denn, wie das Publikum aus der ersten Filmszene schließen kann, waren beide Tiere schon gemeinsam im Wald unterwegs, bevor Maria und Endre sich trafen. Darum erschient der Traum nicht nur als die gestaltete Sehnsucht des Mannes, deren mögliche reale Erfüllung sich ihm am Tag gezeigt hat, sondern auch als ein bereits vorbestimmtes Treffen mit dieser einen Frau. | ||
Obwohl die Träume, eingebettet in das Geschehen der Realwelt, metaphorisch, also funktional lesbar sind, erscheinen sie, für sich genommen, auch hyperreal. In den ruhigen Bildern und Geräuschen wird das Leben zweier Waldtiere gezeigt, wie es tatsächlich sein könnte. Die Unaufgeregtheit lässt fast darüber hinwegsehen, dass ästhetisch und semantisch bewusst Bildausschnitte gewählt und zusammengesetzt wurden. Weit entfernt von den beinahe rituellen inhaltlichen und visuellen Wiederholungen in filmischen Tierdokumentationen, fällt allerdings auf, dass die gewöhnlich in gleichgeschlechtlichen Gruppen und nur zur Brunftzeit in Harems lebenden Tiere hier ein einzelnes Paar | Obwohl die Träume, eingebettet in das Geschehen der Realwelt, metaphorisch, also funktional lesbar sind, erscheinen sie, für sich genommen, auch hyperreal. In den ruhigen Bildern und Geräuschen wird das Leben zweier Waldtiere gezeigt, wie es tatsächlich sein könnte. Die Unaufgeregtheit lässt fast darüber hinwegsehen, dass ästhetisch und semantisch bewusst Bildausschnitte gewählt und zusammengesetzt wurden. Weit entfernt von den beinahe rituellen inhaltlichen und visuellen Wiederholungen in filmischen Tierdokumentationen, fällt allerdings auf, dass die gewöhnlich in gleichgeschlechtlichen Gruppen und nur zur Brunftzeit in Harems lebenden Tiere hier ein einzelnes Paar aus einem Hirsch und einer Hirschkuh. So dass eine einerseits äußerst realistische, zugleich aber auf etwas anderes hin stilisierte Aussage erzeugt wird, das heißt eine die Realität zu diesem Zweck verfälschende Kommunikation. | ||
Abseits dieser Lesbarkeit wird nun im Film selbst begonnen, den Traum zu analysieren. Eine polizeiliche und eine psychologische Untersuchung wird angesetzt, nachdem aus dem Schlachthof sogenanntes Bullenpulver entwendet und dazu eingesetzt wurde, eine Gruppe von Menschen öffentlich sexuell zu | Abseits dieser Lesbarkeit wird nun im Film selbst begonnen, den Traum zu analysieren. Eine polizeiliche und eine psychologische Untersuchung wird angesetzt, nachdem aus dem Schlachthof sogenanntes Bullenpulver entwendet und dazu eingesetzt wurde, eine Gruppe von Menschen öffentlich sexuell zu enthemmen. Die hinzugezogene Psychologin untersucht die im Schlachthof Arbeitenden also unter dem Aspekt einer sexuell konnotierten Aktion. Neben Auskünften zum Intimleben wünscht sie, ebenfalls über Träume informiert zu werden. | ||
Vor ihrer anstehenden Befragung diskutieren einige Angestellte des Schlachthofs ihre Träume. Dabei gestehen sie sich die Intimität dieser Frage sowie ihre dadurch hervorgerufene Verletzlichkeit ein. Während ein junger Mann einräumt, von einem blauen Pferd geträumt zu haben, auf dem er ritt, sagt die alte, kaum attraktiv scheinende Putzfrau, sie „ficke“ in ihren Träumen. In beiden Fällen zeigen die Träume eine unerwartete Komplettierung der äußerlich wahrgenommenen Persönlichkeit an. | Vor ihrer anstehenden Befragung diskutieren einige Angestellte des Schlachthofs ihre Träume. Dabei gestehen sie sich die Intimität dieser Frage sowie ihre dadurch hervorgerufene Verletzlichkeit ein. Während ein junger Mann einräumt, von einem blauen Pferd geträumt zu haben, auf dem er ritt, sagt die alte, kaum attraktiv scheinende Putzfrau, sie „ficke“ in ihren Träumen. In beiden Fällen zeigen die Träume eine unerwartete Komplettierung der äußerlich wahrgenommenen Persönlichkeit an. | ||
Zeile 105: | Zeile 105: | ||
In einem Gespräch, zu welchem Endre und Maria gemeinsam von der Psychologin geladen werden, einigt man sich oberflächlich darauf, der gleichlautende Traum sei ein verabredeter Scherz gewesen. Doch untergründig ist allen dreien klar, es mit etwas Außergewöhnlichem zu tun zu haben, worauf sie verschieden reagieren. Für die Psychologin, das bestätigt sich in einem späteren Dialog, scheint es möglich, dass durch wissenschaftsbasierte Befragung etwas entdeckt werden kann, dass dem bisherigen Erklärungssystem widerspricht. Endre spricht, als er kurz mit Maria allein ist, von einem Zufall. Damit ordnet er den gemeinsamen Traum noch dem bekannten rationalen System zu. Was hieße, dass die Traumereignisse nicht kausal zusammengehören, aber auf unwahrscheinliche Art zusammenfallen, weshalb sich auch von einer Koinzidenz als spezieller Form des Zufalls sprechen ließe. Maria schweigt zu den Deutungen der anderen. | In einem Gespräch, zu welchem Endre und Maria gemeinsam von der Psychologin geladen werden, einigt man sich oberflächlich darauf, der gleichlautende Traum sei ein verabredeter Scherz gewesen. Doch untergründig ist allen dreien klar, es mit etwas Außergewöhnlichem zu tun zu haben, worauf sie verschieden reagieren. Für die Psychologin, das bestätigt sich in einem späteren Dialog, scheint es möglich, dass durch wissenschaftsbasierte Befragung etwas entdeckt werden kann, dass dem bisherigen Erklärungssystem widerspricht. Endre spricht, als er kurz mit Maria allein ist, von einem Zufall. Damit ordnet er den gemeinsamen Traum noch dem bekannten rationalen System zu. Was hieße, dass die Traumereignisse nicht kausal zusammengehören, aber auf unwahrscheinliche Art zusammenfallen, weshalb sich auch von einer Koinzidenz als spezieller Form des Zufalls sprechen ließe. Maria schweigt zu den Deutungen der anderen. | ||
===Beschreibung der Traumsequenzen V (KS #:#:#-#:#:), VI (KS #:#:#-#:#:) und VII (KS #:#:#-#:#:): Sich Erkennen=== | ===Beschreibung der Traumsequenzen V (KS #:#:#-#:#:#), VI (KS #:#:#-#:#:#) und VII (KS #:#:#-#:#:#): Sich Erkennen=== | ||
Maria und Endre sind in ihrem jeweiligen Zuhause angekommen. Endre isst, Maria geht ins Bett. Zum ersten Mal wird von ihr ins Traumgeschehen geschnitten. Darin sind Hirschkuh und Hirsch zu sehen. Sie stehen sich auf zwei Seiten eines kleinen runden Teiches im kahlen Wald gegenüber und schauen sich an. Am nächsten Tag begegnen sich Maria und Endre als Menschen in der Wachwelt, wieder in der Kantine. Er leugnet seinen Traum, geht dann aber Maria nach, erzählt ihr das Geträumte, das auch die Zuschauenden kurz zuvor gesehen haben, und Maria sagt, sie habe dasselbe geträumt. Endre glaubt ihr nicht und meint, das sage sie jetzt nur so. | Maria und Endre sind in ihrem jeweiligen Zuhause angekommen. Endre isst, Maria geht ins Bett. Zum ersten Mal wird von ihr ins Traumgeschehen geschnitten. Darin sind Hirschkuh und Hirsch zu sehen. Sie stehen sich auf zwei Seiten eines kleinen runden Teiches im kahlen Wald gegenüber und schauen sich an. Am nächsten Tag begegnen sich Maria und Endre als Menschen in der Wachwelt, wieder in der Kantine. Er leugnet seinen Traum, geht dann aber Maria nach, erzählt ihr das Geträumte, das auch die Zuschauenden kurz zuvor gesehen haben, und Maria sagt, sie habe dasselbe geträumt. Endre glaubt ihr nicht und meint, das sage sie jetzt nur so. | ||
Im nächsten Traum begegnen sich Hirsch und Hirschkuh auf einer Lichtung. Von hier ziehen sie in ein Fichtendickicht, wo sie, von dünnen Stämmen getrennt, nebeneinanderher laufen. | Im nächsten Traum begegnen sich Hirsch und Hirschkuh auf einer Lichtung. Von hier ziehen sie in ein Fichtendickicht, wo sie, von dünnen Stämmen getrennt, nebeneinanderher laufen. | ||
Zeile 117: | Zeile 117: | ||
Der Traum wird, wie schon einmal geschehen, nicht gezeigt, nur die Reaktion darauf. Beide sitzen gemeinsam in der Kantine. Endre sagt: „Es war schön.“ Er strahlt Maria an und sie zeigt ein kleines Lächeln. | Der Traum wird, wie schon einmal geschehen, nicht gezeigt, nur die Reaktion darauf. Beide sitzen gemeinsam in der Kantine. Endre sagt: „Es war schön.“ Er strahlt Maria an und sie zeigt ein kleines Lächeln. | ||
===Analyse zu V (KS #:#:#-#:#:), VI (KS #:#:#-#:#:) und VII (KS #:#:#-#:#:)=== | ===Analyse zu V (KS #:#:#-#:#:#), VI (KS #:#:#-#:#:#) und VII (KS #:#:#-#:#:#)=== | ||
Während Maria und Endre den Umstand verifizieren, sich nächtlich im gemeinsamen Traum zu begegnen, wird die Kategorie des Wunderbaren, die sich bereits zuvor andeutete, bestätigt. Dass die beiden noch vor ihrer ersten Begegnung in der Realwelt einen Traum teilten, erhöht die Stufe des Wunderbaren und gibt ihrem Zusammentreffen den Zug einer Vorbestimmung. Wenn sie sich anschließend erfolgreich für Begegnungen in ihren Nachtträumen verabreden, wird ein weiteres Merkmal von Träumen aufgehoben, nämlich dass sie kaum vom (bewussten) Ich steuerbar sind. Die gewöhnlich individuelle, subjektive und instabile Traumwelt ist also objektiviert, da sie durch zwei Menschen gleichermaßen wahrgenommen wird und dabei so verlässlich ist, dass sie sich wiederholt und bewusst aufsuchen lässt. Die gemeinsam geträumte Innenwelt besitzt also Qualitäten einer physisch wahrnehmbaren Außenwelt. Dennoch ist sie vollkommen exklusiv: Nur Endre und Maria können sie betreten. In dieser Verbindung aus Kohärenz, Logik, Unwahrscheinlichkeit und Exklusivität liegt der Übergang zum Wunder, also zu etwas, das unmöglich und naturwissenschaftlich nicht erklärbar, aber – innerhalb des Films – real ist. | Während Maria und Endre den Umstand verifizieren, sich nächtlich im gemeinsamen Traum zu begegnen, wird die Kategorie des Wunderbaren, die sich bereits zuvor andeutete, bestätigt. Dass die beiden noch vor ihrer ersten Begegnung in der Realwelt einen Traum teilten, erhöht die Stufe des Wunderbaren und gibt ihrem Zusammentreffen den Zug einer Vorbestimmung. Wenn sie sich anschließend erfolgreich für Begegnungen in ihren Nachtträumen verabreden, wird ein weiteres Merkmal von Träumen aufgehoben, nämlich dass sie kaum vom (bewussten) Ich steuerbar sind. Die gewöhnlich individuelle, subjektive und instabile Traumwelt ist also objektiviert, da sie durch zwei Menschen gleichermaßen wahrgenommen wird und dabei so verlässlich ist, dass sie sich wiederholt und bewusst aufsuchen lässt. Die gemeinsam geträumte Innenwelt besitzt also Qualitäten einer physisch wahrnehmbaren Außenwelt. Dennoch ist sie vollkommen exklusiv: Nur Endre und Maria können sie betreten. In dieser Verbindung aus Kohärenz, Logik, Unwahrscheinlichkeit und Exklusivität liegt der Übergang zum Wunder, also zu etwas, das unmöglich und naturwissenschaftlich nicht erklärbar, aber – innerhalb des Films – real ist. | ||
Zeile 125: | Zeile 125: | ||
Währenddessen charakterisieren sich die Tiere der Traumwelt und ihre menschlichen Pendants in der Realwelt gegenseitig. Wenn die Frau und der Mann sich einander vor allem in ihrer Traumgestalt als Tiere nähern können, so maskiert die Tiergestalt ihr Menschsein, doch zugleich wirkt ihr Tiersein maskenlos, da Tiere, vor allem Wildtiere, als authentische, unverstellte Wesen gelten. Die andere Körpererfahrung als Tier ermöglicht also andere Arten des Beisammenseins. Kontrastierend zum Wachzustand können sich Maria und Endre in einer Vertrautheit begegnen, die ihnen tagsüber in ihrer menschlichen Gestalt nicht möglich ist. | Währenddessen charakterisieren sich die Tiere der Traumwelt und ihre menschlichen Pendants in der Realwelt gegenseitig. Wenn die Frau und der Mann sich einander vor allem in ihrer Traumgestalt als Tiere nähern können, so maskiert die Tiergestalt ihr Menschsein, doch zugleich wirkt ihr Tiersein maskenlos, da Tiere, vor allem Wildtiere, als authentische, unverstellte Wesen gelten. Die andere Körpererfahrung als Tier ermöglicht also andere Arten des Beisammenseins. Kontrastierend zum Wachzustand können sich Maria und Endre in einer Vertrautheit begegnen, die ihnen tagsüber in ihrer menschlichen Gestalt nicht möglich ist. | ||
===Beschreibung der Traumsequenzen VIII (KS #:#:#-#:#:) und IX (KS #:#:#-#:#:): Störung und Auflösung=== | ===Beschreibung der Traumsequenzen VIII (KS #:#:#-#:#:#) und IX (KS #:#:#-#:#:#): Störung und Auflösung=== | ||
Endre und Maria gehen in ihrer Freizeit gemeinsam essen. Er schlägt danach vor, dass sie bei ihm zu Hause nebeneinander schlafen. So wären sie sich beim Träumen auch mit ihren Realkörpern nahe. Aber der Schlaf kommt nicht. Sie spielen während der restlichen Nacht Karten und lernen sich auf diese Art besser kennen. Er möchte sie am Arm streicheln, doch Maria zuckt zurück, worauf er erklärt, dass er mit der Liebe schon lange abgeschlossen hatte und sich nun lächerlich mache. | Endre und Maria gehen in ihrer Freizeit gemeinsam essen. Er schlägt danach vor, dass sie bei ihm zu Hause nebeneinander schlafen. So wären sie sich beim Träumen auch mit ihren Realkörpern nahe. Aber der Schlaf kommt nicht. Sie spielen während der restlichen Nacht Karten und lernen sich auf diese Art besser kennen. Er möchte sie am Arm streicheln, doch Maria zuckt zurück, worauf er erklärt, dass er mit der Liebe schon lange abgeschlossen hatte und sich nun lächerlich mache. | ||
Maria beginnt daraufhin allein fremde Körper in sinnlichen Kontakten zu beobachten und den eigenen Körper zu erforschen. Während sie versucht, ihre Angst vor körperlicher Nähe zu überwinden, will sich Endre, in einer gegenläufigen Bewegung, seiner Gefühle zu Maria entledigen. Er schläft mit einer anderen Frau. Danach sitzt er gequält in einem Imbiss und ist den Tränen nahe. Unvermittelt wird von hier in die Traumwelt geschnitten, in der er als Hirsch allein durch den Schneewald läuft, sehr schnell, leicht bergauf, nach den Seiten blickend. | Maria beginnt daraufhin allein fremde Körper in sinnlichen Kontakten zu beobachten und den eigenen Körper zu erforschen. Während sie versucht, ihre Angst vor körperlicher Nähe zu überwinden, will sich Endre, in einer gegenläufigen Bewegung, seiner Gefühle zu Maria entledigen. Er schläft mit einer anderen Frau. Danach sitzt er gequält in einem Imbiss und ist den Tränen nahe. Unvermittelt wird von hier in die Traumwelt geschnitten, in der er als Hirsch allein durch den Schneewald läuft, sehr schnell, leicht bergauf, nach den Seiten blickend. | ||
Zeile 137: | Zeile 137: | ||
== | ==Zur Traumauffassung der Regisseurin== | ||
Fabien Lemerciers zitiert in seinem Text für Cineuropa, der Ende Juni 2015 veröffentlicht wurde, aus der offiziellen Synopse des Films "What would happen if you met someone who dreamt the same as you or, to be more precise, had been meeting you in the same world every night for years? Would you be pleased? Or would you feel that you had been in some way robbed? And what if this specific individual didn’t exactly appeal to you? What if you actually hated that person?" (Lemercier 2015). | |||
In einem Interview erklärt die Regisseurin und Autorin, warum sie den gemeinsamen Traum als dramaturgisches Element gewählt habe, er also nicht Ausgangspunkt der Erzählung gewesen sei: Sie will sich Menschen widmen, deren Gefühle verborgen sind. Wenn beide feststellen, dass sie gemeinsam träumen, sind sie gezwungen darauf zu reagieren. Dadurch wiederum werden ihre Gefühle offensichtlich: ihre Angst, Verzweiflung, Lebensfreude und Leidenschaft (Meinecke 2017). In einem allgemeineren Sinn meint Enyedi, dass Träume das seien, was alle Menschen „surreal and magic“ mache (Marotta 2018). Dieser Gedanke über die verzaubernde Kraft der Träume findet sich variiert in einer anderen Aussage der Regisseurin, in der sie Träume als Vorstellungskraft versteht, durch die Realität verändert wird. Als Beispiel nennt sie eine Tasse, die gestaltet wurde, weil jemand sie sich so vorstellte und dadurch die materielle Umwelt veränderte, von der wir umgeben sind (Meinecke 2017). In Interviews äußert sich die Regisseurin wiederholt zur Rolle der Religion (Peitz 2017), um Krisen zu bestehen und bewusst durchzuerleben. Sie meint, dass durch religiöse Rituale die einzelnen Menschen mit einer größeren Gruppe bzw. „dem großen Ganzen“ verbunden würden (Katzenberger 2017). Sie äißert sich zur Idee der Seelenverwandtschaft, die sich durch den gemeinsamen Traum zeigen könne (Idris 2020) wie auch zur Idee eines kollektiven Bewusstseins, gemäß derer nicht nur bestimmte Personen miteinander verbunden seien, sondern alle Menschen, ohne dafür aktiv etwas tun zu müssen (Burg/Wellinski 2017). Dabei bezieht sie sich auf [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Traumsymbole_des_Individuationsprozesses%22_(Carl_Gustav_Jung) Carl Gustav Jung], benutzt aber den von diesem nicht gebrauchten Begriff des "Kollektivbewusstseins". Ob dieser Widerspruch aus einem Übersetzungsfehler, einer Unsicherheit oder einem Versehen herrührt, lässt sich kaum klären. Jung entwickelte den Begriff des "kollektiven Unbewussten", während der Begriff des "Kollektivbewusstseins" mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim (1858-1917) verknüpft ist. Die hier benutzte Paraphrasierung von Enyedis Aussage bildet gewissermaßen einen Mittelweg, um ihre Rede, unabhängig von den Makierungen durch die genannten Wissenschaftler, lesen zu können. | |||
In verschiedenen Texten zum Film | Diese gedankliche Nähe zum Überpersönlichen und Spirituellen, im Sinn einer poetischen, die Realität transzendierenden Weltsicht und Welterwartung, scheint ein Ausgangspunkt dafür, dass der Film auch innerhalb religiöser Kontexte vorgeführt und diskutiert wird. Zum Beispiel befindet sich ''Körper und Seele'' im Verleih des Katholischen Filmwerks in Deutschland, von dem ein didaktisches Arbeitsheft zum Film publiziert wurde (Weber 2018). Währenddessen wurde vor allem die Ansiedlung des Filmgeschehens in einem Schlachthof mitunter als metaphorische Kritik am politischen System Ungarns oder Europas verstanden. Dies lehnt die Regisseurin allerdings ab (Peitz 2017). | ||
In verschiedenen Texten zum Film wie auch in Selbstaussagen der Regisseurin fallen wiederholt die beschreibenden Worte „poetisch“, „realistisch“, „melancholisch“, „humorvoll“, „magisch“. Während die Worte „melancholisch“ und „humorvoll“ eher eine Grundstimmung und ein bewusst eingesetztes Gegengewicht bezeichnen, können die verbleibenden drei Adjektive für eine filmhistorische Einordnung interessant sein. Die realistische Wiedergabe sozialer Kontexte ist ohne Weiteres erkennbar, sowohl in der Darstellung der einzelnen Figuren, ihrem Agieren in einem sozialen Gefüge als auch in der dokumentierend aufgenommenen Umgebung des Schlachthofs. Dass visuell, auditiv und narrativ poetische Mittel beigefügt wurden, um zu gestalten und zu überhöhen, ist ebenfalls leicht erkennbar. Allerdings ist der verbindende Begriff des „poetischen Realismus“ filmhistorisch festgelegt; er bezeichnet vor allem französische Filme der 1930er bis 1940er Jahre, die zudem bestimmte erzählerische wie inhaltliche Merkmale aufweisen, welche der vorliegende Film nicht besitzt. Darum erscheint letztlich die Einordnung in die Kategorie des „magischen Realismus“ naheliegend. Dieser weit gedachte Begriff (Reeds 2006, 175–196.), der Werke verschiedener Genres wie Literatur und Malerei umfasst, wird angewandt, wenn in einer Darstellung reale und magische Wirklichkeit – und letztere ist häufig die eines Traums oder einer Halluzination – verschmolzen werden. | |||
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Heike Endter]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Heike Endter]]</div> |