"Malina" (Ingeborg Bachmann)
Literarische Traumdarstellungen ziehen sich als zentrale Wahrnehmungs- und Erfahrungselemente durch das Werk der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926–1973): Mal bilden sie eine symbolisch aufgeladene Gegenrealität und hinterfragen vermeintliche Gewissheiten, mal imaginieren sie unbewusste Wünsche und verdrängte Ängste (Nesselhauf 2020, 372 f.). Die kafkaeske Traumstruktur in der frühen Erzählung Der Kommandant (1947–51) oder das Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen (1952) scheinen dabei als Vorarbeiten im späteren Roman Malina (1971) zu kumulieren. Im mittleren der drei Kapitel – unter der intertextuellen Überschrift "Der dritte Mann" und wegen seiner befreienden Radikalität eine regelrechte "Urszene der Literatur nach 1945" (Höller 2009, 29) – zeichnet das erzählende Ich eine Kette verschiedener Albträume nach, an der sich die Bachmann-Forschung bis heute abarbeitet.
Entstehung und Rezeption
Bachmann beginnt ihre Arbeit an einem umfangreichen Romanprojekt unter dem Titel "Todesarten" im Jahre 1963 – nach der Trennung von Max Frisch (1911–1991) in einer Zeit jahrelanger Leiden, zahlreicher Klinikaufenthalte und einer starken Tabletten- und Alkoholabhängigkeit. Wohl so hochpersönlich wie in keinem ihrer anderen Werke verarbeitet sie in diesem ursprünglich auf drei Bände angelegten Zyklus – neben Malina als einzigem zu Lebzeiten beendetem und veröffentlichtem Roman noch Das Buch Franza (ab 1965) sowie Requiem für Fanny Goldmann (ab 1966) – autobiographische Erlebnisse und Erfahrungen. Bachmann fertigt unzählige Prosaskizzen und Entwürfe an, die in das "Todesarten"-Projekt einfließen, interessiert sich in gründlicher Recherche aber beispielsweise auch für die Medizin im "Dritten Reich". Wie aus der Korrespondenz mit Klaus Piper (1911–2000) hervorgeht, hat sie sich beispielsweise von ihrem damaligen Verleger umfangreiche Sekundärliteratur über medizinische Experimente in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Euthanasie zukommen lassen, und erhält neben einer Literaturliste und Kopien auch zahlreiche Fachbücher wie Alexander Mitscherlichs (1908–1982) Medizin ohne Menschlichkeit, 1960 bei Fischer erschienen (Schlinsog 2005, 208 f.).
Doch gleichzeitig stellt Malina auch einen publizistischen Einschnitt für die Schriftstellerin dar: Nach einem Streit verlässt sie im Frühjahr 1967 ihren bisherigen Verlag, Piper in München, und möchte ihren Roman nun im Frankfurter Suhrkamp-Verlag veröffentlicht wissen (Hoell 2001, 128 f.). Bachmann hatte dessen Verleger Siegfried Unseld (1924–2002) bereits auf ihrer ersten USA-Reise im Sommer 1955 kennengelernt, als beide von Henry Kissinger (geb. 1923) zur "Summer School of Arts and Sciences and of Education" an die Harvard University nach Cambridge, MA eingeladen wurden (Hartwig 2017, 84 ff.).
Mit Unseld steht sie ab 1967 in einem regen Briefkontakt, der ihre Arbeit an Malina, ihre Überlegungen, Schwierigkeiten und Zweifel gut dokumentiert. So scheint sie gegen Ende des Jahres – bei Spaziergängen durch das heimatliche Kärnten – die Idee eines umfangreichen Traumkapitels für den noch problematischen Mittelteil entwickelt zu haben (M 792).
Schließlich erscheint der Roman – Lektoren bei Suhrkamp sind, auf Bachmanns ausdrücklichen Wunsch hin (vgl. Leuchtenberger 2012, 69), die Schriftsteller Martin Walser (geb. 1927) und Uwe Johnson (1934–1984) – im März 1971 und wird von Lesereisen der Autorin durch Deutschland begleitet. Schnell steht das Buch zum Preis von 24 DM ab Mitte April auf der Bestseller-Liste des Nachrichtenmagazins Der Spiegel (vgl. Bestseller 1971a, 169) und klettert schon im folgenden Monat auf den zweiten Platz (vgl. Bestseller 1971b, 170), bevor bereits im Januar 1972 die vierte Auflage nachgedruckt und ausgeliefert wird.
Denn die Erwartungen an Malina – nach dem Erzählband Das dreißigste Jahr (1961) erfolgte keine größere Veröffentlichung mehr – und die mit dem Preis der Gruppe 47 (1953) und dem Georg-Büchner-Preis (1964) ausgezeichneten Autorin sind groß. Malina wird dementsprechend vom Verlag breit beworben; Suhrkamp kündigt den Roman auf der Innenseite des Buches programmatisch an: "Das Buch handelt von nichts anderem als von Liebe" (M 740 f.).
Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann (1932–2015) schreibt in ihrer Kritik: "Ich habe keineswegs alles verstanden, ich habe immer dort nicht verstanden, wo es konkret sein sollte. Ich verstehe wohl die wahre Inschrift: Leiden" (Wohmann 1971, 164). Andere einflussreiche Kritiker, wie etwa Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) kurz nach seiner Übernahme der FAZ-Literaturredaktion, lehnten Malina als "peinlichen und gänzlich mißratenen Roman" pauschal ab, auch wenn er Bachmann im Nachruf weiterhin als "eine der bedeutendsten Dichterinnen nach 1945" (Reich-Ranicki 1974, 22) hervorhebt.
Zwanzig Jahre nach der Erstauflage kommt im Januar 1991 eine Verfilmung unter der Regie von Werner Schroeter (1945–2010) und nach dem Drehbuch von Elfriede Jelinek (geb. 1946) in die deutschen Kinos; die deutsch-österreichische Produktion mit Isabelle Huppert (geb. 1953) in der weiblichen Hauptrolle läuft beim 44. Festival de Cannes im Mai des gleichen Jahres und wird mit mehreren Filmpreisen ausgezeichnet.
Dass der Roman auch noch heute zu den einflussreichen und lesenswerten Texten der deutschsprachigen Literatur zählt, zeigt dessen Neuerscheinung innerhalb der populären 'Bibliothek' der Süddeutschen Zeitung (als Band Nr. 97) im Jahre 2008 sowie zuletzt die Aufnahme in "Schecks Kanon", eine vom Literaturkritiker Denis Scheck (geb. 1964) in der Zeitung Die Welt zusammengestellte Reihe bedeutender Werke der Weltliteratur (vgl. Scheck 2018, 31).
Träume in Malina
Einordnung
Dem Roman ist ein kurzes Personenregister – an das dramatis personae eines Theaterstücks erinnernd – und eine allgemein gehaltene Orts- und Zeitangabe (Zeit: heute, Ort: Wien) vorangestellt. In einem längeren Prolog wird die Geschichte durch das erzählende Ich konkreter in der "Ungargasse" im III. Wiener Bezirk verortet; diese selbstreflexive, aber auch höchst ambivalente Erzählinstanz scheint jedoch zwischen der Überzeugung: "Ich muss erzählen. Ich werde erzählen. Es gibt nichts mehr, was mich in meiner Erinnerung stört" (M 292) und den Zweifeln: "Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung" (M 298) gefangen.
Im Mittelpunkt des ersten Kapitels, überschrieben mit "Glücklich mit Ivan", steht das Verhältnis zwischen dem namenlosen Ich und Ivan, dessen "Injektionen von Wirklichkeit" (M 364) das Ich "zu heilen anfängt" (M 305), und dessen Beziehung sich auch symbolisch in der märchenhaften Binnenerzählung "Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran" (M 348–357) mit zahlreichen intertextuellen Verweisen und Anspielungen spiegelt.
Das mittlere der drei Kapitel des Romans – die Überschrift "Der dritte Mann" verweist auf Carol Reeds (1906–1976) im Nachkriegswien angesiedelten Film The Third Man (1949) – stellt einen radikalen Bruch mit der Erzählung (Wien, 'heute') dar. In orts- und zeitlosen (Alb-)Träumen – programmatisch als "Überall und Nirgends" (M 501) angekündigt – tritt nun (als ebenjener 'dritter Mann' des Romans) neben Malina und Ivan noch "der Vater" auf.
Das Ich erzählt insgesamt 35 Träume und 'fällt' dabei (wortwörtlich) in einer langen Kette von Traum zu Traum (Leahy 2006, 113 f.), wenn programmatischerweise die "chronologische Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" (Vordermayer 2021, 205) im bisherigen Zeitverständnis nun radikal aufgehoben wird. Unterbrochen sind die in einer symbolisch-verschlüsselten Sprache des Unbewussten gehaltenen, polyphonen Traumsequenzen dabei von zehn Einschüben aus der "Wachwelt": Malina – bereits am Ende des ersten Kapitels für das erzählende Ich wichtiger werdend (M 499) – fungiert hier im Dialog mit dem Ich als gespiegelter Zuhörer und Traumdeuter.
Übersicht der Träume
# | M | Kurzbeschreibung |
---|---|---|
A | 501 | Die orts- und zeitlosen Träume werden (ähnlich der Vorbemerkungen zu Beginn des Romans) vom erzählenden Ich knapp eingeleitet: "Malina soll alles wissen. Aber ich bestimme: Es sind die Träume von heute nacht" (501). |
1 | 501 f. | In der Nähe eines Sees steht das Ich mit dem Vater (und einem alten Totengräber) auf dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (502). |
2 | 502 f. | Ich wird vom Vater in einer Kammer ohne Fenster und Türen eingeschlossen; Schläuche an der Wand: "die größte Gaskammer der Welt, und ich bin allein darin" (503). |
3 | 503–507 | "Ich weiß, daß ich wahnsinnig bin": Welt voller Farben; Fallen; "nein" sagen; blind; stumm durch blau; "erstarrt im Eis"; Großer Siegfried; Hölle; Ich ruft Mutter und Schwester; Weltuntergang; Krankenhaus und Ärzte; "Malina hebt mich auf und legt mich zurück aufs Bett" (507). |
B | 507 f. | Dialog zwischen Malina und Ich: "Wer ist dein Vater?" |
4 | 508 f. | Anruf aus Amerika von Vater; See und Wasser; Lachen des Vaters. |
5 | 509 f. | Mutter wirft dem Vater Blumen hin: "es war Blutschande"; Mutter und Ich verstummt: "er hat mir auch die Stimme genommen" (510). |
6 | 510–512 | Vater wirft Schlüssel, Kleider und Gläser; Ich will Bücher retten (Kleist, Hölderlin, Balzac, Lukrez, Horaz); "Buchheil" (Heidegger, Nietzsche); "Gute Nacht, sagt Josef K. zu mir" (512). |
7 | 512 f. | Vater will Mutter verlassen; Schulfreundin Melanie "mit ihrem großen aufgeregten Busen" (513); Ballsaal aus Krieg und Frieden. |
C | 513 f. | Dialog zwischen Malina und Ich: "Es gibt nicht Krieg und Frieden". |
8 | 514 f. | Ballsaal: Vater tanzt mit Melanie; Ich und Malina am Rande; weiße Handschuhe fallen auf jeder Treppenstufe zu Boden: "Laß sie fallen, sagt Malina, ich hebe dir alles auf" (515). |
9 | 515 f. | Ich und Vater in der Wüste; Name der neuen Frau ("die nicht meine Mutter ist") im Sand; Stab der Wiener Universität. |
10 | 516–518 | Hauptrolle "in der großen Oper meines Vaters"; Intendant und Journalisten; bekannte Musik, unbekannte Rolle und kein Textbuch; "singe um mein Leben"; alleine auf der Bühne: "Ich habe die Aufführung gerettet, aber ich liege mit gebrochenem Genick zwischen den verlassenen Pulten und Stühlen" (518). |
11 | 518 f. | Vater schlägt Melanie und Hund so wie früher Mutter und Ich; Grund für Krankheit und Arztrechnungen; Sonntagspredigt des Vaters von der Kanzel. |
12 | 520 | mit Vater im Reich der tausend Atolle schwimmen; Ich schreit unter Wasser: "Ich hasse dich mehr als mein Leben!" (520). |
D | 520 f. | Malina "soll mir meine Worte erklären"; Gespräch beim Frühstück scheitert. |
13 | 521–524 | Winter: "Ich habe den sibirischen Judenmantel an, wie alle anderen"; Fotos geliebter Menschen im Schnee; "solidarisch" sein; Aufbruch mit "totem Fallschirm"; durch Ungarn und Donau; Nachricht an Prinzessin von Kagran (524). |
E | 524–526 | Malina versucht vom Traum aufgerütteltes Ich zu beruhigen; Mondnacht; "ich verliere den Verstand"; "Ivan darf nicht erfahren"; Licht im "Ungarland". |
14 | 526 f. | Ich und Ivan waschen Füße (statt "Pflicht" des Vaters); Todesstrafe oder Lager; Radio; Befragung durch Vater. |
15 | 527 f. | "finster vor dem Fenster"; See mit betrunkenem Männerchor; "Friedhof der ermordeten Töchter" am Seeufer. |
16 | 528 f. | Vater als Filmregisseur auf einem Schiff; filmt "ungeschminktes" Ich; sabotiert Schiff, jedoch "eine Fahrlässigkeit meines Vaters" (529). |
17 | 530 f. | Vater bringt Ich "in ein fremdes Land"; versucht von dort Briefe zu schreiben; zu schreiendem Vater: "Heimweh!" (531). |
18 | 531 | abgemagertes Ich packt Koffer während Vater schläft; versucht in Malinas Auto zu fliehen, kehrt jedoch um und wird vom Vater zurückgeschleppt. |
19 | 532–535 | von Vater in ein "hohes Haus" mit Garten (Christbäume aus Kindheit) gebracht; Gäste; Flucht vor dem Vater; Malina und Polizei zur Rettung; Ich geht zurück ins verwüstete Haus; Verdacht "darf nicht wahr sein" (535). |
F | 535–538 | Dialog zwischen Malina und Ich: "Warum hast du ihn gedeckt?" –"Ich träume, aber ich versichere dir, daß ich zu begreifen anfange". |
20 | 538 | Vater als Couturier der Stadt: "Die neuen Wintermorde sind angekommen" (538); Musikkappelle; Frauen/Witwen der Musikanten. |
21 | 538–540 | Vater mit "Zarin Melanie" aus Russland zurück; Mond; Eispalast; Ich und Bardos sollen "zu Eisstatuen werden" (540). |
22 | 540 | bei 50 Grad Kälte mit eisigem Wasser übergossen: "Ich werde zu Eis" (540). |
23 | 540 f. | "Parlamentär" vermittelt als "Zwischenträger" zwischen Ich und Vater; Ich muss "Pflicht" tun, doch Vater "lebt jetzt mit meiner Schwester" (541). |
G | 541 f. | Dialog zwischen Malina und Ich: Eleonore "in der Fremde gestorben" (542). |
24 | 543 f. | Vater hält Schwester gefangen, die fortan Ring des Ich tragen soll; Melanie inzwischen "abgesetzt"; Vater löst Schneelawinen aus; "kann meine Pflicht nicht mehr tun" (543); Vater schickt Suchmannschaft weg: "Ich bin unter die Lawine meines Vaters gekommen". |
25 | 544 f. | Ich fährt erstmals Ski; Eintrag im Schulheft: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie" (544); Wahrsagerin; Brief zu 26. Jänner; zum Flughafen, jedoch "nur Lily" benachrichtigt. |
26 | 545 f. | alle Männer aus Wien verschwunden; Ich verliebt sich in Mädchen; enttäuschte Frau Breitner. |
27 | 546–548 | Ich und Studenten zu Vater; "Frau Melanie" öffnet die Tür; Lina/Rita; Vater mit Wohnungseinrichtung "beschäftigt", die für das Ich "geschmacklos" ist; Ich verfängt sich bei Flucht aus Garten im Stacheldraht- und Stromzaun. |
28 | 548 | Friedhof am See; Vater lässt den See überlaufen. |
H | 548–552 | Dialog zwischen Malina und Ich: Theatervorstellung; Ring; "Ich war nie einverstanden!" (551); Malina: "du verwechselst sogar deine Leben" (552). |
29 | 552 f. | Donaudelta; Vater und Krokodil: "Ich habe nur die Wahl, von ihm zerrissen zu werden oder in den Fluß zu gehen, wo er am tiefsten ist." (553) |
30 | 553–555 | Vater im Pyjama des Ich; Teppich aus Krieg und Frieden; "ich rufe Ivan"; Briefe im Maul des schläfrigen Krokodil. |
31 | 555–557 | Ich will um vier/fünf Jahre altes Kind kämpfen; Name: Animus; "Revolverfest": Frau erschießt Kind; 26. Jänner vs. Neujahrsfest. |
32 | 557 | Ich im "Zeitalter der Stürze". |
33 | 557–559 | Vater hat Ich ins Gefängnis gebracht; kein Papier und Stift in Einzelzelle; Durst und Halluzinationen; Vater möchte "meine Sätze abschauen und mir nehmen" (558). |
34 | 559–561 | "Mein Vater hat jetzt auch das Gesicht meiner Mutter" (559); viele Menschen um Vater und Mutter herum; "Ich lebe, ich werde leben, ich nehme mir das Recht auf mein Leben" (560); wirft Gegenstände, um so die Aufmerksamkeit des Vaters zu erlangen: "ich kann, was du kannst" – Vater "hat mir, auf einmal, nichts mehr zu sagen" (561). |
I | 561 | Dialog zwischen Malina und ich: "du wirst alle Personen in einer Person vernichten müssen" (561). |
35 | 562–564 | Vater und Mutter verschwimmen erneut (Gesichter, Kleidung); Ich fordert beide auf zu sprechen und zu antworten: "Ich weiß, wer du bist. Ich habe alles verstanden" (564). |
3 | 564 f. | Dialog zwischen Malina und ich: "Es ist nicht mein Vater. Es ist mein Mörder" (564) – "Du wirst also nie mehr sagen: Krieg und Frieden" / "Nie mehr. Es ist immer Krieg" (565). |
Erster Traum ("Friedhof der ermordeten Töchter")
Die einzelnen Träume kreisen immer wieder um ähnliche Themen, wobei hier besonders die Figur des zerstörerischen Vaters auffällt, der seine Tochter mal verstummen lassen (vgl. etwa Traum 3) oder entmündigen (vgl. etwa Traum 34), mal töten möchte: "Nichts ist dem Vater unangenehm, so etwas wie ein Gewissen kennt er nicht, er schämt sich für nichts, im Gegenteil, lebt sich aus in den Gewaltexzessen, die seinem Wesen entsprechen" (Hartwig 2017, 162).
Dies gilt vor allem für den ersten, verhältnismäßig kurzen Traum, der als besonders programmatisch für die weiteren Traumepisoden verstanden werden kann: Hinter einem großen Fenster liegt ein See mit zahlreichen Friedhöfen; das Ich befindet sich dabei neben dem Vater und einem Totengräber auf dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (M 502).
Die übermächtige, inzestuöse Vaterfigur erscheint zwar erst relativ spät im sechsten der zehn Sätze als Personifikation der männlich-patriarchalen Gewalt, die sich ebenso im "Friedhof der ermordeten Töchter" räumlich manifestiert (Lennox 2006, 111) – ein Ort, der auch in Bachmanns Romanfragment des Buch Franza (vgl. Bachmann 1995b, 229) sowie den frühesten Textstufen von Malina (sogar ohne Verweis auf den Vater) vorkommt (M 100). Übergibt der Vater hier das Ich noch an den Totengräber, hat er seine Tochter im folgenden Traum in "die größte Gaskammer der Welt" (M 503) eingeschlossen, und versucht sie mit den unterschiedlichsten 'Todesarten' (symbolisch) zu entmündigen oder (tatsächlich) zu ermorden.
Zwar ist diese verstörende Assoziation des Vaters mit Inzest und Naziverbrechen (wenn auch mit der künstlerischen Freiheit der Schriftstellerei) letztlich biographisch kaum zu überprüfen (Hartwig 2017, 167 f.), doch bleibt die inszenierte Nähe zu Bachmanns Lebens auffällig; so wurde beispielsweise diese (auch erneut in Traum 15 und 28 auftauchende) Seelandschaft immer wieder auch mit Bachmanns Kärntner Heimat in Verbindung gebracht (vgl. etwa Höller 2009, 36).
Dritter Traum ("Hinabfallen ins Unbewusste")
Der stetige Verlust der Orientierung, ja aller Sinne insgesamt zeigt sich besonders stark in der dritten, verhältnismäßig langen Traumsequenz: Der Kontrollverlust des Ich wird hier sowohl durch das kurzzeitige Fliegen wie dann im mehrfachen Fallen symbolisiert – das als 'klassisches' Motiv ja auch bereits in der 1899 erschienenen Traumdeutung Sigmund Freuds (1856–1939) einen größeren Raum einnimmt (Freud 2009, 351 ff).
Ohnehin nicht untypisch für literarische Traumdarstellungen, steht das 'Hinabfallen' in das Unbewusste nicht nur für die Unkontrollierbarkeit des Träumens, sondern dieses "Zeitalter der Stürze" (Traum 32) spiegelt auch die Traumarbeit des schlafenden Ich und das 'Hinabsteigen' in die Tiefen von verdrängter Erinnerung, traumatischer Ängste oder verleugneter Wünsche. Dieses Bild findet sich, ebenfalls bereits in Verbindung mit der Landschaft, in ähnlicher Weise auch in Bachmanns früherem Gedicht Einem Feldherrn aus der Sammlung Die gestundete Zeit (1953): "Du wirst fallen / vom Berg ins Tal […] und in die Bergwerke des Traums" (Bachmann 2010c, 48). Und auch in Bachmanns erstmals 2017 veröffentlichten Traumnotaten (vgl. dazu unten) findet sich mit der Suche nach einem Gestein, "an das man nicht herankommt" (Bachmann 2017, 69), ein Verweis auf diesen Zusammenhang zwischen Traum und Geologie mit Blick auf die tieferen 'Schichten' der Psyche (Schiffermüller/Pelloni 2017, 128).
Siebenter Traum ("Melanie")
In den polyphonen Traumsequenzen kommen immer wieder die gleichen Figuren und/oder Figurentypen vor – neben dem träumenden Ich vor allem der namenlose Vater wie auch die Mutter, sowie als weitere Frauenfiguren noch Melanie und Eleonore, Lily und Frau Breitner. Neben diesem wiederkehrenden, konkret benannten 'Stammpersonal' der Albträume lassen sich ebenso abstraktere Abwandlungen von Figurentypen – wie etwa mit dem titelgebenden 'dritten Mann', dem 'Großen Siegfried' (in Traum 3) oder dem mehrfach (etwa in den Träumen 29 und 30) auftauchenden "frauenfressenden Krokodil" (Kanz 1999, 88) – sowie kleinere Variationen finden.
Dies zeigt sich gerade bei der Figur der Melanie, deren Name eine gewisse ('traumverschobene') Nähe zu "Malina" aufweist: Auffällig ist dabei, wie das (die Träume nacherzählende) Ich immer wieder das körperliche Aussehen und speziell den "Busen" (vgl. neben Traum 13 auch Traum 27) hervorhebt, und das Ich in der Folge immer stärker "MelaNIE" als jene "Frau, die nicht meine Mutter ist" (Traum 9), ablehnt. Doch scheint Melanie als archetypische Figur im Verlauf des Träumens auch mehrfach in unterschiedlichen Konstellationen und mit verschiedenen Assoziationen und Zuschreibungen aufzutauchen – vom aufreizenden Mädchen (im siebenten Traum) und dem sexuell aufgeladenen Tanz im Ballsaal aus dem Roman Krieg und Frieden (1868/69) von Lew Tolstoi (1828–1910) im achten Traum, über den Gewaltausbruch des Vaters (in Traum 11), bis hin zu Melanies Ernennung als Zarin (in Traum 21) respektive ihrer Absetzung (in Traum 24).
Auf der anderen Seite spielt mit der Andeutung einer inzestuösen "Blutschande" (Traum 5, vgl. auch Traum 19) sowie dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (im Plural) auch die Schwester des Ich, Eleonore – Ingeborg Bachmanns tatsächliche Schwester heißt Isolde (vgl. Hartwig 2017, 167) –, als weitere Figur eine zentrale und ähnlich ambivalente Rolle in den Träumen. Diese erleidet offenbar immer wieder ähnliche, dem Ich aber wohl nicht immer bekannte Erfahrungen, da die Schwester nur in verhältnismäßig wenigen Träumen vorkommt (vgl. etwa Traum 23 und 24) bzw. vom Ich der Wachwelt im Gespräch mit Malina sogar als "in der Fremde gestorben" (M 542) verleugnet wird.
Dreizehnter Traum ("Prinzessin von Kagran")
Der sich an die vierte Unterbrechung anschließende 13. Traum greift zunächst die Thematik und Symbolik der faschistischen Vernichtungslogik mit dem drastischen Bild des 'sibirischen Judenmantels' auf – verfremdet dieses Grundmotiv jetzt aber noch auf der weiteren Ebene des Mythischen: Denn die bereits erzählte "Legende einer Frau, die es nie gegeben hat" (M 347) wird an dieser Stelle als weiterer Figurentypus transformiert und aktualisiert.
So vermischen sich gerade in diesem Traum nun unterschiedliche Traditionslinien des weiblichen 'Opfermythos' (Frei Gerlach 1998, 300) mit verschiedenen intertextuellen und autobiographischen Verweisen (Schmaus 1998, 99). Indem die Legende der "Prinzessin von Kagran" aus dem ersten Teil des Romans – als eine von zahlreichen intratextuellen (innerhalb des "Todesarten"-Projekts) und intertextuellen (auf andere literarische Texte, vor allem im sechsten Traum) Verweisen im Roman Malina (Albrecht/Göttsche 2020a, 128 f.) – gewissermaßen in der Traumwelt gespiegelt wird, eröffnet sich eine weitere Übertragungsebene des eigentlich nicht-Erzählbaren, denn das Unbegreifliche, wie etwa der Tod "eines Geliebten auf der Fahrt in ein Konzentrationslager, wird nur erzählbar über den Rekurs auf mythische Elemente" (Jagow 2003, 32).
Dreiunddreißigster Traum ("im Gefängnis")
Die 35 Träume, "in denen die Ich-Figur vom Vater gequält, getötet oder anderweitig zum Schweigen gebracht wird" (Herrmann 2020, 133), wurden und werden von der feministischen Literaturwissenschaft immer wieder als fundamentale Kritik an Patriarchat und Kapitalismus gelesen, als programmatische Vermischung von Privatem und Politischem, und als "undurchdringliches Netz der Negativität" (Dröscher-Teille 2018, 178).
Neben den konkreten Versuchen, das Ich einzusperren und/oder zu ermorden – in der Gaskammer, unter der Lawine im Eispalast usw. usf. – sind die Träume ebenso von geprägt von der Unmöglichkeit des Sprechens und Schreibens (z.B. Traum 17), etwa durch ein Nicht-Gehört-Werden trotz verschiedener Sprachen (im dritten Traum, vgl. dazu auch Bachmanns nahezu zeitgleich erschienene Erzählung Simultan).
Dabei stellt der 33. Traum allerdings einen gewissen Kippmoment dar: Das träumende Ich wird zwar erneut vom Vater eingesperrt, droht zu verdursten und hat keine Möglichkeit sich schriftlich oder mündlich zu äußern – doch zeichnet sich mit den darauf folgenden, letzten Träumen des Romankapitels eine gewisse 'Emanzipation' ab. Denn als die Vater- und Mutter-Figuren nun zunehmend verschwimmen und verstummen (Traum 34 und 35), scheint das Ich in den Träumen als einem der Realität entgegengesetzten Erfahrungsraum die Ungerechtigkeiten immer stärker zu durchschauen, ja eine gewisse 'Überlegenheit' zu entwickeln. Die (traumatische) Grundsituation scheint für das Ich damit aber durch die Erinnerungsarbeit der Träume noch längst nicht aufgearbeitet – es bleibt beim "Krieg" (M 565).
Bachmann und der Traum
Sprechreflektion und Sprachkritik
Ingeborg Bachmann ist bewusst, wie problematisch ein gedankenloser Umgang mit der deutschen (Schrift-)Sprache nach 1945 wäre. Wie vielen anderen deutschsprachigen Schriftsteller*innen der Nachkriegsliteratur auch – etwa Paul Celan, Günter Eich oder Wolfdietrich Schnurre (vgl. Bartsch 1997, 5) –, geht es ihr darum, eine 'neue' Sprache nach der nationalsozialistischen "Lingua Tertii Imperii" (Klemperer) und der von Adorno proklamierten 'Unmöglichkeit' eines Gedichts nach Auschwitz (vgl. Adorno 2003, 30) zu finden. Anstatt die vorbelastete Sprache unreflektiert zu übernehmen und (wie in der Erzählung Das dreißigste Jahr) zur "Gaunersprache" (Bachmann 2010b, 108, 112, 121) eines Moll werden zu lassen, hinterfragt die promovierte Philosophin – seit ihrem Philosophiestudium von Ludwig Wittgenstein geprägt: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" (Wittgenstein 1984, 262) – den Sprachgebrauch sowohl praktisch in ihrer Lyrik und Prosa wie auch eher theoretisch in ihrer Poetik.
Damit spürt Bachmann auch der Verbindung zwischen dem 'Ich' und der Sprache nach, dessen Verhältnis von "Selbstbezweiflung" und "Sprachverzweiflung" (Bachmann 2005b, 259) geprägt scheint. Vor allem ihre Poetikvorlesungen des Wintersemesters 1959/60 an der Frankfurter Goethe-Universität drehen sich immer wieder um die Suche nach einer Sprache, "die noch nie regiert hat, aber unsere Ahnungen regiert" (Bachmann 2005b, 348), und führen später sogar zu einer Kritik an der "Sprache der Politik und der Medien" (Bachmann 2005a, 374). Der Wunsch nach einer solchen "neuen Sprache" (Bachmann 2005b, 263) geht daher auch immer mit dem Streben nach neuen Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten einher, Wittgensteins "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" (Wittgenstein 1984, 67) folgend.
In Bachmanns Verständnis ist es Aufgabe eines Schriftstellers, diese Beschränkungen zu testen oder gar zu sprengen; immer wieder reizt sie in ihrer Dichtung die 'natürlichen' Limitierungen der Sprache – als wörtliches "Spielfeld" (Bachmann 2005c, 191) – durch Sprachspiele aus (prominent etwa in den Erzählungen Alles oder Undine geht) und setzt sich mit kreativen Neologismen wie "'Traumwäscherei'" (Bachmann 2010d, 114) im Gedicht Reklame – ähnlich zu Paul Celans "Atemwende" oder "Fadensonnen" – über sie hinweg.
Die Träume sind für das weibliche Ich letztlich aber in mehrfacher Hinsicht 'Ventile': So kann im Nacherzählen des Traums – gegenüber dem Zuhörer und "Traumdeuter" Malina als Manifestation des männlich-dominierten Therapie-Diskurses (vgl. Krylova 2007, 39) – eine Stimme gefunden werden, während das erzählende Ich in ihren Träumen gerade von männlichen Personen immer wieder nicht gehört wird oder zum Schweigen gebracht werden soll. Gleiches gilt auch für das Angsterleben, das zwar vom weiblichen Ich im Alltag "in Briefen oder Äußerungen reflektiert, aber erst in seinen Träumen durchlebt und ausagiert" (Kanz 1999, 89) werden kann.
Dementsprechend zeigt sich die kreative Traumarbeit des Ich auch gerade sprachlich, wenn Verschiebungen und Verdichtungen nicht nur an den Figuren oder den Räumen stattfinden, sondern auch die Traumsprache – etwa durch Neologismen wie "Revolverfest" (Traum 31), "Buchheil" (Traum 6) oder "Wintermorde" (Traum 20) – radikal umgedeutet wird.
Träume schreiben
War Bachmanns zuvor skizzierte und im Brief an ihren Verleger Unseld dokumentierte Arbeit am Traumkapitel bereits den Biograph*innen und den Herausgeber*innen der Kritischen Ausgabe bekannt, warf das Erscheinen von insgesamt 19 Traumprotokollen im Rahmen einer neuen, gemeinsam von den Verlagen Piper und Suhrkamp herausgegebenen Salzburger Werkausgabe im Jahre 2017 ein neues Licht auf diesen zumindest teilweise auf authentische Träume zurückgehenden Schreibprozess (vgl. Schiffermüller/Pelloni 2017, 145 f.).
In der Zeit nach der Trennung von Max Frisch, der ihre Beziehung im Roman Mein Name sei Gantenbein (1964) in der Figur der Schauspielerin Lila literarisch verarbeitet, befindet sich Bachmann mehrfach in psychologischer Behandlung – 1963 etwa in Zürich und Berlin, dann 1964, nach einer Prag- und einer Ägypten-Reise mit dem Schriftsteller Adolf Opel, in Sankt Moritz. Bei einem Aufenthalt im Frühjahr 1965 in Baden-Baden scheint die Traumdeutung ein Bestandteil der Therapie gewesen zu sein (vgl. Schiffermüller/Pelloni 2017, 125); einige der Traumnotate lassen sich auf diese Zeit datieren.
Natürlich ist bei solch biographischen Verflechtungen in ein literarisches Werk große Vorsicht geboten und ein positivistischer Ansatz, der das Werk nur aus dem Leben erklärt, erscheint als wenig hilfreich. Doch die Traumnotate "kommentieren auch einen Schreibprozess, der aus der Artikulation der Krankheit hervorgeht und sich als ein Kampf um das psychische und physische Überleben darstellt" (Schiffermüller/Pelloni 2017, 146). Die tatsächliche werkgenetische Bedeutung zeigt sich sowohl auf zeitlicher Ebene, wenn Bachmann offensichtlich im Winter 1967 das Traumkapitel als 'Lösung' für den Mittelteil des Romans wählt, als auch in Bezug auf den Inhalt, sind die Traumprotokolle doch teilweise als direkte Grundlage für Malina erkennbar.
Träume deuten
Wenn das Ich insgesamt 35 Träume erzählt, erinnert dies zunächst in der basalen Struktur an das psychoanalytische Verfahren der 'freien Assoziation' (vgl. Freud 1982, 253), zumal es ja einen expliziten Zuhörer und Traumdeuter gibt: Malina, der die "Wahrheit" hinter den Träumen (Herrmann 2020, 133) zu ergründen und erklären sucht, repräsentiert damit als Therapeuten-Figur – wenn auch in "eine[r] eher distanzierten Sanitäterrolle" (Wohmann 1971, 163) – nicht nur den psychoanalytischen Diskurs, sondern steht (erneut) für die männliche 'Rationalität'.
Gleichzeitig scheinen diese zehn Dialoge zwischen Malina und dem Ich, die sich teilweise wohl sehr unmittelbar an die Traumerlebnisse anschließen, auch die bereits in Freuds Psychoanalyse reflektierte Unzuverlässigkeit des Träumenden zu reflektieren, wonach eine nachträgliche Wiedergabe des manifesten Trauminhalts stets zu zwangsläufigen Auslassungen und auch zu eigenen Deutungsansätzen führen muss.
Ohnehin wirken die Traumsequenzen in ihrer nahezu lehrbuchartigen Perfektion, in der Konstruiertheit der Figuren und Räume, der sprachlichen Verfremdungs- und Verschiebungsarbeit fast wie ein parodistisches Spiel, zumal zahlreiche archetypische Symbole – wie etwa das Krokodil etwa als möglicher Verweis auf C.G. Jung (Kanz 2020, 362) – aus der einschlägigen Traumforschung entnommen scheinen. Denn zwar tauchen auch bereits in Bachmanns Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen (1952) die 'kanonischen' Bilder sexualisierter Trauminhalte auf, doch dürften sowohl ihre sprachreflexive und sprachphilosophische Beschäftigungen wie auch ihre höchstpersönliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums/Träumens gerade in den unmittelbaren Jahren der Romanentstehung zu einer nochmals gesteigerten Reflektion traumtypischer Merkmale (Struktur, Narration, Symbolik usw.) geführt haben. So lässt der geplante "Todesarten"-Zyklus mit Bachmanns Ansätzen einer Sprache des Unbewussten (vgl. Leahy 2006; Steinhoff 2008) eine intensive Auseinandersetzung mit Sigmund Freud vermuten, die besonders am Romanfragment Das Buch Franza deutlich wird, das ebenfalls zahlreiche "Traumrätsel" (Bachmann 1995b, 229) enthält. Dort bezeichnet Bachmann etwa den Wiener 'Übervater' in ihrem Entwurf zur Vorrede als "größten Pionier" (Bachmann 1995b, 16); in ihrer persönlichen Bibliothek sind mehrere Bände Sigmund Freuds verzeichnet, darunter die im Fischer Verlag erschienene Studienausgabe.
Und auch Bachmanns Interesse an psychischen Vorgängen in Verbindung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist nicht neu: So hat sich Ingeborg Bachmann, die in Graz und später in Wien Psychologie im Nebenfach studiert und im September 1947 ein Praktikum in einer Nervenheilanstalt in der österreichischen Hauptstadt absolvierte, tatsächlich auch schon früh für eine Verbindung zwischen Psychologie und den nationalsozialistischen Konzentrationslagern interessiert. Hier scheint gerade der Einfluss ihres Professors, des Neurologen Viktor Frankl (1905–1997), besonders deutlich zu werden, der 1946 sein Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager veröffentlicht hat. Von ihm stammt auch der im 25. Traum abgewandelte – und selbst frei auf ein Zitat des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) zurückgehende – Satz: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie" (M 544).
Literatur
Ausgaben des Romans
- Bachmann, Ingeborg: Malina. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971 (= Erstausgabe).
- Bachmann, Ingeborg: Malina. In: Dies.: Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe. 4 in 5 Bde. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd. 3.1 und 3.2: Malina. München: Piper 1995a, S. 275–695 (= Kritische Ausgabe, zitiert als M).
- Bachmann, Ingeborg: Malina. In: Dies.: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 3: Todesarten: Malina und unvollendete Romane. München: Piper 2010a, S. 9–337 (= Bachmann-Werkausgabe).
Bezugstexte
- Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 11–30.
- Bachmann, Ingeborg: Das Buch Franza. In: Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe. 4 in 5 Bde. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd. 2: Das Buch Franza. München: Piper 1995b, 131–333.
- Bachmann, Ingeborg: Entwürfe zur politischen Sprachkritik. In: Dies.: Kritische Schriften. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München: Piper 2005a, 368–377.
- Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung In: Dies.: Kritische Schriften. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München: Piper 2005b, 253–349.
- Bachmann, Ingeborg: Wozu Gedichte. In: Dies.: Kritische Schriften. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München: Piper 2005c, S. 190–191.
- Bachmann, Ingeborg: Das dreißigste Jahr. In: Dies.: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 2: Erzählungen. München: Piper 2010b, 94–137.
- Bachmann, Ingeborg: Einem Feldherrn In: Dies.: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. München: Piper 2010c, 47 f.
- Bachmann, Ingeborg: Reklame. In: Dies.: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. München: Piper 2010d, 114.
- Bachmann, Ingeborg: „Male oscuro“. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni. In: Dies.: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl. Berlin: Suhrkamp 2017.
- Freud, Sigmund: Zur Vorgeschichte der Analytischen Technik (1920). In: Ders.: Schriften zur Behandlungstechnik. Frankfurt/M.: Fischer 1982, 251–255.
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- Wittgenstein Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984.
Forschungsliteratur
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- Hartwig, Ina: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. Frankfurt/M.: Fischer 2017.
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- Kanz, Christine: Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns "Todesarten"-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999.
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- Krylova, Katya: The Function of the Analyst. Bachmann's Malina Read Through Lacan. In: Focus on German Studies 14 (2007), 37–49.
- Leahy, Caitríona: Bachmann's Burning Question, or: Reading 'Rauchende Worte'. In: Dies./Bernadette Cronin (Hg.): Re-acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and Performances. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 111–120.
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- Leuchtenberger, Katja: Detektivbüro "Malina". Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann und ein verhindertes "Lektorat auf Reisen". In: Johnson-Jahrbuch 19 (2012), 65–83.
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- Schlinsog, Elke: Berliner Zufälle. Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
- Schmaus, Marion: Eine Poetologie des Selbst/Mordes. Überlegungen zur Wahlverwandtschaft zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. In: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hg.): "Über die Zeit schreiben". Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 95–118.
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Zitiervorschlag für diesen Artikel: Nesselhauf, Jonas: "Malina" (Ingeborg Bachmann). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2020; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Malina%22_(Ingeborg_Bachmann). |