"Das Dritte Reich des Traums" (Charlotte Beradt): Unterschied zwischen den Versionen

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* Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Achte Auflage. Frankfurt/M.: Fischer 1991.
 
* Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Achte Auflage. Frankfurt/M.: Fischer 1991.
 
* GrĂŒnbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015.
 
* GrĂŒnbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015.
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* Hahn, Barbara: The Art of Dreams. Literature. Philosophy. Dance. Theatre, editor (with Meike Werner), Amsterdam: Rodopi 2013, 90-92.
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* Hahn, Barbara: „Chaque Ă©poque rĂȘve la suivante“, or: How to Read a „Bilderatlas“ of the Twentieth Century? In: Dies./Meike G. Werner (Hg.), The Art of Dreams. Reflections and Representations. Berlin, Boston: de Gruyter 2016, 85–95.
 
* Hahn, Barbara: Endlose Nacht. TrĂ€ume im Jahrhundert der Gewalt. Berlin: Suhrkamp 2016, Kapitel: „Das Dritte Reich des Traums“, 31-37.
 
* Hahn, Barbara: Endlose Nacht. TrĂ€ume im Jahrhundert der Gewalt. Berlin: Suhrkamp 2016, Kapitel: „Das Dritte Reich des Traums“, 31-37.
 
* Hahn, Barbara: Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus. In: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Berlin: Suhrkamp 2016, 148-155.
 
* Hahn, Barbara: Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus. In: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Berlin: Suhrkamp 2016, 148-155.
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Version vom 23. MĂ€rz 2017, 13:36 Uhr

Das Dritte Reich des Traums ist eine Sammlung von ca. 50 Traumberichten und zahlreichen weiteren, seriell bzw. in Variationen wiedergegebenen TrĂ€umen mit politischer Dimension, welche die Journalistin Charlotte Beradt zwischen 1933 und 1939 aufzeichnet und spĂ€ter im Exil publiziert. Die ursprĂŒnglich ca. 300 Traumprotokolle von TrĂ€umern unterschiedlichen Alters, Glaubens, Geschlechts, Berufs und sozialer Schicht können als „seismographische Aufzeichnungen“ des beginnenden nationalsozialistischen Terrors gelten (Lux 2008, 12 nach Beradt 1981, 10). Sie dokumentieren anhand eindrĂŒcklicher Traumbilder, Traumsituationen und Traumereignisse, wie die Nazi-Ideologie zunehmend in die Wahrnehmung des einzelnen Individuums eindringt. Die erzĂ€hlten TrĂ€ume erweisen sich als verlĂ€ngerter Arm des Regimes und zugleich als Erkenntnismedium der Struktur totalitĂ€rer Herrschaft (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 127).


Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption

Das Werk der Publizistin Charlotte Beradt, geboren am 7. Dezember 1907 in Forst in der Lausitz, gestorben am 15. Mai 1986 im Exil in New York, umfasst unter anderem eine Biographie des Politikers Paul Levi, die Übersetzung mehrerer politischer Essays von Hannah Arendt aus dem Amerikanischen ins Deutsche sowie die Herausgabe der Briefe Rosa Luxemburgs an ihre Freundin Mathilde Jacob. Bekannt ist die Journalistin aus jĂŒdischer Familie, die in den 1920er und 30er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands ist, heute jedoch vor allem fĂŒr ihre Sammlung politischer TrĂ€ume, die sie zwischen 1933 und 1939 aufzeichnet und spĂ€ter unter dem Titel Das Dritte Reich des Traums publiziert. Ab 1933 aufgrund einer Denunziation vorĂŒbergehend inhaftiert und unmittelbar darauf mit einem Berufsverbot belegt (Steuwer 2017, 534), befragt Beradt seit Beginn der Machtergreifung Hitlers Bekannte, Freunde und weitere Personen in ihrem Umfeld nach deren politischen TrĂ€umen, notiert diese in verschlĂŒsselter Form, versteckt sie und schickt sie schließlich ins Ausland, bevor sie mit ihrem Ehemann 1938 ĂŒber London nach New York ins Exil flieht, wo sie ab 1939 bis zu ihrem Tode bleibt (vgl. Bulkeley 1994, 115).

1943 publiziert sie auf Anraten von Karl Otten in der Zeitschrift Free World den Essay „Dreams under Dictatorship“, in dem sie einen Teil des gesammelten Materials zum ersten Mal fĂŒr eine öffentliche Leserschaft aufbereitet und kommentiert (vgl. Hahn in Beradt 2016, 148-150). Mit einem Abstand von 20 Jahren wird es im Rahmen einer Radiosendung des Westdeutschen Rundfunks zum ersten Mal auch in Deutschland zugĂ€nglich gemacht (Beradt 1963). 1966 gibt der MĂŒnchner Nymphenburg Verlag eine ausfĂŒhrliche, in elf Kapitel unterteilte Version der Traumsammlung heraus (Beradt 1966), die 1981 und 1994 vom Suhrkamp Verlag wieder aufgelegt und von Reinhart Koselleck mit einem Nachwort versehen wird (Beradt 1981 und 1994). Seitdem gilt die mittlerweile in mehrere Sprachen ĂŒbersetze Sammlung der Traumaufzeichnungen (u.a. Beradt 1968, Beradt 1991, Beradt 2002), die Beradt als „kleine[n] Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus“ versteht (zit. nach Hahn in Beradt 2016, 149), als bedeutsame Quelle zur Erforschung der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus (vgl. Steuwer 2017, 536 u. 539) und als eindrĂŒcklicher Einblick in die Mechanismen und Strategien zur Durchsetzung totalitĂ€rer Herrschaft (z.B. Bettelheim in Beradt 1968, 167).

In einem literaturwissenschaftlichen Kontext ist die Sammlung insofern von Bedeutung, als die Traumaufzeichnungen von der Herausgeberin nicht nur programmatisch in einen literarischen Kontext eingebettet werden, sondern aufgrund ihrer eigenen literarischen QualitĂ€ten gerade den Modus fiktionaler, Ă€sthetischer Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit als Zugangsmöglichkeit zu den nicht realistisch darstellbaren Dimensionen der RealitĂ€tserfahrung vor Augen fĂŒhren (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 121). DarĂŒber hinaus dienen Beradts Traumprotokolle bis heute als Inspirationsquelle fĂŒr zahlreiche spĂ€tere BeschĂ€ftigungen mit dem VerhĂ€ltnis von Traum und Politik, insbesondere fĂŒr Überlegungen zum Einfluss politischer Gewalt auf individuelle Erfahrungswelten und subjektive Wahrnehmungsmuster. So finden sich einige der von Beradt notierten TrĂ€ume, die mittlerweile eine besondere Bekanntheit erlangt haben, in Durs GrĂŒnbeins autobiographischem „Kaleidoskop“ Die Jahre im Zoo (GrĂŒnbein 2015). Sie bilden ferner den Ausgangspunkt fĂŒr das von W. Gordon Lawrence entwickelte Konzept des „Social Dreaming“ (Lawrence 2003; Bain 2007), fĂŒr Kulturprojekte wie die Theaterperformance Die TrĂ€ume von uns der Gruppe Helfersyndrom (Helfersyndrom 2015) oder fĂŒr die philosophisch-Ă€sthetische Auseinandersetzung mit eigenen TrĂ€umen, wie sie Elisabeth Lenk vornimmt, die in Die unbewusste Gesellschaft den Traum in seiner spezifisch Ă€sthetischen Form gegen die Reduktion auf Trauminhalte durch ihre Deuter verteidigt (Lenk 1983). Auch Georges Didi-Hubermans kunstphilosophische Perspektive auf Benjamin und Agamben widmet sich den von Beradt aufgezeichneten Kollektiv-TrĂ€umen: Er sieht in ihnen ein geheimes Wissen in Bildern aufgehoben, dessen widerstĂ€ndiges Ă€sthetisches Potenzial er in besonderem Maße hervorhebt (Didi-Huberman 2009, 117 u. 118).

Nachdem Das Dritte Reich des Traums ĂŒber lange Zeit hinweg vergriffen war, gab Barbara Hahn im Jahre 2016 eine Neuauflage heraus, in der sich auch erstmals eine von der Herausgeberin verfasste Übersetzung des 1943 in Free World publizierten Essays findet (Hahn in Beradt 2016, 137-147). In diesem Zusammenhang zeigt Hahn auch pointiert die Unterschiede zwischen der PrĂ€sentation des Materials in Essay und Buch auf: Der historische Abstand von ca. 20 Jahren fĂŒhrt dazu, dass die TrĂ€umenden in der spĂ€teren Ausgabe mit ihrer extremen EmotionalitĂ€t, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollstĂ€ndig zurĂŒcktreten (Hahn 2016, 32). Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten Informationen voran, die allgemeine IdentitĂ€tskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der TrĂ€umenden festhalten und die Bedeutung der berichteten TrĂ€ume vorwegnehmen. Im Essay prĂ€sentiert Beradt also viele TrĂ€ume auf vergleichsweise engem Raum. Hahn stellt hierfĂŒr eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest (Hahn 2016, 36). WĂ€hrend die Traumberichte des Essays damit mehr oder weniger fĂŒr sich sprechen und auf diese Weise eine gewisse Autonomie erlangen, sind sie in der Buchsammlung Teil eines grĂ¶ĂŸeren Interpretations- und Verweisungszusammenhangs aus Zitaten, Motti sowie Parallelisierungen mit Motiven, Themen und ErzĂ€hlverfahren aus der Literatur. Diese erfolgen, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre, so dass mit der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das VerhĂ€ltnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus prĂ€sentiert und forciert wird (Steuwer 2017, 538ff.).


Die TrÀume

Beispiele

Die folgende Auflistung umfasst die Titel der elf Kapitel des Buches (ohne Motti) und fĂŒhrt im Anschluss exemplarisch einen besonders reprĂ€sentativen Traum der jeweiligen Kategorie im vollstĂ€ndigen Wortlaut auf. Die ergĂ€nzenden Kommentare der TrĂ€umenden und der Herausgeberin wurden gestrichen. Es handelt sich bei den ausgewĂ€hlten Beispielen entweder um den Traum, aus dem das Titelzitat entstammt, oder um einen Traum, der die Gesamtthematik des jeweiligen Kapitels in besonders prĂ€gnanter Weise auf den Punkt bringt:


1. Kapitel: Das Dritte Reich des Traums – Entstehungsgeschichte

„Goebbels kommt in meine Fabrik. Er lĂ€ĂŸt die Belegschaft in zwei Reihen, rechts und links, antreten. Dazwischen muß ich stehen und den Arm zum Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm millimeterweise hochzubekommen. Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne MißfallensĂ€ußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er fĂŒnf Worte: ‚Ich wĂŒnsche Ihren Gruß nicht’, dreht sich um und geht zur TĂŒr. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten, am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich nur dazu imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte, wĂ€hrend er hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so“ (Beradt 1981, 7).


2. Kapitel: Der Umbau der Privatperson oder „Das wandlose Leben“

„WĂ€hrend ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen neun Uhr abends, mit einem Buch ĂŒber Matthias GrĂŒnewald friedlich auf dem Sofa ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos. Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben keine WĂ€nde mehr. Ich höre einen Lautsprecher brĂŒllen: ‚Laut Erlaß zur Abschaffung von WĂ€nden vom 17. des Monats’“ (Beradt 1981, 19).


3. Kapitel: BĂŒrokratische GreuelmĂ€rchen oder „Ich finde an nichts mehr Freude“

„Ich telefoniere abends um acht mit meinem Bruder, meinem einzigen vertrauten und Freund, wie jeden Abend. Nachdem ich als Vorsichtsmaßnahme gerĂŒhmt habe, wie richtig Hitler es macht und wie gut man es hat in der Volksgemeinschaft, sage ich: ‚Ich finde an nichts mehr Freude’. Mitten in der Nacht ruft es an. Eine ausdruckslose Stimme sagt: ‚Hier Dienststelle zur Überwachung von TelefongesprĂ€chen’ – sonst nichts. Ich weiß sofort, das mit der Freude war mein Verbrechen, ich höre mich Argumente gebrauchen, bitten und flehen, man soll mir das eine Mal verzeihen, nur dieses eine Mal nichts melden, nichts weitergeben, nichts ankreiden. Ich höre mich reden wie im PlĂ€doyer. Die Stimme bleibt absolut stumm und hĂ€ngt stumm ab, lĂ€ĂŸt mich in der quĂ€lenden Ungewissheit“ (Beradt 1981, 31).


4. Kapitel: Der Alltag in der Nacht oder „Damit ich mich selbst nicht verstehe“

„Ich erzĂ€hle einen verbotenen Witz, aber aus Vorsicht falsch, so daß er keinen Sinn mehr hat“ (Beradt 1981, 41).

„Ich trĂ€ume, daß ich nur noch von Rechtecken, Dreiecken und Achtecken trĂ€ume, die alle irgendwie wie WeihnachtsgebĂ€ck aussehen, weil es doch verboten ist zu trĂ€umen“ (Beradt 1981, 42).


5. Kapitel: Der Nicht-Held oder „Und sage kein Wort“

„Ich bin in einem Konzentrationslager, aber es geht allen HĂ€ftlingen sehr gut, Diners werden abgehalten, es gibt Theatervorstellungen. Ich denke, es ist also doch sehr ĂŒbertrieben, was man so aus Lagern hört, da sehe ich mich in einem Spiegel: ich habe die Uniform eines Lagerarztes an, besondere Schaftstiefel, die glitzern wie Brillanten. Ich lehne mich an den Stacheldraht und fange wieder zu weinen an“ (Beradt 1981, 49).


6. Kapitel: Der Chor oder „Da kann man nichts machen“

„Ich trĂ€ume, ich habe ein Kind von einem Arier, das seine Mutter mir wegnehmen will, weil ich nicht rein arisch bin. ‚Seit meine Mutter tot ist’, schreie ich, ‚kann mir keiner von euch mehr was anhaben’“ (Beradt 1981, 54).


7. Kapitel: Doktrinen machen sich selbstĂ€ndig oder „Die Dunkelhaarigen im Reich der Blonden“

„Sonntags im Tiergarten. Blonde SpaziergĂ€nger auf allen Wegen. Ich höre jemanden zu seinem Begleiter sagen: ‚Emma kommt mit ihren Mietern nicht aus, sie stehlen wie die’ –, hier fĂŒhle ich mit tiefster Scham, er wird sagen, wie die Rabenschwarzen, da sagt er es schon“ (Beradt 1981, 67).


8. Kapitel: Handelnde Personen oder „Man muß nur wollen“

"Ich bemĂŒhe mich nachts unaufhörlich, das Hakenkreuz aus der Nazifahne zu trennen, und bin stolz und glĂŒcklich dabei, aber tags darauf ist es immer wieder fest angenĂ€ht“ (Beradt 1981, 74).


9. Kapitel: VerhĂŒllte WĂŒnsche oder „Endstation Heil“

„Der ‚Tag der Einheit der Nation’ wird gefeiert. In einem fahrenden Zug, im Speisewagen, stehen Tische, an denen lange Reihen von Menschen sitzen. Ich sitze allein an einem kleinen. Ein politisches Lied klingt so ulkig, daß ich lachen muß. Ich setze mich an einen anderen Tisch, muß aber wieder lachen. Es hilft nichts, ich stehe auf, will hinausgehen, da ĂŒberlege ich: Vielleicht ist es gar nicht so ulkig, wenn man mitsingt, und singe mit“ (Beradt 1981, 88).


10. Kapitel: Offene WĂŒnsche oder „Den wollen wir dabeihaben“

„Ich sehe, als ich vom Einholen komme, daß auf der Straße getanzt werden soll – wie in Frankreich am Bastilletag –, weil ein Feiertag zur Erinnerung an den Reichstagsbrand ist. Man sieht ĂŒberall Freudenfeuer – Quadrate mit Seilen abgesperrt, und die Paare gehen unter den Seilen durch wie Boxer... Ich finde das sehr hĂ€ĂŸlich. Da umfaßt mich jemand mit starken HĂ€nden von hinten und zieht mich durch ein Seil auf die TanzflĂ€che. Als wir zu tanzen anfangen, erkenne ich, es ist Hitler, und finde alles sehr schön“ (Beradt 1981, 97).


11. Kapitel: TrĂ€umende Juden oder „Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz“

„Zwei BĂ€nke stehen im Tiergarten, eine normal grĂŒn, eine gelb, und zwischen beiden ein Papierkorb. Ich setze mich auf den Papierkorb und befestige selbst ein Schild an meinem Hals, wie es blinde Bettler zuweilen tragen, wie es aber auch ‚RassenschĂ€ndern’ behördlicherseits umgehĂ€ngt wurde: ‚Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz’“ (Beradt 981, 104).


Auswahlkriterien und AuthentizitÀt

Die Kriterien, nach denen Charlotte Beradt die ihr berichteten TrĂ€ume in die Sammlung aufnimmt, legt sie im ersten Kapitel ihres Buches dar: Sie wĂ€hlt nur TrĂ€ume aus, deren politischer Gehalt durch die offensichtlichen BezĂŒge zum nationalsozialistischen Regime unmittelbar erkennbar ist (Beradt 1981, 13). Aussortiert hat sie dabei all jene Traumaufzeichnungen, die von körperlicher Gewalt und physiologischer Angst handeln oder eindeutige erotische Phantasien darstellen. Ihre (allerdings nicht unbedingt ĂŒberzeugende) BegrĂŒndung lautet, dass gerade diese TrĂ€ume ĂŒberzeitlicher Natur seien, nicht als reprĂ€sentativ fĂŒr die Zeit des Nationalsozialismus gelten können und daher wenig ĂŒber die gesellschaftspolitische Situation aussagen, die sie hervorbringen; nĂ€mlich die allmĂ€hliche Herstellung des „totalen Untertans“ (Beradt 1981, 16). Zur Frage der AuthentizitĂ€t der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverstĂ€ndlich und unvermeidlich, dass die TrĂ€ume in der ErzĂ€hlung „retouchiert“ wurden (Beradt 1981, 11). DarĂŒber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachtrĂ€glich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der HeterogenitĂ€t der TrĂ€umenden stilistisch und in ihrer ErzĂ€hlstruktur ausgesprochen homogen.


Textsorte

Was die Textsorte der Traumprotokolle angeht, so bezeichnet Beradt ihre Sammlung in Analogie zu privaten TagebĂŒchern als „NachtbĂŒcher“ (Beradt 1981, 10), die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von grĂ¶ĂŸerer UnwillkĂŒrlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit (zu) deuten“ (ebd.). Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die spezifische Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spĂ€testens seit der Publikation der TrĂ€ume  Friedrich Huchs als eigenstĂ€ndige Kunstgattung gelten können (Schmidt-Hannisa 2011, 111). Damit stellt er die besondere LiterarizitĂ€t der Sammlung in den Fokus seiner Betrachtungen. Beradt bezeichnet die prĂ€sentierten TrĂ€ume mehrfach als „Fabeln“ (Beradt 1981, 112 u. 113), als „Parabeln“ (Beradt 2016, 15, 61 u.a.) – als Formen uneigentlichen Sprechens also –, aber auch als „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ (Beradt 1981, 14). Sie verwendet des weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“, die stets in auffĂ€lliger Weise zwischen Tragik und Komik oszillieren (Beradt 1981, 15 u. 20). In jedem Falle demonstriert die Art und Weise der PrĂ€sentation ihrer gesammelten TrĂ€ume einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial von TrĂ€umen. Dieses fĂŒhrt Hans Walter Schmidt-Hannisa auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die AuthentizitĂ€t der Traumerfahrungen zurĂŒck (vgl. Schmidt-Hannisa 2011, 107 u. 108). Beradt zeigt also mit ihrer PrĂ€sentationsform der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform fĂŒr das UnausdrĂŒckbare“ darstellen (Beradt 1981, 15).


Aufbau

Der Aufbau der Sammlung folgt einer minutiös durchkomponierten Anordnung, die Barbara Hahn detailliert analysiert hat: Insgesamt werden 50 TrĂ€ume vollstĂ€ndig wiedergegeben, wobei ursprĂŒnglich ca. 300 Personen befragt wurden, deren Berichte als Variationen ein- und derselben Erfahrung ergĂ€nzt werden. 20 TrĂ€umer kommen innerhalb der Sammlung mehrfach zu Wort; sei es, weil sie unterschiedliche TrĂ€ume zu Protokoll geben, sei es, weil sie selbst einen Grundtraum in mehreren AusprĂ€gungsformen oder ganze Traumserien zu berichten haben. Das Buch umfasst elf Kapitel. In deren Gesamtanordnung macht Barbara Hahn eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches ĂŒber die Entwicklungsstationen des totalitĂ€ren Regimes verlĂ€uft und kurz vor dem Ende durch einen Teil zu den widerstĂ€ndig handelnden TrĂ€umern unterbrochen wird, bevor es mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem ĂŒber Frauen, deren TrĂ€ume als zumeist beschĂ€mende WunschtrĂ€ume, sich mit Hitler oder anderen NS-GrĂ¶ĂŸen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel ĂŒber „trĂ€umende Juden“ (Hahn in Beradt 2016, 152 u. 153). Auch wenn diese Anordnung mit der besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklĂ€rt wird, die im Gegensatz zur ĂŒbrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen (Beradt 1981, 100), so fĂ€llt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder Rasse bzw. Religion folgt. Damit lassen sich der Sortierung des Materials durchaus latent antisemitische oder misogyne ZĂŒge bescheinigen (vgl. LĂŒhe 2014, 320).

Jedes Kapitel wird durch einen Titel eröffnet, der das zentrale Thema der im Folgenden prĂ€sentierten TrĂ€ume benennt. Darauf folgt ein kurzes, prĂ€gnantes Zitat eines TrĂ€umers, der spĂ€ter seinen Traum erzĂ€hlt. Jedem Kapitel sind zudem zwei Motti vorangestellt. Hierbei handelt es sich um eine, wie Hahn treffend bemerkt, „waghalsige Mischung“; nĂ€mlich eine „spannungsgeladene Vielfalt“ aus Zitaten des Alten und Neuen Testaments, von NS-Theoretikern, Schriftstellern und Dichtern sowie mehreren Propagandisten der nationalsozialistischen Ideologie (Hahn in Beradt 2016, 153). Hahn konstatiert, es handle sich also weniger um ein „neutrales Arrangement“ von Dokumenten, als vielmehr um die Konstruktion eines Dialogs aus mehreren Stimmen, deren GesprĂ€ch von Beradt nicht nur komponiert, sondern auch interpretiert wird (ebd.). Diese besondere Anordnung von „Traum, Kommentar und Zitat“ (Hahn in Beradt 2016, 152) schließt auch Informationen zum politischen, beruflichen und sozialen Umfeld der TrĂ€umenden mit ein. Mitunter werden zudem Hinweise auf FamiliĂ€res und Weltanschauliches ergĂ€nzt, hĂ€ufig finden sich darĂŒber hinaus explizite Verweise auf Tagesreste und TraumanlĂ€sse – Verbindungen, die teils von den TrĂ€umern selbst hergestellt, teils eher spekulativ von der Herausgeberin gezogen werden.


IntertextualitÀt

Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt (Beradt 1981, 15), mit den Verfahren literarischer Texte ĂŒbereinstimmen, zeigt sie durch ResĂŒmees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitĂ€re Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zĂ€hlen, um sich zunĂ€chst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht, Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder anderer Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. Dostojewski, T.S. Elliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, ĂŒber die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Liedern, aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist wohl jedoch, dass nicht nur explizite intertextuelle Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die prĂ€sentierten TrĂ€ume deuten und in einen grĂ¶ĂŸeren kulturellen und historischen Kontext einbetten lassen.


Themen, Motive, Titel

Von den zahlreichen nennenswerten Themen, Figuren und Motiven der Traumsammlung seien nur die wichtigsten genannt. Hierzu zĂ€hlen unter anderem sich belebende Alltagsobjekte, die zu VerrĂ€tern werden (vgl. Bulkeley 1994, 120), die Figur des „stellvertretenden Meinungssagers“ (Beradt 1981, 47), die Erfindung technischer Kontroll- und EinschĂŒchterungsapparate, das Zusammenspiel von Henker und Opfer, der Druck von Terror und Propaganda, der zur Selbstzensur zwingt, das Zusammenbrechen von IndividualitĂ€t, Unterwerfung aus schlechtem Gewissen, schleichende Anpassung, SprechzwĂ€nge und Schweigegebote, das Errichten und Zusammenbrechen von Raumgrenzen, Verzerrung und Verfremdung von Propagandaparolen (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126ff. und Solte-Gresser 2017) sowie spezifische MetatrĂ€ume, etwa denjenigen ĂŒber das Verbot zu trĂ€umen.

Was den Titel der Traumprotokolle betrifft, so deutet Barbara Hahn die Tatsache, dass Beradt die Sammlung nicht, analog zum ursprĂŒnglichen Zeitschriftenessay, „TrĂ€ume im Dritten Reich“ oder „TrĂ€ume unter dem Dritten Reich“ genannt hat, in The Art of Dreams als Einschreiben einer historischen Dimension des wissenschaftlichen Traumdiskurses in das Genre des Traumberichts (Hahn 2013, 91 u. 92): Als „erstes Reich des Traums“ erscheint, will man dieser Interpretation folgen, das Zeitalter vor der Psychoanalyse, das zweite entsprĂ€che der Epoche der Freud'schen Traumdeutung, wohingegen mit dem Traumwissen im und vom Nationalsozialismus TrĂ€ume vorherrschen, die „now include their own interpretations. It could hardly be more dissapointing: there is no private life in dreams. No resistance to overarching rules. In their dreams, people teach themselves how to live under totalitarian rule. [...] the book seems to suggest, that the world of dreams under these circumstances is even more ‚real’ than the real world“ (Hahn 2013, 91).


Interpretation

Die drei maßgeblichen Intentionen der Publikation werden durch Charlotte Beradt selbst von Beginn an programmatisch offengelegt: Erstens geht es Beradt darum, die Traumprotokolle gegen eine psychoanalytische Deutung abzuschotten, auch oder gerade weil die Traumerfahrungen von zumeist psychoanalytisch informierten TrĂ€umern stammen. Dies wird nicht nur in den Kommentaren der Traumsammlung selbst, sondern auch in den kontroversen Positionen gegenĂŒber dieser Verweigerung einer psychoanalytischen Lesart der TrĂ€ume deutlich, wie sie in der Rezeption u.a. durch Bruno Bettelheim und Reinhardt Koselleck reprĂ€sentiert werden (s. hierzu den Absatz unten).

Zweitens prĂ€sentiert Beradt ihr Material aus einem deutlichen historischen Abstand heraus und damit rĂŒckwirkend auf der Folie der Erkenntnisse der Totalitarismus-Forschung, von der die Herausgeberin vor allem durch den engen Kontakt mit Hannah Arendt Kenntnis hat (vgl. hierzu LĂŒhe 2014, 323 u. 324). Insofern ist neben den zahlreichen Verweisen auf literarische Autoren, die Bibel und den Propaganda-Diskurs des Nationalsozialismus in erster Linie Arendts The Origins of Totalitarianism der entscheidende Intertext (Arendt 1951). Wie Janosch Steuwer herausgearbeitet hat, ist Beradts 1966 veröffentlichtes Buch ĂŒber das Eindringen des Öffentlich-Politischen ins Private „nicht einfach die Verschriftlichung dieser Erfahrung, sondern bereits Teil ihrer  wissenschaftlichen Deutung. Auch wenn Beradt in ihrem Buch vor allem ihre TrĂ€umer sprechen ließ und sich auf knappe Kommentierungen beschrĂ€nkte, setzte sie mit Auswahl und Gliederung eine Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen [...]; nĂ€mlich die Zerstörung einer vor staatlichen Zugriffen geschĂŒtzten Privatheit angesichts der Entgrenzung des politischen System“ (Steuwer 2017, 528).

Drittens werden die TrĂ€ume durchgehend in einem literarisch-philosophischen Kontext prĂ€sentiert und gelesen. Dieser soll die besondere Ă€sthetische QualitĂ€t des gesammelten Materials deutlich machen. Hierbei handelt es sich unbestritten um eine wesentliche Eigenschaft der Traumtexte. Allerdings wĂ€re diese ohne die durchgĂ€ngige Parallelisierung mit literarischen Werken, Autoren und deren Zitaten wohl sehr viel eindrĂŒcklicher zum Vorschein gelangt. Denn offenkundig ist, dass die TrĂ€ume nicht nur keine psychologische Deutung benötigen bzw. dass sie sich, indem individuelle und kollektive Traumerfahrung auf das engste miteinander verflochten sind (Böschenstein 1997, 131), einer solchen Deutung geradezu entziehen. Auch die kommentierende Interpretation durch Beradt selbst, die durch die literarischen Motti und erklĂ€renden Verbindungen zu den Themen, Motiven und Strukturen literarischer Texte der eigentlichen PrĂ€sentation der TrĂ€ume selbst zumeist sogar vorgeschaltet wird – und damit den Deutungsrahmen der TraumlektĂŒren vorgibt –, schmĂ€lert die unmittelbare Wucht der getrĂ€umten Bilder, Situationen und Ereignisse eher als sie hervorzuheben. Kritisch konstatiert daher Barbara Hahn in ihrer materialreichen und konsequent auf die Traumthematik fokussierten Studie ĂŒber TrĂ€ume im Jahrhundert der Gewalt: „Die TrĂ€ume derer, die einer historisch neuen Erfahrung ausgesetzt waren, stehen im GesprĂ€ch mit literarischen und theoretischen Texten“. „Das Dritte Reich des Traums ist 1966 zum bekannten Terrain geworden: Was den TrĂ€umern zustĂ¶ĂŸt, scheint in anderen Texten bereits aufgehoben“ (Hahn 2016, 36).

Die Verweigerung einer psychoanalytischen Lesart, von der Beradts erstes Kapitel zeugt, wird bereits von Bruno Bettelheim harsch kritisiert (Bettelheim in Beradt 1968, v.a. 154 u. 157). Einmal abgesehen davon, dass er selbst eine Deutung der prĂ€sentierten TrĂ€ume auf der Basis frĂŒhkindlicher Erfahrungen vornimmt, wirft er Beradt vor, ĂŒber den manifesten Trauminhalt hinaus keine Möglichkeit zu bieten, den latenten Traumgedanken der jeweiligen TrĂ€umer nachvollziehen zu können, weil die hierfĂŒr notwendigen freien Assoziationen der Berichtenden fehlen. DemgegenĂŒber heben Literaturwissenschaftler wie Hans-Walter Schmidt-Hannisa und Barbara Hahn, aber auch der Historiker Reinhart Koselleck und nicht zuletzt Charlotte Beradt selbst hervor, dass gerade der spezifische Aufzeichnungsmodus von Das Dritte Reich des Traums besondere RĂŒckschlĂŒsse sowohl auf die Strukturen totalitĂ€rer Herrschaft zulasse als auch auf das außergewöhnliche poetische und seismographische Erkenntnispotenzial, das in der Ă€sthetischen bzw. poetischen Traumform aufgehoben ist. So stellt Koselleck zu Recht fest, dass in den prĂ€sentierten TrĂ€umen manifester Trauminhalt und latenter Traumgedanke mehr oder weniger unmittelbar zur Deckung gelangen (Koselleck in Beradt 1981, 128). Laut Schmidt-Hannisa bringen die TrĂ€ume Seiten der Diktatur zum Vorschein, die sich auf andere Weise nicht erkennen lassen (Schmidt-Hannisa 2011, 111) bzw. die, wie Koselleck darlegt, durch andere Quellen nicht zugĂ€nglich gemacht werden können (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 125).

Der besondere Wert der Aufzeichnungen besteht demnach vornehmlich darin, dass es sich um eine dokumentarische Sammlung narrativer Texte handelt, die weder realistisch ist, noch realistisch sein will: „TrĂ€ume, obwohl nicht willentlich produzierbar, gehören gleichwohl zum Bereich menschlicher Fiktionen. Sie bieten keine realistische Darstellung der Wirklichkeit, werfen jedoch ein besonders grelles Licht auf jene Wirklichkeit, der sie entstammen“ (Koselleck in Beradt 1981, 125). Gerade die Einsicht in die Unmöglichkeit eines unmittelbaren, gewissermaßen naiven Realismus ist es aber, die Literatur und Traum gemeinsam haben und die in Beradts Traumprotokollen besonders augenscheinlich wird. Hierin zeigt sich, wie Nadja Lux in ihrer umfassenden Studie zu Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’ erörtert, auch die Janusköpfigkeit des Traums, die das TrĂ€umen mit literarischen Texten gemein hat: Die Sammlung macht die Terrorisierung des Einzelnen durch den Traum offensichtlich, der dazu beitrĂ€gt, das totalitĂ€re System im Unterbewusstsein zu verankern. Zugleich zeigt sich aber auch die kreative Suche nach Auswegen im und durch den Traum: TrĂ€ume und ErzĂ€hlungen erfĂŒllen gleichermaßen die Funktion, Bilder und Worte fĂŒr die schiefe Logik, fĂŒr das Verkehrte und AbgrĂŒndige des Systems, fĂŒr die Verzerrungen und Verfremdungen der ideologisch durchtrĂ€nkten Wirklichkeit hervorzubringen (Lux 2008, 397). Dabei bergen sie mitunter, wie etwa die Meta-TrĂ€ume von Traumverbot und verschlĂŒsselter Traumsprache zeigen, ein deutlich subversives Potenzial.


Einordnung

Nadja Lux sieht die herausragende Bedeutung von Charlotte Beradts Traumsammlung unter anderem in der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven Erfahrungswelten des Nationalsozialismus hier weder aus der „Perspektive des Exils, noch aus der erinnerten RĂŒckschau innerer Emigranten nach 1945 vermittelt (werden), sondern im Spiegel zeitgenössischer TraumerzĂ€hlungen aus dem Innenraum der Diktatur“ erfolgen. Die Einsichten in die „Strukturen und Funktionsweisen totalitĂ€rer Herrschaft lassen sich also explizit aus der Ă€sthetischen Form ableiten“ (Lux 2008, 15). Indem die TrĂ€ume nicht die Ă€ußere Wirklichkeit zeigen, wie sie sich in der alltĂ€glichen Wahrnehmung bietet, sondern die Struktur, die in ihr verborgen ist, enthĂŒllen die erzĂ€hlten Traumgeschichten „die geheimen AntriebskrĂ€fte und EinpassungszwĂ€nge“ der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie „bezeugen – als fiktionale Texte – den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst. Sie werden in den Leib diktiert“ (Koselleck in Beradt 1981, 127 u. 128).

Die NĂ€he der TrĂ€ume zu literarisch-Ă€sthetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also ein spezielles Wissen ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Traum, ErzĂ€hlung und Totalitarismus, das keine andere Quellengattung in dieser AbgrĂŒndigkeit bietet. Damit erlangen die Traumtexte Beradts nicht nur eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten und Diskussionen um die Funktionen und Potenziale von Literatur. Sie haben auch einen wesentlichen Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird (vgl. Koselleck in Beradt 1981, 126).


SG


Literatur

Ausgaben (in chronologischer Reihung)

Erste Veröffentlichung einer Auswahl der Traumprotokolle in einem englischsprachigen Aufsatz:

  • Charlotte Beradt: Dreams under Dictatorship. In: Free World (Oktober 1943), 333-337.

Übersetzung der englischsprachigen Aufsatzversion von 1943:

  • Charlotte Beradt: TrĂ€ume unter der Diktatur. Übers. von Barbara Hahn. In: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Berlin: Suhrkamp 2016, 137-147.

Radiosendung:

  • TrĂ€ume vom Terror. Gesammelt und kommentiert von Charlotte Beradt. Westdeutscher Rundfunk, 21. MĂ€rz 1963.

Deutsche Erstausgabe:

  • Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. MĂŒnchen: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1966.

Übersetzungen:

Englische Erstausgabe:

  • Charlotte Beradt: The Third Reich of Dreams. Trans. from the German by Adriane Gottwald, with an essay by Bruno Bettelheim. Chicago: Quadrangle Books 1968.

Französische Ausgabe:

  • Charlotte Beradt: RĂȘver sous le IIIe Reich. PrĂ©face de Martine Leibovici, postface de Reinhart Koselleck et de François Gantheret. Traduit de l'allemand par Pierre Saint-Germain. Paris: Payot & Rivages 2002.

Italienische Ausgabe:

  • Charlotte Beradt: Il Terzo Reich dei sogni. Prefazione di Reinhart Koselleck, postfazione di Bruno Bettelheim. Traduzione di Ingrid Harbach. Torino: Einaudi 1991.


Verwendete Taschenbuchausgabe:

  • Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 1994.


Neuausgabe:

  • Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Berlin: Suhrkamp 2016.


Forschungsliteratur und weitere zitierte Literatur

  • Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. New York: Schocken Books 1951.
  • Bain, Alastair: The Organization as a Container for Dreams. In: Lawrence Gordon (Hg.): Infinite Possibilities of Social Dreaming. London: Karnac Books 2007, 148-161.
  • Bettelheim, Bruno: Essay. In: Charlotte Beradt: The Third Reich of Dreams. Trans. from the German by Adriane Gottwald, with an essay by Bruno Bettelheim. Chicago: Quadrangle Books 1968, 149-170.
  • Böschenstein, Renate: Der Traum als Medium der Erkenntnis des Faschismus. In: Renate Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 131-148.
  • Bulkeley, Kelly: Dreaming in a Totalitarian Society. A Reading of Charlotte Beradt's The Third Reich of Dreams. In: Dreaming 4 (1994) 2, 115-125.
  • Didi-Huberman, Georges: Images: Faire apparaĂźtre des rĂȘves. Charlotte Beradt ou le savoir-luciole. TĂ©moignange et prĂ©vision. L’autoritĂ© du mourant. In: Ders.: Survivance des Lucioles. Paris: Minuit 2009, 115-120.
  • Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Achte Auflage. Frankfurt/M.: Fischer 1991.
  • GrĂŒnbein, Durs: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015.
  • Hahn, Barbara: „Chaque Ă©poque rĂȘve la suivante“, or: How to Read a „Bilderatlas“ of the Twentieth Century? In: Dies./Meike G. Werner (Hg.), The Art of Dreams. Reflections and Representations. Berlin, Boston: de Gruyter 2016, 85–95.
  • Hahn, Barbara: Endlose Nacht. TrĂ€ume im Jahrhundert der Gewalt. Berlin: Suhrkamp 2016, Kapitel: „Das Dritte Reich des Traums“, 31-37.
  • Hahn, Barbara: Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus. In: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn. Berlin: Suhrkamp 2016, 148-155.
  • Helfersyndrom: Die TrĂ€ume von uns. Traumprotokolle. Mit Zeichnungen von Zeljko Vidovic. Lohmar: Hablizel 2015.
  • Koselleck, Reinhart: Nachwort. In: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, 117-132.
  • Lawrence, Gordon W: Experiences of Social Dreaming. London: Karnac Books 2003.
  • Lenk, Elisabeth: Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. Berlin: Matthes und Seitz 1983.
  • LĂŒhe, Irmela von der: Das Dritte Reich des Traums. I racconti onirici di Charlotte Beradt sotto la dictatura. In: Hermann Dorowin (Hg.): La sfuggente logica dell’anima. Il sono in letteratura. Studi in memoria di Uta Treder. Perugia: Morlachi 2014, 317-327.
  • Lux, Nadja: „Alptraum Deutschland“. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich’. Freiburg: Rombach 2008.
  • Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Nazi Terror and the Poetical Potential of Dreams. Charlotte Beradt’s Das Dritte Reich des Traums. In: Gert Hofmann et al. (Hg.): German and European Literature After the Holocaust. Crisis and Creativity. Rochester: Camden House 2011, 107-121.
  • Solte-Gresser, Christiane: „TrĂ€ume(n) an der Grenze. Politik und Poetik in Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums. In: Sikander Singh (Hg.): Grenze als Erfahrung und Diskurs; Jahrbuch der Gesellschaft fĂŒr Exilforschung 35 (2017) (in Vorbereitung).
  • Steuwer, Janosch: "Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse". Politik, Gesellschaft und privates Leben in TagebĂŒchern 1933-1939. Göttingen: Wallstein 2017 (im Druck).


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Solte-Gresser, Christiane: "Das Dritte Reich des Traums" (Charlotte Beradt). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Das_Dritte_Reich_des_Traums%22_(Charlotte_Beradt).