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Auch thematisch, motivisch und stilistisch sind die einzelnen Realitätsebenen ausgesprochen eng miteinander verflochten: Nicht nur ist der gesamte Text syntaktisch, lexikalisch und phonetisch von einer geradezu programmatischen Wiederholungsstruktur geprägt; auch durch die außergewöhnliche Bildlichkeit der Erzählung verschmelzen Traum und Wirklichkeit zusehends miteinander: Die sich öffnenden und schließenden Blüten etwa tauchen als Weinreben im Straßencafé und als Bild für den Orgasmus im Ehebett auf. Die blauen Adern charakterisieren gleichermaßen die traumhaft verwandelten Zapfsäulen, das erinnerte Dekolleté der Protagonistin und das schmorende Fleisch in der Pfanne. Die in den Krieg ziehenden Soldaten sind Gesprächsthema und Traumbild zugleich. Eine Differenzierung der einzelnen Ereignisse hinsichtlich ihres Realitätsstatus’ kann also bereits aufgrund der extremen Vieldeutigkeit und semantischen Offenheit des Textes nicht gelingen. Erschwert wird eine solche Zuordnung aber auch durch die radikal interne Fokalisierung: Die Perspektive der heterodiegetischen, sich also eigentlich außerhalb der erzählten Welt befindlichen Erzählinstanz (die zwischendurch übrigens zwei Mal in eine homodiegetische Stimme wechselt) ist so eng an die Hauptfigur gebunden, dass wir beim Lesen vollständig in die subjektive Erfahrungswelt Annas eintauchen müssen, um dem Geschehen überhaupt einigermaßen folgen zu können.
 
Auch thematisch, motivisch und stilistisch sind die einzelnen Realitätsebenen ausgesprochen eng miteinander verflochten: Nicht nur ist der gesamte Text syntaktisch, lexikalisch und phonetisch von einer geradezu programmatischen Wiederholungsstruktur geprägt; auch durch die außergewöhnliche Bildlichkeit der Erzählung verschmelzen Traum und Wirklichkeit zusehends miteinander: Die sich öffnenden und schließenden Blüten etwa tauchen als Weinreben im Straßencafé und als Bild für den Orgasmus im Ehebett auf. Die blauen Adern charakterisieren gleichermaßen die traumhaft verwandelten Zapfsäulen, das erinnerte Dekolleté der Protagonistin und das schmorende Fleisch in der Pfanne. Die in den Krieg ziehenden Soldaten sind Gesprächsthema und Traumbild zugleich. Eine Differenzierung der einzelnen Ereignisse hinsichtlich ihres Realitätsstatus’ kann also bereits aufgrund der extremen Vieldeutigkeit und semantischen Offenheit des Textes nicht gelingen. Erschwert wird eine solche Zuordnung aber auch durch die radikal interne Fokalisierung: Die Perspektive der heterodiegetischen, sich also eigentlich außerhalb der erzählten Welt befindlichen Erzählinstanz (die zwischendurch übrigens zwei Mal in eine homodiegetische Stimme wechselt) ist so eng an die Hauptfigur gebunden, dass wir beim Lesen vollständig in die subjektive Erfahrungswelt Annas eintauchen müssen, um dem Geschehen überhaupt einigermaßen folgen zu können.
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Betrachtet man den Text in seiner Gesamtstruktur, wird allerdings deutlich, dass die traumhaften Wahrnehmungen der Protagonistin den weitaus größten Teil der Erzählung ausmachen. Die äußeren Ereignisse in der zur Tankstelle gehörenden Wohnung bilden lediglich ein loses Gerüst für das, was sich im Inneren des Subjekts abspielt. Diese ausgesprochen abgründigen Erfahrungswelten werden erzähltechnisch zudem durch eine komplexe Verschachtelung mehrerer Traum- und Vorstellungsebenen inszeniert (Solte-Gresser 2011b, 259). Beispielsweise wird die erträumte Liebensbegegnung unter nächtlichem Himmel wie ein tatsächliches, einmaliges Erlebnis eingeführt („Un soir, et c’était dans le bois de Meudon, un homme était près d’elle“, Bourdouxhe 2009, 14, „Eines Abends, es war im Wald von Meudon, war ein Mann bei ihr“, Bourdouxhe 1998, 18). Am Ende der Episode jedoch, in der die Erzählstimme fast unmerklich von der dritten Person Singular in die Ich-Perspektive und das Tempus vom Präsens ins Futur wechselt, erstarrt das Paar zu einer geradezu allegorischen Vision. Damit stellt diese Passage genau genommen einen Meta-Traum dar – einen Traum im Traum eines weiteren Traumes:
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Betrachtet man den Text in seiner Gesamtstruktur, wird allerdings deutlich, dass die traumhaften Wahrnehmungen der Protagonistin den weitaus größten Teil der Erzählung ausmachen. Die äußeren Ereignisse in der zur Tankstelle gehörenden Wohnung bilden lediglich ein loses Gerüst für das, was sich im Inneren des Subjekts abspielt. Diese ausgesprochen abgründigen Erfahrungswelten werden erzähltechnisch zudem durch eine komplexe Verschachtelung mehrerer Traum- und Vorstellungsebenen inszeniert (Solte-Gresser 2011b, 259). Beispielsweise wird die erträumte Liebensbegegnung unter nächtlichem Himmel wie ein tatsächliches, einmaliges Erlebnis eingeführt („Un soir, et c’était dans le bois de Meudon, un homme était près d’elle“, Bourdouxhe 2009, 14; „Eines Abends, es war im Wald von Meudon, war ein Mann bei ihr“, Bourdouxhe 1998, 18). Am Ende der Episode jedoch, in der die Erzählstimme fast unmerklich von der dritten Person Singular in die Ich-Perspektive und das Tempus vom Präsens ins Futur wechselt, erstarrt das Paar zu einer geradezu allegorischen Vision. Damit stellt diese Passage genau genommen einen Meta-Traum dar – einen Traum im Traum eines weiteren Traumes:
    
„Je suis couchée avec cet homme auprès de moi. Je suis moi couchée, et à la fois hors de moi, et c’est comme si je me voyais. Je vois un homme et une femme couchés. Ils sont silcencieux, ils sont immobiles, figés. Ils resteront ainsi couchés, figés, même quand nos mains se désenlaceront et que nos gestes se reformeront. Il sont ainsi pour des siècles à venir (...). Et ils seront ainsi, homme et femme qui n’ont pas de nom, visibles éternellement, comme le marbre et la pierre, et il n’y a qu’eux sur la terre, et ils sont un sens de la terre“ (Bourdouxhe 2009, 16).
 
„Je suis couchée avec cet homme auprès de moi. Je suis moi couchée, et à la fois hors de moi, et c’est comme si je me voyais. Je vois un homme et une femme couchés. Ils sont silcencieux, ils sont immobiles, figés. Ils resteront ainsi couchés, figés, même quand nos mains se désenlaceront et que nos gestes se reformeront. Il sont ainsi pour des siècles à venir (...). Et ils seront ainsi, homme et femme qui n’ont pas de nom, visibles éternellement, comme le marbre et la pierre, et il n’y a qu’eux sur la terre, et ils sont un sens de la terre“ (Bourdouxhe 2009, 16).
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Wie viele der Bourdouxhe’schen Erzählungen, besitzt auch dieser Text eine metapoetische Dimension, nämlich eine intensive Auseinandersetzung mit Worten, Klängen und Bildern innerhalb der Erzählung selbst. Oft sind es einzelne Begriffe, eindringliche Laute, eine sich verselbständigende Bildlichkeit bestimmter Eindrücke oder ‚Geschichten in der Geschichte’, die den (Tag-)Traum hervorbringen und die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen miteinander verflechten: So wird die blutige Horrorvision vom Müll verseuchten Körper der Nachbarin ausgelöst, als Anna sich zahlreiche Kinofilme in Erinnerung ruft, die auf Tankstellen spielen, und diese mit der Banalität des eigenen Arbeitsplatzes vergleicht (Bourdouxhe 1998, 8-9). Das harmlose „hübsche Lied“ im Radio (Bourdouxhe 1998, 10; „pourtant une chanson gaie“, Bourdouxhe 2009, 7), durch das Anna in Panik verfällt, setzt die Unfallfahrt des Motorradfahrers in Gang (ebd.), oder ein bestimmtes Wort, das der Ehemann aussprechen will, bewirkt einen unvermittelten Tränenausbruch (Bourdouxhe 2009, 23). Der Traum am Ende der Erzählung schließlich verbindet über musikalische Klänge und den Liedtext sogar mindestens drei Wirklichkeitsebenen miteinander: Die einschlafende Anna nimmt die im Traum vorüberziehenden singenden Soldaten wahr. Sie „sieht“ die Soldaten und ist zugleich das Lied auf ihren Lippen (Bourdouxhe 2009, 24). Die träumende Figur wird eins mit einem Gesang, bei dem in jeder einzelnen Note, jedem „einzelnen herzzerreißenden Wort“ alle Wörter des Universums aufgehoben scheinen (ebd.). Der Traum erlangt auf diese Weise nicht nur eine überzeitliche, sondern auch eine poetologische Dimension: Bestimmte Wörter bilden den Übergang zwischen Traum- und Wachwelt, „beschwören“ „alle anderen Worte der Welt herauf“ (ebd.) und scheinen somit die Erzählung der ‚wirklichen’ Welt überhaupt erst hervorzubringen.
 
Wie viele der Bourdouxhe’schen Erzählungen, besitzt auch dieser Text eine metapoetische Dimension, nämlich eine intensive Auseinandersetzung mit Worten, Klängen und Bildern innerhalb der Erzählung selbst. Oft sind es einzelne Begriffe, eindringliche Laute, eine sich verselbständigende Bildlichkeit bestimmter Eindrücke oder ‚Geschichten in der Geschichte’, die den (Tag-)Traum hervorbringen und die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen miteinander verflechten: So wird die blutige Horrorvision vom Müll verseuchten Körper der Nachbarin ausgelöst, als Anna sich zahlreiche Kinofilme in Erinnerung ruft, die auf Tankstellen spielen, und diese mit der Banalität des eigenen Arbeitsplatzes vergleicht (Bourdouxhe 1998, 8-9). Das harmlose „hübsche Lied“ im Radio (Bourdouxhe 1998, 10; „pourtant une chanson gaie“, Bourdouxhe 2009, 7), durch das Anna in Panik verfällt, setzt die Unfallfahrt des Motorradfahrers in Gang (ebd.), oder ein bestimmtes Wort, das der Ehemann aussprechen will, bewirkt einen unvermittelten Tränenausbruch (Bourdouxhe 2009, 23). Der Traum am Ende der Erzählung schließlich verbindet über musikalische Klänge und den Liedtext sogar mindestens drei Wirklichkeitsebenen miteinander: Die einschlafende Anna nimmt die im Traum vorüberziehenden singenden Soldaten wahr. Sie „sieht“ die Soldaten und ist zugleich das Lied auf ihren Lippen (Bourdouxhe 2009, 24). Die träumende Figur wird eins mit einem Gesang, bei dem in jeder einzelnen Note, jedem „einzelnen herzzerreißenden Wort“ alle Wörter des Universums aufgehoben scheinen (ebd.). Der Traum erlangt auf diese Weise nicht nur eine überzeitliche, sondern auch eine poetologische Dimension: Bestimmte Wörter bilden den Übergang zwischen Traum- und Wachwelt, „beschwören“ „alle anderen Worte der Welt herauf“ (ebd.) und scheinen somit die Erzählung der ‚wirklichen’ Welt überhaupt erst hervorzubringen.
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