"Träume" (Günter Eich)

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Das Hörspiel Träume (1951) zählt neben einigen Gedichten zu den bedeutendsten Werken des Autors Günter Eich (1907-1972). Es besteht aus fünf in Dialogform inszenierten Träumen, die ursprünglich als Hörspiel-Zyklus für den Nordwestdeutschen Rundfunk verfasst wurden. Die einzelnen Episoden bilden eine Folge von unverbundenen Alpträumen, die emblematisch für die gesellschaftspolitische Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stehen. Zentrale Themen sind Erinnern und Vergessen, Verdrängung und Verantwortung, Feindschaft und Solidarität, Flucht und Resignation. Gerahmt werden sie durch zwei Gedichte Eichs über das Verhältnis von Traum, traumlosem Schlaf und wacher Anteilnahme am Weltgeschehen.


Entstehung und Rezeption

Das Hörstück wurde am 19. April 1951 erstmals vom Nordwestdeutschen Rundfunk unter der Regie von Fritz Schröder-Jahn mit prominent besetzten Sprecherrollen ausgestrahlt. Bereits im Vorfeld der Sendung hatte die Rundfunkanstalt mit kritischen Zuschauerreaktionen gerechnet. Die wütenden und verständnislosen Proteste, die während und im Anschluss an die Ursendung erfolgten, übertrafen jedoch sämtliche Befürchtungen. Eine Zusammenstellung der Reaktionen liefert Ruth Schmitt-Lederhaus (1989, 27-49). Mit seiner programmatischen Kritik an einem selbstzufriedenen ‚Dämmerzustand’ der Nachkriegsbevölkerung, welche die Augen vor der eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus verschloss, hatte Eich einen Nerv der Zeit getroffen. Vor allem die ersten beiden Träume wurden unmittelbar auf den Genozid und die Euthanasie der Nationalsozialisten bezogen. Die Traumszenen selbst stellen allerdings keine explizite Verbindung zum nationalsozialistischen Terror her, sondern legen diese allenfalls symbolhaft nahe. Das Hörspiel wurde nach seiner Erstsendung 15 Jahre lang nicht mehr ausgestrahlt. Demgegenüber erfährt die gedruckte Fassung, die erstmals 1953 erschien, eine deutlich positivere Resonanz (Goß 1988, 160-163). Im November 1954 fügt Eich seinen fünf Träumen noch einen sechsten hinzu. Dieser ersetzte in späteren Hörspiel-Sendungen oftmals den wegen eines kannibalischen Kindermordes besonders umstrittenen zweiten Traum der Urfassung (Karst 1992, 481). 1966 wurde der Alptraum-Zyklus in Eichs Sammlung 15 Hörspiele aufgenommen. Der ursprüngliche Eingangsdialog der Hörspielfassung ist in der gedruckten Ausgabe durch ein programmatisches Gedicht ersetzt, das sich in kritischer Art und Weise mit einem traumlosen, die Augen vor der Realität verschließenden Schlaf auseinandersetzt.Was die Bedeutung der Träume selbst angeht, so bemerkt Karl Korn anlässlich der Buchausgabe: „Wer die [...] Traumspiele gelesen hat, der fühlt sich wie von Magie angerührt. [...] Traumgestalten werden leibhaftig, betrachtet mit dem Tiefsinn verschütteter Kindheitsträume. Traumdeutung ist Günter Eichs Gedicht, und man kann zu seinem Ruhme wohl nicht mehr sagen, als daß er unser aller Träume dichtet“ (Korn zitiert nach Karst 1992, 482). Gleichwohl steht das spezifisch Traumhafte der einzelnen Alpträume bislang nicht im Zentrum der Forschung. Eine Interpretation auf der Grundlage der Freud’schen Traumdeutung liefert allerdings Schmitt-Lederhaus (1989, 76-117). Jörg Döring hat anhand des ersten Traums die einzelnen Phasen der Rezeption in Deutschland untersucht und nachgewiesen, wie dieser Traum „auf je zeitbedingte Weise einer kreativen Fehllektüre unterzogen wird“ (Döring 2009, 142). Diese reicht von der vehementen Abwehr des ‚Unzumutbaren’ über kollektives Beschweigen und das von den Hörern/Lesern ignorierte Angebot, sich in die Opfergemeinschaft des Zweiten Weltkriegs zu integrieren, bis hin zur undifferenzierten Vereinnahmung durch die 1968-er Bewegung (Döring 2009, 160-161).


Die Träume

Überblick

Die in Günter Eichs Hörspiel inszenierten Träume sind auf doppelte Weise gerahmt. Den Prolog und den Epilog aller fünf bzw. sechs Alpträume bildet jeweils ein Mahngedicht, das sich unter anderem mit der eskapistischen Funktion des Schlafs und des Träumens auseinandersetzt. Das Eingangsgedicht warnt explizit vor der gesellschaftlichen Gefahr, die von einem traumlosen Schlaf ausgeht („und ich zweifle an der Güte des Schlafs, in dem wir uns alle wiegen“, Eich 1991, 351). Dieser erscheint dem lyrischen Ich wie ein fahrlässiges Ausblenden von „Gefängnis und Folterung, / Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt“ (ebd.). Das Schlussgedicht stellt in programmatischer Weise den „angenehmen Schlaf“ und das „Träumen“ einem für „das Entsetzliche“ empfänglichen Wachzustand gegenüber (Ursendung, vgl. Eich/Klöckner 1996, 39). Damit plädiert Eich für ein Bewusstsein, das den Skandalen, Verbrechen und Ungerechtigkeiten des Weltgeschehens wach und kritisch begegnet. Auch die einzelnen Träume selbst sind durch Gedichte miteinander verbunden, die jedoch nicht den Traum im engeren Sinne, sondern allenfalls traumähnliche Zustände zum Thema haben.

Während Prolog und Epilog in ihren allgemeinen Formulierungen das historisch unmittelbar zurückliegende nationalsozialistische Grauen geradezu ent-historisieren und verallgemeinern, stellt Eich jedem Traum selbst eine ausgesprochen konkrete, sachlich-präzise Einleitung voran. Hier sind jeweils Name, Herkunft und Beruf der Träumer, Zeitpunkt des Traums (zwischen 1947 und 1950) sowie der Ort, an dem sich der Traum zuträgt, genannt. Diese Fakten werden stets durch eine allgemeine Bemerkung über das Phänomen des Träumens ergänzt. So finden sich etwa Hinweise auf bestimmte Tagesreste und mitunter sogar auf eine ironisch reduzierte Traumtheorie, wie z.B. „Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist“, oder „Vermutlich werden die angenehmen Träume dieser Welt von den Schurken geträumt“ (Eich 1991, 351 und 359).

Jeder Ort, an dem die einzelnen Alpträume stattfinden, liegt auf einem anderen Kontinent; die Träumer sind ein Deutscher, eine Chinesin, ein Australier, ein Russe und eine Amerikanerin. Sie alle werden von Alpträumen heimgesucht. Die Figuren wiederum, die den Träumern erscheinen, werden meist nur durch ihr Geschlecht („Frau“), ihre Familienposition („Enkel“) oder ihren Beruf („Koch“) eingeführt. Damit spinnen die inszenierten Träume ein globales Netz aus alptraumhaften Szenarien, von denen jeder Durchschnittsmensch unmittelbar betroffen sein könnte.  

Im ersten Traum, der im Folgenden beispielhaft interpretiert wird, befinden sich Familienmitglieder mehrerer Generationen eingeschlossen in einem dunklen Güterwagon, der immer schneller auf ein unbekanntes Ziel hinsteuert. Der zweite Traum handelt von einem Paar, das sein Kind an eine reiche Dame verkauft. Diese schlachtet es und weidet es aus, um es schließlich ihrem kranken Ehemann als Medizin zu verabreichen. Thema des dritten Traumes ist der Fluchtversuch einer glücklichen Familie vor einem unbekannten Feind, der eine gesamte Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Der vierte Traum handelt von zwei Forschern auf Urwald-Expedition. Die Suppe, die ihnen von dem einheimischen Koch vorgesetzt wird, bewirkt, dass sie ihr Gedächtnis verlieren und alleine orientierungslos im Wald zurückbleiben. Im fünften Traum sind alle Menschen und Behausungen innerlich von Termiten zerfressen und bereits derart ausgehöhlt, dass sie jeden Moment zusammenzubrechen drohen. Der von Eich 1954 hinzugefügte sechste Traum, der in späteren Sendungen den zweiten ersetzte, führt einen Beamten vor, der in einem Hotelzimmer immer wieder nach einem Angestellten klingelt und erfahren muss, dass jedes Klingeln ein Fallbeil in Gang gesetzt hat. Sämtliche Träume steuern also auf eine Katastrophe zu und enden mit einem Schreckens-Szenario, das gerade in seiner Offenheit besonders alptraumhaft anmutet.


Der erste Traum

Beschreibung und Analyse

Der erste Traum handelt von Familienangehörigen mehrerer Generationen (Uralter, Uralte, Enkel, Frau und Kind), die sich allesamt eingesperrt in einem dunklen, fahrenden Güterwagon wiederfinden und dort von schimmeligem Brot ernährt werden. Nur die beiden ältesten Insassen können sich zu Beginn des Dialogs noch erinnern, dass einmal ein Leben außerhalb des Wagons existiert hat. Für alle anderen ist das „Dasein im Güterwagon das gewöhnliche“ (Eich 1991, 352). Das Gespräch der Eingeschlossenen dreht sich um den Anlass des Transportes, der im unmittelbaren Nachkriegskontext als Deportation verstanden werden muss: „Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten“ (Eich 19991, 352). Artikuliert werden die schwindenden Erinnerungen an die Welt außerhalb des Wagons und die Schwierigkeit, die Dinge der äußeren Realität überhaupt adäquat zu benennen: „Es gab etwas, was wir Himmel nannten und Bäume“, „Löwenzahn – was du für merkwürdige Wörter gebrauchst!“, „Alles Wörter, Wörter, – was sollen wir damit?“ (Eich 1991, 353 und 356).

Zwischen den Generationen besteht eine unüberwindliche Kluft: Kind und Enkel fühlen sich durch die Geschichten der Uralten verunsichert, gelangweilt oder provoziert. Daher stellen sie die Existenz einer Welt außerhalb des Wagons vollständig in Frage. Entscheidend ist, dass daraufhin die beiden Uralten selbst daran zu zweifeln beginnen, ob sie jemals ein Leben jenseits des Zugtransportes geführt haben. Dieser Zweifel wird genährt durch die Vorwürfe der Jüngeren an die Alten, Märchen zu erzählen, sich ihre Geschichten zusammengesponnen oder – dies wird mehrfach betont – die „Welt da draußen“ nur geträumt zu haben (Eich 1991, 354 und 355). Die schließlich auch für die Alten plausible Vorstellung von einem Traum (der also ein Traum innerhalb eines anderen Traumes wäre) führt zu einer vollständigen Ent-Wirklichung der Außenwelt: Wenn für die Realität keine Worte mehr existieren, so löst sich auch diese Wirklichkeit selbst auf.

Dieser Prozess erreicht seinen Höhepunkt, als durch einen Spalt im Holz des Wagons ein Lichtstrahl ins Innere fällt. Trotz ihrer Angst, nach draußen zu blicken, erspähen Enkel und Uralter ein Stück der äußeren Welt. Während der Enkel das Erblickte nicht versteht, weil ihm die Wörter zur Benennung fehlen, und er daher vor Angst seinen Blick abwenden muss, scheint der Uralte die frühere Umgebung zunächst durchaus zu erkennen: „Ich sehe den Löwenzahn, die Wiesen sind gelb davon. Da sind Berge und Wälder – mein Gott!“ (Eich 1991, 356). Doch was sich auf groteske Weise verändert hat, sind die diese Welt behausenden Menschen: „Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten“ (ebd.). Die menschlichen Gestalten sind zu furchteinflößenden Riesen geworden; die gesamte Wahrnehmung erscheint verzerrt. Die Furcht vor der Wahrheit ist so groß, dass das Loch mit vereinten Kräften verschlossen wird. Sämtliche Insassen ziehen die Gefangenschaft in der Dunkelheit der äußeren Wirklichkeit vor, deren grelles Licht schmerzt. Während Kind und Enkel beruhigt darüber sind, „daß es wieder ist wie vorher“ (Eich 1991, 357), stellen Uralter und Uralte fest, dass keine Rückkehr in den vorherigen Zustand mehr möglich ist (ebd.). Der Traumdialog endet damit, dass die Fahrtgeräusche immer lauter werden und sich die Geschwindigkeit des Zuges ins Unermessliche steigert. Der Ausruf des Uralten „Ich glaube, es geschieht ein Unglück. Hilft uns denn niemand?“ wird von dem Enkel mit einem hilflosen „Wer?“ beantwortet (Eich 1991, 357-358).


Interpretation

Dem ersten Traum wird folgende Einleitung vorangestellt:

„In der Nacht vom 1. zum 2. August 1948 hatte der Schlossermeister Wilhelm Schulz aus Rügenwalde in Hinterpommern, jetzt Gütersloh in Westfalen, einen nicht sonderlich angenehmen Traum, den man insofern nicht ernst nehmen muss, als der inzwischen verstorbene Schulz nachweislich magenleidend war. Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist” (Eich 1991, 351).

Auffällig ist also, dass der Traum drei Jahre nach Kriegsende von einem deutschen Vertriebenen geträumt wird. Der Träumer ist gerade kein Shoah-Überlebender, auch wenn der Gehalt des Traumes aufgrund seiner auffälligen KZ-Symbolik (Schmitt-Lederhaus 1989, 117) fast durchgehend als Deportationsgeschichte verstanden wurde (Karst 1992). Liest bzw. hört man den Traum im Zusammenhang mit dem unmittelbar vorangegangenen Gedicht, so wird die Tendenz zur Verallgemeinerung und Ent-Historisierung verstärkt: Das als Prolog fungierende Gedicht benennt die zurückliegenden Kriegsverbrechen nicht konkret, sondern evoziert diese lediglich in sehr allgemeinen Formulierungen, ohne die in den 1950er Jahren besonders brisante Frage nach einer möglichen Kollektivschuld zu stellen: „Sieh, was es gibt: Gefängnis und Folterung,/ Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt,/ den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint“ (Eich 1991, 351). Das den ersten mit dem zweiten Traum verbindende Gedicht geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur wird die eigene Kriegsvergangenheit generalisiert; der Text spielt zudem durch die Ortsangaben „Korea“ und „Bikini“ direkt auf das unmittelbare Weltgeschehen der Nachkriegsepoche an: den Koreakrieg (1950-1953) und die Atomwaffenversuche der USA zwischen 1946 und 1958 im Pazifischen Ozean.

Zwei weitere Momente, die auf den ersten Blick wie eine Verharmlosung des Traums erscheinen, lassen aufgrund ihres ironisch-sarkastischen Untertons aufhorchen: Die euphemistische Vorwegnahme, es handle sich um „einen nicht sonderlich angenehmen Traum“, und der Hinweis, dass der Traum gar nicht ernst zu nehmen sei, weil sich sein beunruhigender Gehalt durch die sogenannte Leibreiz-Theorie erklären lasse. Besonders diese Bemerkung birgt vor dem Hintergrund der entbehrungsreichen Nachkriegsjahre durchaus ein kritisches Potenzial: „Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist“ (Eich 1991, 351). Die beiden rahmenden Gedichte beinhalten darüber hinaus eine radikale Kritik an der eskapistischen Funktion von Schlaf und Traum: Dem in den 1950er Jahren vorherrschenden Bedürfnis, vor politischer Gewalt und den zurückliegenden Verbrechen die Augen zu verschließen, setzt der Autor einen eindeutigen Aufruf an seine Rezipienten entgegen, sich in das Weltgeschehen einzumischen, sich also in seinem „Nachmittagsschlaf“ „auf den Kissen mit roten Blumen“ ausdrücklich stören zu lassen (Urfassung, Eich/Klöckner 1996, 39). Besonders die im Kontext der 1968er-Bewegung berühmt gewordenen Verse: „Alles, was geschieht, geht dich an!“ (Eich 1991, 351) und „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“ (Eich/Klöckner 1991, 40) sind als Aufruf zu Verantwortung und politischer Einmischung zu verstehen.

Was das Traumgeschehen selbst angeht, so arbeitet der Text mit einer programmatischen Allgegenwart der traumatischen Erfahrung, welche die ältesten Familienmitglieder erlitten haben: Wenn der Uralte den Eingangssatz „Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten“ später als Frage wiederholt, so zeigt dies zum einen, dass sich die Erinnerungen des Uralten im Kreis drehen, es also kein Entrinnen aus der Vergangenheit gibt. Zum anderen verweist die Frage auch auf die grundsätzliche Problematik der Glaubwürdigkeit einer Erfahrung, die im Kontext der 1950er und 1960er Jahre noch längst nicht in das kollektive Gedächtnis eingedrungen ist (vgl. hierzu Gehle 2002 und Braese 2010). Auch der verzweifelte Ausruf „Weshalb hilft uns denn niemand?“ benennt die zentrale Frage, welche die Shoah-Opfer über Jahre hinweg immer wieder stellen und auf die sie keine Antwort erhalten (Schmitt-Lederhaus 1989, 116). Alle Betroffenen sind in derselben Situation gefangen – es handelt sich also nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Trauma mit einer Generationen übergreifenden Dimension: Man befindet sich zusammengepfercht in ein und demselben Raum, an dem „die Welt vorbei[fährt]“. Dieser Zustand im Güterwagon währt bereits 40 Jahre, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Der Traum stellt das traumatische Ereignis damit auf Dauer: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in einer Art Gefängnis zusammen, das in seiner Abgeschlossenheit immer weiter auf eine bedrohliche Katastrophe zusteuert. Festzuhalten bleibt, dass die Katastrophe selbst nicht benannt wird, also als konkretes Ereignis ausgespart bleibt – einzig ihr unmittelbares Bevorstehen lässt sich in Worte fassen.

Bemerkenswert ist des Weiteren eine geradezu programmatische Umkehrung von innerer (Traum-)Erfahrung und äußerer Realität: Während die alltägliche Wirklichkeit einem grundsätzlichen Zweifel unterzogen und als Traumgespinst klassifiziert wird – sie also den Status eines Traumes im Traum erhält –, stellt die gänzlich unrealistische Erfahrung, sich über mehrere Generationen-Zeiträume hinweg in einem Güterwagon zu bewegen, für die Betroffenen die einzige nicht in Frage zu stellende Realität dar. Diese Wahrnehmung der Normalität als traumhaft-irreal bzw. des traumatischen Ereignisses als allgegenwärtige Tatsache zeichnet auch zahlreiche andere Texte über die Shoah aus, die den Traum als ästhetisches Gestaltungsverfahren verwenden (vgl. z.B. die Artikel zu Primo Levi, Anna Langfus und Vercors).

Weitere Bedeutungsebenen erhält der Traum durch mehrere gerade für die Traum-Thematik relevante Intertexte, auf die sich Eich mehr oder weniger explizit bezieht (Klöckner 1996, 52-59). Ins Auge fällt beispielsweise die häufige Nennung der zugleich anwesenden und abwesenden „gelben Blume“, die als Objekt einer diffusen Sehnsucht erscheint. Ihre Existenz wird von den nachfolgenden Generationen grundsätzlich angezweifelt und explizit als Lüge bezeichnet: „Sie sprechen immer von gelben Blumen“, „Es gibt keine gelben Blumen, mein Kind“ (Eich 1991, 354 und 354). Hier drängt sich ein Bezug zur Epoche der Romantik geradezu auf: Die Blume lässt sich im Zusammenhang mit der Hauptfigur aus Novalis’ gleichnamigem Romanfragment verstehen, nämlich Heinrich von Ofterdingens Suche nach der „blauen Blume“, die um 1800 zum Sinnbild romantischer Sehnsucht wird (Novalis 1960). Bei Eich allerdings wird sie aufgrund der auffälligen Form- und Farbsymbolik in einen spezifisch jüdischen Kontext versetzt, so dass es nahelieht, sie mit dem gelben ‚Judenstern’ zu assoziieren (vgl. Schmitt-Lederhaus 1989, 103-104). Dass sie für die Nachkriegsgeneration abwesend oder erlogen ist und der Gedanke daran die beiden Uralten frösteln lässt (Eich 1991, 357), rückt das Traumerlebnis zusätzlich ins Licht der Shoah.

Auch Platons Höhengleichnis stellt einen entscheidenden Bezugstext für das Verständnis des Traumes dar (Eich/Klöckner 1996, 52-54). Versteht man das grelle Licht, das in den Wagon eindringt, als Ans-Licht-Bringen bzw. Ins-Licht-Rücken der unverstellten Wirklichkeit, so handelt der Traum auch von einem schmerzhaften Blick auf die nicht zu leugnende Wahrheit der Shoah: Wie die Höhlenbewohner in Platons Gleichnis die Täuschung durch die Schatten im Dunkeln der grellen Wahrheit vorziehen, so wollen auch die Insassen des Wagons die Wirklichkeit nicht kennen, verschließen die Augen vor ihr und verleugnen sie. Und wie für denjenigen, der bei Platon einmal das Licht der Wahrheit geschaut hat, keine Rückkehr zum illusionären Zustand der Gefangenschaft in der Höhle mehr möglich ist, stellen auch die Alten fest: „Es ist nicht wie vorher“ (Eich 1991, 357). In diesem Zusammenhang resümiert Lothar Schröder: „Der Blick ist ein existenzieller Schock, ist ein Blick hinter die Kulisse der Welt [...] Dieser Riss reicht aus, um das bis dahin geführte Leben als reine Staffage zu entlarven. So unerträglich jene Erkenntnis auch sein mag, so unauslöschbar ist ihre einmal gemachte Entdeckung“ (Schröder 1991, 214).


Einordnung

Insgesamt bewegt sich der erste Traum des Eich’schen Hörspiels also in einem recht offenen, vieldeutigen Interpretations-Spielraum: die Themen der Verhaftung, der Internierung und des Transports in einem Güterwagon mit schimmeligem Brot, der sich auf ein unbekanntes, existenziell bedrohliches Ziel zubewegt, rufen auf der einen Seite deutlich kalkulierte Assoziationen des nationalsozialistischen Genozids hervor. Auf der anderen Seite aber vermeidet der Text durch die Betonung des Durchschnittlichen und Repräsentativen der Träumer-Gestalten eindeutige Schuldzuweisungen sowie eine Benennung, Differenzierung oder Hierarchisierung unterschiedlicher Opfer-Kategorien. Demgegenüber stellen die Gedichte einen allgemeinen Aufruf zu gesellschaftlichem Engagement dar.

Dass gerade der erste Traum dennoch schmerzhaft an die Schuldgefühle bzw. an die vielfältigen Verdrängungsmechanismen der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft rührt, machen die radikal abwehrenden Zuschauer-Reaktionen deutlich. Auf dem Feld der deutschen Nachkriegsliteratur nimmt Günter Eich damit eine besonders engagierte, mitunter durchaus provozierende gesellschaftspolitische Position ein (Joachimsthaler 2002). Mit zunehmendem historischem Abstand wird allerdings auch die problematische Rolle Eichs während der Nazi-Diktatur deutlicher sichtbar (zur Debatte um Günter Eich, vgl. Vieregg 1996). So schätzt etwa Klaus Briegleb die Haltung Eichs als symptomatisch für die Gruppe 47 ein, die die Shoah systematisch ausgeblendet habe (Briegleb 2003, 12). Auch Axel Vieregg beleuchtet kritisch die Aktivitäten Eichs während des Nationalsozialismus und führt diese mit dessen schriftstellerischem Werk zusammen (Vieregg 1993). Vor diesem Hintergrund treten die Ambivalenzen seines Hörspiels umso deutlicher hervor. Eichs literarisches Engagement wäre damit im Sinne von W. G. Sebalds Thesen in Luftkrieg und Literatur durchaus als Verdrängung seiner eigenen Verstrickungen in die nationalsozialistische Kulturpolitik zu verstehen, wenn nicht gar als „Mittel zur Begradigung des eigenen Lebenslaufs“ (Sebald 1999, bes. 123-160, hier 157). Jörg Döring kommt in seinem Beitrag über die Rezeptionsgeschichte der Träume daher zu dem Schluss, der erste Traum sei „einerseits Literarisierung der Shoah, andererseits scheint das historische Geschehen auf spezifisch nicht-jüdische Weise umgedeutet, angeeignet“ (Döring 2009, 149). Das Konzentrationslager würde somit zu einer „Totalisierungsfigur, die sich auch als Abwehr von Auschwitz lesen ließe“ (Döring 2009, 155).


Christiane Solte-Gresser

Literatur

Ausgaben

  • Eich, Günter: Träume. Regie: Fritz Schröder-Jahn, Musik: Siegfried Franz, ausgestrahlt vom Nordwestdeutschen Rundfunk Hamburg am 19. April 1951.

(= Ursendung)

  • Eich, Günter: Gesammelte Werke. Revidierte Ausgabe. 4 Bde. Hg. von Axel Vieregg und Karl Karst. Bd. 2: Die Hörspiele 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, 350-390.

(= Eich-Gesamtausgabe)

  • Eich, Günter: Träume. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1953.

(= Gedruckte Erstausgabe)

  • Eich, Günter: Träume. 3 CDs. München: Random House [Edition Der Hörverlag] 2007.

(= Neuausgabe der Hörspielfassung)

  • Eich, Günter: Träume. Hörspiel. Text und Materialien bearbeitet von Klaus Klöckner. Berlin: Cornelsen 1996.

(= Ausgabe der Reihe „Klassische Schullektüre“ )


Bezugstexte

  • Novalis [Friedrich von Hardenberg]: Heinrich von Ofterdingen. In: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 6 Bde. Hg. von Paul Kluckhorn/Richard Samuel. Bd.1: Das dichterische Werk. Stuttgart: Kohlhammer 1960, 193-334.
  • Platon: Das Höhlengleichnis. In: Ders.: Der Staat [Politeia]. Siebtes Buch. Übers. und hg. von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam 1958.


Forschungsliteratur

  • Briegleb, Klaus: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage : „Wie antsemitisch war die Gruppe 47?“. Berlin, Wien: Philo 2003.
  • Braese, Stefan: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. München: Text und Kritik 2010.
  • Döring, Jörg: Mit Günter Eich im Viehwagen: Die Träume der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff (Hg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstags am 1. Februar 2007. Heidelberg: Winter 2009, 141-161.
  • Gehle, Holger: Schreiben nach der Shoah. Die Literatur der deutsch-jüdischen Schriftsteller von 1945 bis 1965. In: Daniel Hoffmann (Hg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn u.a.: Schöningh 2002, 401-440.
  • Goß, Marlies: Günter Eich und das Hörspiel der fünfziger Jahre. Frankfurt/M.: Lang 1988.
  • Joachimsthaler, Jürgen: Günter Eich im bundesrepublikanischen Kontext. In: Marek Zybura (Hg.): Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991. Dresden: Thelem 2002, 255-285.
  • Karst, Karl: "Alles, was geschieht, geht dich an". Zur Wirkungsgeschichte der Träume von Günter Eich. In: Sprache im technischen Zeitalter 30 (1992) 124, 474-483.
  • Neubauer-Petzold, Ruth: "Alles, was geschieht, geht dich an". Günter Eichs Träume. In: Bernard Dieterle/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.), Der Traum im Gedicht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, 185–202.
  • Schmitt-Lederhaus, Ruth: Günter Eichs Träume. Hörspiel und Rezeption. Frankfurt/M.: Lang 1989.
  • Schröder, Lothar: Körperloser Schmerz und die Angst, die das Leben meint. Vor 40 Jahren wurden Günter Eichs Träume urgesendet. In: Literatur für Leser 4 (1991), 211-224.
  • Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur. Züricher Vorlesungen. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien: Hanser 1999.
  • Vieregg, Axel: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945. Eggingen: Isele 1993.
  • Vieregg, Axel (Hg.): „Unsere Sünden sind Maulwürfe.“ Die Günter-Eich-Debatte. Amsterdam u.a.: Rodopi 1996.


Weblinks

Ursendung (Auszüge)


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Solte-Gresser, Christiane: "Träume" (Günter Eich). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Tr%C3%A4ume%22_(G%C3%BCnter_Eich).