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=== Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit ===
 
=== Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit ===
In Adoleszenzerzählungen kommt dem Traum als Zwischenstadium von Gestern/Vergangenem und Morgen/Künftigem eine besondere Bedeutung zu, die auch in Andreas-Salomés Novelle präsent ist. Eine Besonderheit besteht in der Verwendung von Erzählweisen des Volksmärchens. Auf die Traumhaftigkeit des Erzählens in Volksmärchen macht bereits Lüthi aufmerksam (vgl.: Lüthi 2005, 79). Wie Träume sind sie stets auf das unmittelbare Erleben der Figuren fokussiert und stellen lediglich dar und stellen nichts in Frage, erklären und fordern nichts. Zudem wird auch in den Grimm’schen Volksmärchen häufig die Adoleszenz der Figuren thematisiert, was insbesondere in der ersten Konfrontation mit Liebe und Tod zur Darstellung gelangt (vgl.: Rölleke 1985, 82). So ist es charakteristisch für das (Grimm’sche) Märchen, dass Reifevorgänge immer auch Todeserfahrungen implizieren, wobei letztere häufig symbolischen Charakter haben und auf den Verlust der Kindheit oder Bindungen an Personen (Eltern/Geschwister) bezogen werden (vgl.: ebd.). Diese Todeserfahrung kommt im wachen Erleben Ljubows etwa in der Konfrontation mit dem plötzlichen Einsatz Valdevenens während des Landgangs zum Ausdruck und im Traum bzw. dem fiktiven Lieblingsmärchen in der Aufgabe, die schlafende Prinzessin in den tiefen Brunnen zu werfen. Auch nach den Gesprächen mit Valdevenen wird Ljubow immer wieder an dieses Bild erinnert, etwa wenn sie sich vorstellt, der Grund der Wolga wäre der tiefe Brunnen, in den Valdevenen sie stoßen könnte:
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In Adoleszenzerzählungen kommt dem Traum als Zwischenstadium von Gestern/Vergangenem und Morgen/Künftigem eine besondere Bedeutung zu, die auch in Andreas-Salomés Novelle präsent ist. Eine Besonderheit besteht in der Verwendung von Erzählweisen des Volksmärchens. Auf die Traumhaftigkeit des Erzählens in Volksmärchen macht bereits Lüthi aufmerksam (Lüthi 2005, 79). Wie Träume sind sie stets auf das unmittelbare Erleben der Figuren fokussiert, stellen lediglich dar, aber stellen nichts in Frage, erklären und fordern nichts. Zudem wird auch in den Grimm’schen Volksmärchen häufig die Adoleszenz der Figuren thematisiert, was insbesondere in der ersten Konfrontation mit Liebe und Tod zur Darstellung gelangt (Rölleke 1985, 82). So ist es charakteristisch für das (Grimm’sche) Märchen, dass Reifevorgänge immer auch Todeserfahrungen implizieren, wobei letztere häufig symbolischen Charakter haben und auf den Verlust der Kindheit oder der Bindungen an Personen (Eltern/Geschwister) bezogen werden (ebd.). Diese Todeserfahrung kommt im wachen Erleben Ljubows zum Ausdruck (etwa in der Konfrontation mit dem plötzlichen Einsatz Valdevenens während des Landgangs), aber auch im Traum bzw. dem fiktiven Lieblingsmärchen mit der Aufgabe, die schlafende Prinzessin in den tiefen Brunnen zu werfen. Auch nach den Gesprächen mit Valdevenen wird Ljubow immer wieder an dieses Bild erinnert, etwa wenn sie sich vorstellt, der Grund der Wolga wäre der tiefe Brunnen, in den Valdevenen sie stoßen könnte:
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„Alles herum erschien ihr so gespenstisch-märchenhaft. Sie hatte hinuntergeblickt in das schwarze Wasser, in dem ein Schiffslicht aus dem Zwischendeck unten einen kleinen hellen Umkreis beschrieb: da glitzerte es dunkel und seltsam wie in der Tiefe eines Brunnens. Und mit einem Male war ihr gewesen, als würde Valdevenen sie da ins Wasser werfen.“ (322 f.)
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: Alles herum erschien ihr so gespenstisch-märchenhaft. Sie hatte hinuntergeblickt in das schwarze Wasser, in dem ein Schiffslicht aus dem Zwischendeck unten einen kleinen hellen Umkreis beschrieb: da glitzerte es dunkel und seltsam wie in der Tiefe eines Brunnens. Und mit einem Male war ihr gewesen, als würde Valdevenen sie da ins Wasser werfen (W 322 f.).
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Formal erfüllt die in Wolga geschilderte Adoleszenzreise demnach einige Charakteristiken der (Grimm’schen) Volksmärchen. Im Unterschied zu den (Grimm’schen) Märchenfiguren, ist Ljubow jedoch mit einer psychologischen Tiefe ausgestattet, die insbesondere in ihren Träumen zur Darstellung gelangt. So erfüllt der geschilderte Traum die Funktion eines Seelenraums im Sinne Bilinas, da er einen tieferen Einblick in die Figurenpsyche ermöglicht (vgl.: Bilina 2017, 39).
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Formal zeigt die in ''Wolga'' geschilderte Adoleszenzreise demnach einige Charakteristika der (Grimm’schen) Volksmärchen. Im Unterschied zu den (Grimm’schen) Märchenfiguren, ist Ljubow jedoch mit einer psychologischen Tiefe ausgestattet, die insbesondere in ihren Träumen zur Darstellung gelangt. So erfüllt der geschilderte Traum die Funktion eines Seelenraums im Sinne Bilinas, da er einen tieferen Einblick in die Figurenpsyche ermöglicht (Bilina 2017, 39).
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Doch auch im wachen Erleben der Figur macht sich häufig eine traumhaft anmutende, romantisch-verklärte Sicht auf die Natur bemerkbar, die von einer naiven, kindlichen Weltsicht zeugt. Das gemächliche, traumgleiche Dahinfahren auf dem Fluss, die stetig vorbeiziehende Landschaft und die Erinnerungen an das Lieblingsmärchen bedingen diese traumhaft anmutende Sichtweise. So werden die vorbeiziehenden Städte aus der Perspektive der Hauptfigur mit flüchtigen Träumen verglichen: „Für ein Schiff, das nicht anlegt, bleibt es Bild und Traum, aufsteigend wundergleich, und gleich einem Wunder auch wieder versinkend“ (279)
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Doch auch im wachen Erleben der Figur macht sich häufig eine traumhaft anmutende, romantisch-verklärte Sicht auf die Natur bemerkbar, die von einer naiven, kindlichen Weltsicht zeugt. Das gemächliche, traumgleiche Dahinfahren auf dem Fluss, die stetig vorbeiziehende Landschaft und die Erinnerungen an das Lieblingsmärchen bedingen diese traumhaft anmutende Sichtweise. So werden die vorbeiziehenden Städte aus der Perspektive der Hauptfigur mit flüchtigen Träumen verglichen: „Für ein Schiff, das nicht anlegt, bleibt es Bild und Traum, aufsteigend wundergleich, und gleich einem Wunder auch wieder versinkend“ (W 279).
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Die Analogie von der Schifffahrt und dem Prozess des Einschlafens wird unter Rekurs auf den in der Russischen Kultur mit der Mutterimago verbundenen Fluss thematisiert: „wie in mütterlichem Arm wiegte der gewaltige Fluß ganz sanft das Schiffchen mit dem kleinen bangen Menschenwesen darin, ganz sanft hin und her, als wiege er ein Kind in den Schlaf.“ (334)
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Die Analogie von der Schifffahrt und dem Prozess des Einschlafens wird unter Rekurs auf den in der Russischen Kultur mit der Mutterimago verbundenen Fluss thematisiert: „wie in mütterlichem Arm wiegte der gewaltige Fluß ganz sanft das Schiffchen mit dem kleinen bangen Menschenwesen darin, ganz sanft hin und her, als wiege er ein Kind in den Schlaf“ (W 334).
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Die traumhafte Wahrnehmung der Reisenden wird demnach durch die Art der Reise begünstigt. Auch der Gang des Geliebten hat eine hypnotische, einschläfernde Wirkung : „Dieser Schritt hatte für sie etwas Einschläferndes. Jetzt eben klang er ganz fern, verklang – dann kehrte er wieder – näher – ruhig und fest; Valdevenen schritt langsam an ihr vorüber.“ (322) Die Verbindung von traumhaftem Erleben, Kindheitserinnerungen und Märchenmotiven wird auch in den Gesprächen und Ausflügen mit Valdevenen deutlich. So rät er ihr etwa: „Sie [sollten] mir sagen: geh du deiner Wege und reiß mich nicht aus dem Kinderschlaf. Tu mir nichts an, – nein, laß mich träumen und schlummern.“ (327) Ljubow betrachtet ihn als einen Märchenprinzen, der ihr eine ganz neue Welt offenbart. Deutlich wird dies insbesondere während des Landgangs, denn als sie in Kasan an Land gehen, wird ihr bewusst „wie gerade Valdevenens Wesen und Wissen ihr half, diese ganze fremdartige Welt aufzuschließen, die ihre Phantasie mächtig zu reizen begann, gleich einem Märchen aus Tausend und eine Nacht. In seinem weiten braunen Mantel, umringt von den Schleiern und buntbestickten Gewändern, nahm er sich für sie aus als der Herr, der über all diese Zauber und Wunder gebot.“ (S. 302)
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Die traumhafte Wahrnehmung der Reisenden wird demnach durch die Art der Reise begünstigt. Auch der Gang des Geliebten hat eine hypnotische, einschläfernde Wirkung: „Dieser Schritt hatte für sie etwas Einschläferndes. Jetzt eben klang er ganz fern, verklang – dann kehrte er wieder – näher – ruhig und fest; Valdevenen schritt langsam an ihr vorüber“ (W 322). Die Verbindung von traumhaftem Erleben, Kindheitserinnerungen und Märchenmotiven wird auch in den Gesprächen und Ausflügen mit Valdevenen deutlich. So rät er ihr etwa: „Sie [sollten] mir sagen: geh du deiner Wege und reiß mich nicht aus dem Kinderschlaf. Tu mir nichts an, – nein, laß mich träumen und schlummern“ (W 327). Ljubow betrachtet ihn als einen Märchenprinzen, der ihr eine ganz neue Welt offenbart. Deutlich wird dies insbesondere während des Landgangs, denn als sie in Kasan an Land gehen, wird ihr bewusst „wie gerade Valdevenens Wesen und Wissen ihr half, diese ganze fremdartige Welt aufzuschließen, die ihre Phantasie mächtig zu reizen begann, gleich einem Märchen aus Tausend und eine Nacht. In seinem weiten braunen Mantel, umringt von den Schleiern und buntbestickten Gewändern, nahm er sich für sie aus als der Herr, der über all diese Zauber und Wunder gebot“ (W 302).
 
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Die fremdartige Welt ist nicht die Welt der Märchen, sondern die Welt der Erwachsenen und der einfachen Menschen, mit der sie bisher noch keine Berührung hatte. Geschildert wird demnach ein Prozess des Erwachens, der Aufklärung und Reifung, der im Kuss des Märchenprinzen kulminiert. Sodann verliert Ljubow jedoch ihr waches Interesse an der Außenwelt. Ihr Blick richtet sich nach innen, ihre Gedanken kreisen fortan um sich selbst. Präsent wird hier der Salomé‘sche Narzissmus, den Chantal Gahlinger in ihrer Analyse von Wolga diagnostiziert (vgl.: Gahlinger 2001,165). Auf narratologischer Ebene wird der weibliche Narzissmus dadurch veranschaulicht, dass sich der Blick auf die Figur entfernt. War es zum Beginn der Novelle Ljubows Blick, durch den die Lesenden die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, ist es am Ende die Landschaft selbst, die auf die Figur schaut. Gahlinger spricht in diesem Zusammenhang vom „Blickpunkt Gottes“ bzw. einer Fokusverlagerung, die an filmische Erzählverfahren erinnert (vgl.: ebd.). Andreas-Salomé verwendet demnach mehrere mit dem Traum assoziierte Erzählverfahren (filmisches und märchenhaftes Erzählen, siehe auch: „Film und Traum 1900-1930“ im Lexikon Traumkultur), um die traumhaft anmutende kindliche Weltwahrnehmung der Figur literarästhetisch auszugestalten.
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Die fremdartige Welt ist nicht die Welt der Märchen, sondern die Welt der Erwachsenen und der einfachen Menschen, mit der sie bisher noch keine Berührung hatte. Geschildert wird demnach ein Prozess des Erwachens, der Aufklärung und Reifung, der im Kuss des Märchenprinzen kulminiert. Sodann verliert Ljubow jedoch ihr waches Interesse an der Außenwelt. Ihr Blick richtet sich nach innen, ihre Gedanken kreisen fortan um sich selbst. Präsent wird hier der Salomé‘sche Narzissmus, den Chantal Gahlinger in ihrer Analyse von Wolga diagnostiziert (Gahlinger 2001,165). Auf narratologischer Ebene wird der weibliche Narzissmus dadurch veranschaulicht, dass sich der Blick auf die Figur entfernt. War es zum Beginn der Novelle Ljubows Blick, durch den die Lesenden die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, ist es am Ende die Landschaft selbst, die auf die Figur schaut. Gahlinger spricht in diesem Zusammenhang vom „Blickpunkt Gottes“ bzw. einer Fokusverlagerung, die an filmische Erzählverfahren erinnert (ebd.). Andreas-Salomé verwendet demnach mehrere mit dem Traum assoziierte Erzählverfahren (filmisches und märchenhaftes Erzählen; siehe auch: http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=Film_und_Traum_(1900-1930)„Film und Traum 1900-1930“ im Lexikon Traumkultur), um die traumhaft anmutende kindliche Weltwahrnehmung der Figur literarästhetisch auszugestalten.
    
== Interpretation ==
 
== Interpretation ==

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