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==Giovanni Boccaccio und der Traumdiskurs des 14. Jahrhunderts==
 
==Giovanni Boccaccio und der Traumdiskurs des 14. Jahrhunderts==
Das ''Decameron'' ist nur einer von mehreren Texten, in denen Giovanni Boccaccio sich mit dem Phänomen des Traums auseinandersetzt. Wie die meisten europäischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts steht er unter dem Einfluss von Traumbüchern, Traumdeutungen und Traumwissen seiner Zeit (Capozzo 2013, 206). Eingebunden in ein intertextuelles Netzwerk von Traumdiskursen in der italienischen Barock- und Renaissanceliteratur (Scholl 2008, 111) nimmt Boccaccio Bezug auf Artemidor und Macrobius als antike Referenzmodelle. Insbesondere die Einteilung der Träume nach Macrobius findet nicht nur Eingang in das fiktionale Werk Boccaccios, sondern bildet darüber hinaus die Grundlage für sein Kapitel über den Traumgott („De Somno Herebi filio XVII“) in den ''Genealogie deorum gentilium'', deren erste Version 1360 erscheint. Die enzyklopädische Zusammenstellung griechisch-römischer Götterfiguren fasst unter Berufung auf weitere antike Autoritäten wie Vergil oder Homer die Klassifikation des Macrobius zusammen (Capozzo 2015, 204 f.; Samaké 2020, 49 f.): „somnia sunt multiplicum specierum, ex quibus quinque tantum super Somnio Scipionis ostendit Macrobius“ (Boccaccio 1951, 58; „Es gibt verschiedene Arten von Träumen, von denen Macrobius allein fünf nur in Bezug auf den Traum des Scipio vorführt“).  Die Orientierung am antiken Modell der Systematisierung schlägt sich später auch in der Differenzierung von Traumtypen im ''Decameron'' nieder.
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Das ''Decameron'' ist nur einer von mehreren Texten, in denen Giovanni Boccaccio sich mit dem Phänomen des Traums auseinandersetzt. Wie die meisten europäischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts steht er unter dem Einfluss von Traumbüchern, Traumdeutungen und Traumwissen seiner Zeit (Capozzo 2013, 206). Eingebunden in ein intertextuelles Netzwerk von Traumdiskursen in der italienischen Barock- und Renaissanceliteratur (Scholl 2008, 111) nimmt Boccaccio Bezug auf Artemidor und Macrobius als antike Referenzmodelle. Insbesondere die Einteilung der Träume nach Macrobius findet nicht nur Eingang in das fiktionale Werk Boccaccios, sondern bildet darüber hinaus die Grundlage für sein Kapitel über den Traumgott („De Somno Herebi filio XVII“) in den ''Genealogie deorum gentilium'', deren erste Version 1360 erscheint. Die enzyklopädische Zusammenstellung griechisch-römischer Götterfiguren fasst unter Berufung auf weitere antike Autoritäten wie Vergil oder Homer die Klassifikation des Macrobius zusammen (Capozzo 2015, 204 f.; Samaké 2020, 49 f.): „somnia sunt multiplicum specierum, ex quibus quinque tantum super Somnio Scipionis ostendit Macrobius“ (Boccaccio 1951, 58; „Es gibt verschiedene Arten von Träumen, von denen Macrobius allein fünf nur in Bezug auf den Traum des Scipio vorführt“).<ref>Albert Schirrmeister (2021, 371) weist darauf hin, dass die u. a. von Macrobius verwendeten lateinischen Begriffe die romanischen Sprachen bis heute beeinflussen, dabei aber auch zu Unschärfen und Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Schlaf und Traum geführt haben. </ref> Die Orientierung am antiken Modell der Systematisierung schlägt sich später auch in der Differenzierung von Traumtypen im ''Decameron'' nieder.
    
Bereits einige Jahre vor der Novellensammlung publiziert Boccaccio zwischen 1342 und 1343 die ''Amorosa visione'', einen auf Dantes ''Commedia'' reagierenden, ebenfalls in Gesängen und Terzinen verfassten Text. Die im Titel evozierte ''visione'', die ja eine der Traumkategorien nach Macrobius darstellt, verweist auf die Bedeutung des Onirischen für die Handlung: Entbrannt in Liebe zu Fiammetta schläft das lyrische Subjekt ein und durchläuft verschiedene Stationen einer Traumreise (Scholl 2008, 116 f.), die auf das Wirken der Liebe bzw. Amors als Liebesgott zurückgeht und zu Begegnungen mit der Angebeteten führt. In den einleitenden Kapiteln wird die ''visione'' weitere drei Mal benannt (Boccaccio 1939, 119 f.), bevor im ersten Kapitel der eigentlichen Handlung der Übergang zum Schlaf und zum Traumerleben geschildert wird – der Liebende legt sich ins Bett, schläft ein und sieht sich, nun im Traum, in einer verlassenen Landschaft laufen: „Lí mi posai, e ciascun occhio grave / al sonno diedi [...] / Cosí dormendo, in su’ liti salati / mi vidi correr [...] in quelli abbandonati“ (Boccaccio 1939, 122).  
 
Bereits einige Jahre vor der Novellensammlung publiziert Boccaccio zwischen 1342 und 1343 die ''Amorosa visione'', einen auf Dantes ''Commedia'' reagierenden, ebenfalls in Gesängen und Terzinen verfassten Text. Die im Titel evozierte ''visione'', die ja eine der Traumkategorien nach Macrobius darstellt, verweist auf die Bedeutung des Onirischen für die Handlung: Entbrannt in Liebe zu Fiammetta schläft das lyrische Subjekt ein und durchläuft verschiedene Stationen einer Traumreise (Scholl 2008, 116 f.), die auf das Wirken der Liebe bzw. Amors als Liebesgott zurückgeht und zu Begegnungen mit der Angebeteten führt. In den einleitenden Kapiteln wird die ''visione'' weitere drei Mal benannt (Boccaccio 1939, 119 f.), bevor im ersten Kapitel der eigentlichen Handlung der Übergang zum Schlaf und zum Traumerleben geschildert wird – der Liebende legt sich ins Bett, schläft ein und sieht sich, nun im Traum, in einer verlassenen Landschaft laufen: „Lí mi posai, e ciascun occhio grave / al sonno diedi [...] / Cosí dormendo, in su’ liti salati / mi vidi correr [...] in quelli abbandonati“ (Boccaccio 1939, 122).  
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===Traumhaft fliehen? Der Anfang der Rahmenhandlung===
 
===Traumhaft fliehen? Der Anfang der Rahmenhandlung===
Das Projekt der Flucht aus der Stadt steht im Zeichen der Spannung von Unordnung und Ordnung (Steurer 2023, 22). Vor die Schilderung der Zufallsbegegnung der zehn Personen in der Kirche Santa Maria Novella platziert Boccaccio das Proömium und eine Schilderung der Seuche in der Stadt. Die um sich greifende Krankheit führt zu einem Prozess der Auflösung, zum einen durch den Tod eines Großteils der Bevölkerung, zum anderen durch die Abkehr von ethisch-moralischen Regeln, symbolisch zur Anschauung gebracht in der Zerstörung verwandtschaftlicher Bande: „che l’un fratello l’altro abbandonava e il zio il nepote e la sorella il fratello spesse volte la donna il suo marito; e, che maggior cosa è e quasi non credibile, li padri e li madri i figliuoli“ (D 16; „daß ein Bruder den andern im Stich ließ, der Oheim seinen Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Mann, ja, was das schrecklichste ist und kaum glaublich schein: Vater und Mutter weigerten sich, ihre Kinder zu besuchen und zu pflegen“, Dd 20). Selbst der Tod verläuft im Chaos und die Stadt wird von einem „unordentlichen Sterben“ (Wehle 1993, 224) ergriffen. Um diese Unordnung und Auflösung dreht sich das Gespräch der Mitglieder der späteren ''brigata'' in der Kirche.  
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Das Projekt der Flucht aus der Stadt steht im Zeichen der Spannung von Unordnung und Ordnung (Steurer 2023, 22). Vor die Schilderung der Zufallsbegegnung der zehn Personen in der Kirche Santa Maria Novella platziert Boccaccio das Proömium und eine Schilderung der Seuche in der Stadt.<ref>Das ''Decameron'' besitzt also gleich mehrere Anfangsmomente – den Beginn des Proömiums, den Auftakt zur Seuchenschilderung, den Übergang zur Rahmenerzählung, die Flucht und der jeweilige Anfang der Novellen. Boccaccio selbst interessiert sich in besonderem Maße für das Thema des Anfangs (Bruno Pagnamenta 1999, 19). </ref> Die um sich greifende Krankheit führt zu einem Prozess der Auflösung, zum einen durch den Tod eines Großteils der Bevölkerung, zum anderen durch die Abkehr von ethisch-moralischen Regeln, symbolisch zur Anschauung gebracht in der Zerstörung verwandtschaftlicher Bande: „che l’un fratello l’altro abbandonava e il zio il nepote e la sorella il fratello spesse volte la donna il suo marito; e, che maggior cosa è e quasi non credibile, li padri e li madri i figliuoli“ (D 16; „daß ein Bruder den andern im Stich ließ, der Oheim seinen Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Mann, ja, was das schrecklichste ist und kaum glaublich schein: Vater und Mutter weigerten sich, ihre Kinder zu besuchen und zu pflegen“, Dd 20). Selbst der Tod verläuft im Chaos und die Stadt wird von einem „unordentlichen Sterben“ (Wehle 1993, 224) ergriffen. Um diese Unordnung und Auflösung dreht sich das Gespräch der Mitglieder der späteren ''brigata'' in der Kirche.  
    
Als erste Person ergreift bei diesem Zusammentreffen – und überhaupt im gesamten Buch – Pampinea das Wort. Sie spricht nicht in ein Chaos hinein, sondern nutzt eine Sprechpause der anderen, so dass der Austausch der ''brigata'' sich von Beginn an im Zeichen der Ordnung vollzieht (D 21; Steurer 2023, 28). Schnell wird in der Rede Pampineas klar, dass die zunächst skizzierten Möglichkeiten, der Seuche zu entfliehen, nicht realisierbar scheinen – deshalb resümiert sie: „E se così e, che essere manifestamente si vede, che faccian noi qui, che attendiamo, che sognamo?“ (D 23; „Verhält es sich aber so, und daß es sich so verhält, ist offenbar, was tun wir dann hier? Worauf warten, wovon träumen wir?“, Dd 27). Das Verb ''sognare'' (träumen) wird hier zum ersten Mal im ''Decameron'' verwendet und zwar mit der negativen Konnotation einer Bewegung des Abwartens und Zögerns, aus dem kein Entschluss zur Handlung hervorgeht (Balestrero 2009, 40; Steurer 2023, 28). Indem die Gruppe aus der Stadt flieht, wird dieser inaktiven Traumtätigkeit ein Ende besetzt. Gleichzeitig erweist sich die Flucht als Auftakt für ein Leben in einer anderen Welt, die Parallelen zu einer positiven Traumtätigkeit aufweist. Der Aufenthalt der ''brigata'' in einem „Spiel-Raum“ (Söffner 2018, 37) des „Kunsthandeln[s]“ (Wehle 1993, 245) ähnelt dem in einem Traum-Raum. Wie ein Schlaftraum – und damit anders als eine Utopie – ist die Zeit auf dem Land zeitlich begrenzt. Schon in der Gründungsrede der brigata lässt Pampinea erahnen, dass der geplante Aufenthalt ein Ende haben wird (D 24). Die Gruppe stimmt ihrem Entwurf zu und am folgenden Tag begeben sich die zehn Personen in eine „zufallsfreie Welt“ (Flasch 1992, 113). Sie ist gekennzeichnet von einer demokratischen Struktur des Zusammenlebens und einer ausgefeilten Ordnung (Neumeister 2021, 19; Küpper 1993, 90), innerhalb derer die hundert Geschichten erzählt werden. Nach Ablauf von zehn Tagen kehrt die ''brigata'' in die Stadt zurück, ohne dass die Pest ein Ende gefunden hat. Wie es den zehn Personen im Folgenden ergeht, wird nicht mehr thematisiert, so dass am Ende der Novellensammlung „ein unaufgelöster Rest“ (Neuschäfer 1969, 128) steht.
 
Als erste Person ergreift bei diesem Zusammentreffen – und überhaupt im gesamten Buch – Pampinea das Wort. Sie spricht nicht in ein Chaos hinein, sondern nutzt eine Sprechpause der anderen, so dass der Austausch der ''brigata'' sich von Beginn an im Zeichen der Ordnung vollzieht (D 21; Steurer 2023, 28). Schnell wird in der Rede Pampineas klar, dass die zunächst skizzierten Möglichkeiten, der Seuche zu entfliehen, nicht realisierbar scheinen – deshalb resümiert sie: „E se così e, che essere manifestamente si vede, che faccian noi qui, che attendiamo, che sognamo?“ (D 23; „Verhält es sich aber so, und daß es sich so verhält, ist offenbar, was tun wir dann hier? Worauf warten, wovon träumen wir?“, Dd 27). Das Verb ''sognare'' (träumen) wird hier zum ersten Mal im ''Decameron'' verwendet und zwar mit der negativen Konnotation einer Bewegung des Abwartens und Zögerns, aus dem kein Entschluss zur Handlung hervorgeht (Balestrero 2009, 40; Steurer 2023, 28). Indem die Gruppe aus der Stadt flieht, wird dieser inaktiven Traumtätigkeit ein Ende besetzt. Gleichzeitig erweist sich die Flucht als Auftakt für ein Leben in einer anderen Welt, die Parallelen zu einer positiven Traumtätigkeit aufweist. Der Aufenthalt der ''brigata'' in einem „Spiel-Raum“ (Söffner 2018, 37) des „Kunsthandeln[s]“ (Wehle 1993, 245) ähnelt dem in einem Traum-Raum. Wie ein Schlaftraum – und damit anders als eine Utopie – ist die Zeit auf dem Land zeitlich begrenzt. Schon in der Gründungsrede der brigata lässt Pampinea erahnen, dass der geplante Aufenthalt ein Ende haben wird (D 24). Die Gruppe stimmt ihrem Entwurf zu und am folgenden Tag begeben sich die zehn Personen in eine „zufallsfreie Welt“ (Flasch 1992, 113). Sie ist gekennzeichnet von einer demokratischen Struktur des Zusammenlebens und einer ausgefeilten Ordnung (Neumeister 2021, 19; Küpper 1993, 90), innerhalb derer die hundert Geschichten erzählt werden. Nach Ablauf von zehn Tagen kehrt die ''brigata'' in die Stadt zurück, ohne dass die Pest ein Ende gefunden hat. Wie es den zehn Personen im Folgenden ergeht, wird nicht mehr thematisiert, so dass am Ende der Novellensammlung „ein unaufgelöster Rest“ (Neuschäfer 1969, 128) steht.
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