"Un chien andalou" (Luis Buñuel): Unterschied zwischen den Versionen
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"Un chien andalou" (Luis Buñuel) (Quelltext anzeigen)
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Aufgabe der Psychoanalyse ist es nun, dieses 'ungefilterte' und 'reine' Denken freizulegen – Freud selbst verwendet hierbei die Metapher des 'Archäologen', der gewissermaßen verschüttete Spuren aus der Seele freilegt (vgl. Ebeling 2000, 132 f.). Denn unbewusste Vorgänge können tatsächlich "unter den Bedingungen des Träumens und der Neurosen" erkennbar werden, "also dann, wenn Vorgänge des höheren Vbw[Vorbewusstsein]-Systems durch eine Erniedrigung (Regression) auf eine frühere Stufe zurückversetzt werden" (Freud 2008, 139). Die Werkzeuge des 'Seelenarchäologen' sind dementsprechend Traumdeutung, Hypnose und freie Assoziation. | Aufgabe der Psychoanalyse ist es nun, dieses 'ungefilterte' und 'reine' Denken freizulegen – Freud selbst verwendet hierbei die Metapher des 'Archäologen', der gewissermaßen verschüttete Spuren aus der Seele freilegt (vgl. Ebeling 2000, 132 f.). Denn unbewusste Vorgänge können tatsächlich "unter den Bedingungen des Träumens und der Neurosen" erkennbar werden, "also dann, wenn Vorgänge des höheren Vbw[Vorbewusstsein]-Systems durch eine Erniedrigung (Regression) auf eine frühere Stufe zurückversetzt werden" (Freud 2008, 139). Die Werkzeuge des 'Seelenarchäologen' sind dementsprechend Traumdeutung, Hypnose und freie Assoziation. | ||
Und genau dieser Aspekt faszinierte auch die Surrealisten in den 1920er Jahren: Denn wie auch andere avantgardistische Ismen des frühen 20. Jahrhunderts (etwa Futurismus und Dadaismus) lehnt der Surrealismus nicht nur das bürgerliche Kunstverständnis und die normierte Akademiekunst radikal ab, sondern ist bestrebt, die Kreativität möglichst ungefiltert in den künstlerischen Prozess einfließen zu lassen. Überlegtes Kunstschaffen oder eine reflektierte Rückbesinnung auf kunstgeschichtliche Traditionen waren verpönt, gesucht wurde vielmehr die Zufälligkeit und Irrationalität, die sich im vielzitierten Kredo des Comte de Lautréamont aus dessen ''Chants de Maldoror'' (1874) wiederfindet: "beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie" (Lautréamont 1990 | Und genau dieser Aspekt faszinierte auch die Surrealisten in den 1920er Jahren: Denn wie auch andere avantgardistische Ismen des frühen 20. Jahrhunderts (etwa Futurismus und Dadaismus) lehnt der Surrealismus nicht nur das bürgerliche Kunstverständnis und die normierte Akademiekunst radikal ab, sondern ist bestrebt, die Kreativität möglichst ungefiltert in den künstlerischen Prozess einfließen zu lassen. Überlegtes Kunstschaffen oder eine reflektierte Rückbesinnung auf kunstgeschichtliche Traditionen waren verpönt, gesucht wurde vielmehr die Zufälligkeit und Irrationalität, die sich im vielzitierten Kredo des Comte de Lautréamont aus dessen ''Chants de Maldoror'' (1874) wiederfindet: "beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie" (Lautréamont 1990, 289). | ||
So interessierten sich beispielsweise die Surrealisten (wie auch der Dadaismus oder der Kubsimus der Zeit) für außereuropäische 'primitive' Kunstwerke aus Afrika oder der Südsee, die eine gewisse 'Reinheit' und 'Unberührtheit' von zivilisatorischen Einflüssen (also der Triebkontrolle des 'Über-Ich') versprachen. Um selbst so 'authentisch' arbeiten zu können, lehnten sich die Surrealisten an Freuds Ansätze an und versuchten, diese künstlerisch umzusetzen, also die Theorien aus der Psychoanalyse gewissermaßen in die Kunst zu übertragen und zu übersetzen. So wurden etwa Verfahren entwickelt, um die individuelle Kreativität möglichst 'ungefiltert' abschöpfen zu können – beispielsweise durch die "écriture automatique" oder im "cadavre exquis": Das 'automatische Schreiben' sollte (ähnlich wie die freie Assoziation der Psychoanalyse) die kreativen Gedanken möglichst ungefiltert zu Papier bringen, während der 'exquisite Kadaver' ein Gemeinschaftsprojekt darstellt, wobei die (in der Regel vier) KünstlerInnen nicht die Arbeit der anderen kennen, und sich das gesamte Werk erst am Ende überraschend (weil in dieser Form ungeplant) enthüllt. | So interessierten sich beispielsweise die Surrealisten (wie auch der Dadaismus oder der Kubsimus der Zeit) für außereuropäische 'primitive' Kunstwerke aus Afrika oder der Südsee, die eine gewisse 'Reinheit' und 'Unberührtheit' von zivilisatorischen Einflüssen (also der Triebkontrolle des 'Über-Ich') versprachen. Um selbst so 'authentisch' arbeiten zu können, lehnten sich die Surrealisten an Freuds Ansätze an und versuchten, diese künstlerisch umzusetzen, also die Theorien aus der Psychoanalyse gewissermaßen in die Kunst zu übertragen und zu übersetzen. So wurden etwa Verfahren entwickelt, um die individuelle Kreativität möglichst 'ungefiltert' abschöpfen zu können – beispielsweise durch die "écriture automatique" oder im "cadavre exquis": Das 'automatische Schreiben' sollte (ähnlich wie die freie Assoziation der Psychoanalyse) die kreativen Gedanken möglichst ungefiltert zu Papier bringen, während der 'exquisite Kadaver' ein Gemeinschaftsprojekt darstellt, wobei die (in der Regel vier) KünstlerInnen nicht die Arbeit der anderen kennen, und sich das gesamte Werk erst am Ende überraschend (weil in dieser Form ungeplant) enthüllt. | ||
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Gleichzeitig sind die Surrealisten als begeisterte Kinogänger auch für das noch recht junge Medium des Films aufgeschlossen, das jedoch in ihrem Schaffen insgesamt eine untergeordnete Rolle spielte. Denn auch in der Rezeption des Films, deren subjektive Wahrnehmung der verschiedenen Bilder zu zufälligen Assoziationen führt (vgl. Plappert 2014, 11) scheinen sich die surrealistischen Prinzipien zu erfüllen – etwa wenn der Schriftsteller und Journalist Robert Desnos (1900–1945) im Jahre 1923 schreibt: "Nous allons dans les salles obscures chercher le rêve artificiel" (Desnos 1966, 104). | Gleichzeitig sind die Surrealisten als begeisterte Kinogänger auch für das noch recht junge Medium des Films aufgeschlossen, das jedoch in ihrem Schaffen insgesamt eine untergeordnete Rolle spielte. Denn auch in der Rezeption des Films, deren subjektive Wahrnehmung der verschiedenen Bilder zu zufälligen Assoziationen führt (vgl. Plappert 2014, 11) scheinen sich die surrealistischen Prinzipien zu erfüllen – etwa wenn der Schriftsteller und Journalist Robert Desnos (1900–1945) im Jahre 1923 schreibt: "Nous allons dans les salles obscures chercher le rêve artificiel" (Desnos 1966, 104). | ||
Und zwei Jahre später bezeichnet der 1895 geborene Essayist Jean Goudal das Kino gar als eine 'bewusste Halluzination' (vgl. Goudal 1925 | Und zwei Jahre später bezeichnet der 1895 geborene Essayist Jean Goudal das Kino gar als eine 'bewusste Halluzination' (vgl. Goudal 1925, 347): | ||
: Le cinéma constitue donc une hallucination consciente et utilise cette fusion du rêve et de l’état conscient que le surréalisme voudrait voir réalisée dans le domaine littéraire. Ces images mouvantes nous hallucinent, mais en nous laissant une conscience confuse de notre personnalité et en nous permettant d’évoquer, si c’est nécessaire, les disponibilités de notre mémoire (Goudal 1925, 350). | : Le cinéma constitue donc une hallucination consciente et utilise cette fusion du rêve et de l’état conscient que le surréalisme voudrait voir réalisée dans le domaine littéraire. Ces images mouvantes nous hallucinent, mais en nous laissant une conscience confuse de notre personnalité et en nous permettant d’évoquer, si c’est nécessaire, les disponibilités de notre mémoire (Goudal 1925, 350). | ||
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: (3) Plötzlich steht der offenbar gleiche junge Mann im Zimmer und betrachtet seine Hand, aus der Ameisen herauskriechen (Einstellung 63); Überblendung zum Achselhaar einer am Strand liegenden Frau (Einstellung 66) und schließlich einem Seeigel (Einstellung 67). | : (3) Plötzlich steht der offenbar gleiche junge Mann im Zimmer und betrachtet seine Hand, aus der Ameisen herauskriechen (Einstellung 63); Überblendung zum Achselhaar einer am Strand liegenden Frau (Einstellung 66) und schließlich einem Seeigel (Einstellung 67). | ||
: (4) Überblendung zu einer Frau, die auf der Straße steht und eine abgetrennte menschliche Hand mit einem Stock bewegt, beobachtet von Schaulustigen auf der Straße und einem Paar am Wohnungsfenster; ein Polizist spricht die Frau an, legt die Hand in die Holzbox (Einstellung 85) und überreicht sie der Frau; die Menschenmenge löst sich auf, und die Frau bleibt alleine auf der Straße zurück, während Autos an ihr vorbeirasen; das Paar am Fenster beobachtet, wie sie überfahren wird, und sich erneut Menschen um sie versammeln (Einstellung 105). | : (4) Überblendung zu einer Frau, die auf der Straße steht und eine abgetrennte menschliche Hand mit einem Stock bewegt, beobachtet von Schaulustigen auf der Straße und einem Paar am Wohnungsfenster; ein Polizist spricht die Frau an, legt die Hand in die Holzbox (Einstellung 85) und überreicht sie der Frau; die Menschenmenge löst sich auf, und die Frau bleibt alleine auf der Straße zurück, während Autos an ihr vorbeirasen; das Paar am Fenster beobachtet, wie sie überfahren wird, und sich erneut Menschen um sie versammeln (Einstellung 105). | ||
: (5) Das Paar in der Wohnung hat den Vorfall beobachtet; plötzlich bedrängt der Mann die Frau, die erschrocken zurückweicht; er fasst ihr an die Brüste (in zwei Überblendungen werden diese erst unbekleidet gezeigt (Einstellung 121) und dann zu nackten Pobacken (Einstellung 125)); die Frau verschanzt sich in einer Zimmerecke, während der Mann plötzlich zwei Seile vom Boden aufhebt, an denen "zwei Brüder der Armenschule" (Buñuel/Dalí 1974 | : (5) Das Paar in der Wohnung hat den Vorfall beobachtet; plötzlich bedrängt der Mann die Frau, die erschrocken zurückweicht; er fasst ihr an die Brüste (in zwei Überblendungen werden diese erst unbekleidet gezeigt (Einstellung 121) und dann zu nackten Pobacken (Einstellung 125)); die Frau verschanzt sich in einer Zimmerecke, während der Mann plötzlich zwei Seile vom Boden aufhebt, an denen "zwei Brüder der Armenschule" (Buñuel/Dalí 1974, 94) sowie zwei Flügel mit Eselskadavern hängen, und diese unter großen Anstrengungen in die Zimmerecke zieht; die Frau flüchtet durch eine Türe, kann diese jedoch nicht schließen, da der Arm des Mannes (mit einer Hand voller Ameisen) sie blockiert (Einstellung 167); in diesem Nebenzimmer liegt plötzlich der junge Mann im Nonnenhabit und mit der Holzbox um den Hals. | ||
: Zwischentitel: "vers trois heures du matin…" (Einstellung 177) / "Gegen drei Uhr morgens" (Buñuel/Dalí 1974 | : Zwischentitel: "vers trois heures du matin…" (Einstellung 177) / "Gegen drei Uhr morgens" (Buñuel/Dalí 1974, 95). | ||
: (6) Ein Mann mit Hut klingelt an der Haustüre (das Klingeln wird durch einen Cocktail-Shaker ersetzt) und stürmt zum jungen Mann im Bett; er schreit diesen an, schlägt und schüttelt ihn, und nimmt ihm schließlich Nonnenhabit und Holzbox ab, die er aus dem Fenster wirft; der Mann mit Hut (immer nur von hinten zu sehen) schickt ihn in die gleiche Zimmerecke, in der sich die Frau zuvor verschanzt hatte, wirft seinen Hut weg und dreht sich zur Kamera um. | : (6) Ein Mann mit Hut klingelt an der Haustüre (das Klingeln wird durch einen Cocktail-Shaker ersetzt) und stürmt zum jungen Mann im Bett; er schreit diesen an, schlägt und schüttelt ihn, und nimmt ihm schließlich Nonnenhabit und Holzbox ab, die er aus dem Fenster wirft; der Mann mit Hut (immer nur von hinten zu sehen) schickt ihn in die gleiche Zimmerecke, in der sich die Frau zuvor verschanzt hatte, wirft seinen Hut weg und dreht sich zur Kamera um. | ||
: Zwischentitel: "seize ans avant" (Einstellung 215) / "Vor sechzehn Jahren" (Buñuel/Dalí 1974, 95). | : Zwischentitel: "seize ans avant" (Einstellung 215) / "Vor sechzehn Jahren" (Buñuel/Dalí 1974, 95). | ||
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: (8) Die Frau betritt das Zimmer und sieht einen Nachtfalter (Einstellung 261) mit einem Totenkopf-Symbol an der Wand (Einstellung 268); der junge Mann wischt sich mit der Hand den Mund aus dem Gesicht (Einstellung 271); die Frau beginnt sich daraufhin übertrieben mit Lippenstift zu schminken; beim Mann wachsen plötzlich Haare über der Stelle des vorherigen Mundes, während der Frau die Achselhaare nun fehlen (Einstellung 277); sie streckt dem Mann die Zunge heraus und verlässt das Zimmer. | : (8) Die Frau betritt das Zimmer und sieht einen Nachtfalter (Einstellung 261) mit einem Totenkopf-Symbol an der Wand (Einstellung 268); der junge Mann wischt sich mit der Hand den Mund aus dem Gesicht (Einstellung 271); die Frau beginnt sich daraufhin übertrieben mit Lippenstift zu schminken; beim Mann wachsen plötzlich Haare über der Stelle des vorherigen Mundes, während der Frau die Achselhaare nun fehlen (Einstellung 277); sie streckt dem Mann die Zunge heraus und verlässt das Zimmer. | ||
: (9) Vor der Türe weht ihr starker Wind entgegen; die Frau sieht einen anderen Mann an der Meeresbrandung stehen (Einstellung 285) und läuft zu ihm hin; er zeigt ihr die Zeit auf seiner Uhr, die sie herunterdrückt (Einstellung 290); die Frau küsst ihn, und beide spazieren am steinigen Strand entlang; im Matsch liegt die zerbrochene Holzbox, die der Mann ins Meer kickt, und der Nonnenhabit, den er wegwirft; beide gehen gemeinsam am Strand weiter. | : (9) Vor der Türe weht ihr starker Wind entgegen; die Frau sieht einen anderen Mann an der Meeresbrandung stehen (Einstellung 285) und läuft zu ihm hin; er zeigt ihr die Zeit auf seiner Uhr, die sie herunterdrückt (Einstellung 290); die Frau küsst ihn, und beide spazieren am steinigen Strand entlang; im Matsch liegt die zerbrochene Holzbox, die der Mann ins Meer kickt, und der Nonnenhabit, den er wegwirft; beide gehen gemeinsam am Strand weiter. | ||
: Zwischentitel: "au pintemps…" (Einstellung 299) / "Mit dem Frühling" (Buñuel/Dalí 1974 | : Zwischentitel: "au pintemps…" (Einstellung 299) / "Mit dem Frühling" (Buñuel/Dalí 1974, 97). | ||
: (10) das Paar liegt, bis zum Oberkörper mit Sand und Schlick bedeckt, offenbar tot am Strand. | : (10) das Paar liegt, bis zum Oberkörper mit Sand und Schlick bedeckt, offenbar tot am Strand. | ||
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''Un chien andalou'' vermischt dadurch die symbolhaften, "erratischen und irrationalen Bilder" (Kracauer 1964, 252), die sich wie im Traum dem 'kulturellen Unbewussten' zu entlehnen scheinen und "im Folklore, in den Mythen, Sagen, Redensarten, in der Spruchweisheit und in den umlaufenden Witzen eines Volkes vollständiger als im Träume aufzufinden" (Freud 2009, 353) sind, mit verschiedensten Referenzen und Diskursen. | ''Un chien andalou'' vermischt dadurch die symbolhaften, "erratischen und irrationalen Bilder" (Kracauer 1964, 252), die sich wie im Traum dem 'kulturellen Unbewussten' zu entlehnen scheinen und "im Folklore, in den Mythen, Sagen, Redensarten, in der Spruchweisheit und in den umlaufenden Witzen eines Volkes vollständiger als im Träume aufzufinden" (Freud 2009, 353) sind, mit verschiedensten Referenzen und Diskursen. | ||
Diese "Bilder des Verdrängten" (Gendolla 1994, 139) durch die von Buñuel ausgewählte Musik – Ausschnitte aus einem argentinischen Tango sowie aus Richard Wagners ''Tristan und Isolde'' (1865) – zusammengebracht (vgl. Kagel 1994 | Diese "Bilder des Verdrängten" (Gendolla 1994, 139) werden durch die von Buñuel ausgewählte Musik – Ausschnitte aus einem argentinischen Tango sowie aus Richard Wagners ''Tristan und Isolde'' (1865) – zusammengebracht (vgl. Kagel 1994, 63). Sicherlich nicht zufällig sind also gerade keine Neukompositionen, sondern einprägsame Stücke verwendet, fast als würde das träumende Unbewusste auf bekannte Klänge und Melodien zurückgreifen. | ||
In dieser Kombination aus Bild und Musik entsteht im Medium des Films ein traumhaftes Erzählen mit 'überrealistischer' (eben: 'surrealer') Wirkung, wenn etwa die Konstruktion und 'Gemachtheit' des Films insgesamt – etwa durch ein "theaterhaftes Dekor" (Kracauer 1964 | In dieser Kombination aus Bild und Musik entsteht im Medium des Films ein traumhaftes Erzählen mit 'überrealistischer' (eben: 'surrealer') Wirkung, wenn etwa die Konstruktion und 'Gemachtheit' des Films insgesamt – etwa durch ein "theaterhaftes Dekor" (Kracauer 1964, 254) – nicht versteckt wird. Dadurch entsteht der Eindruck, | ||
: die innere Realität sei der äußeren unendlich überlegen. Folglich ist es ihr [gemeint sind die surrealistischen Filmeschaffenden] dringlichstes Vorhaben, den Strom inneren Lebens und all das, was er an Instinkten, Träumen, Visionen und dergleichen mit sich führt, ohne die Hilfe einer Story oder irgendeines anderen rationalen Kunstgriffs sichtbar zu machen (ebd., 254). | : die innere Realität sei der äußeren unendlich überlegen. Folglich ist es ihr [gemeint sind die surrealistischen Filmeschaffenden] dringlichstes Vorhaben, den Strom inneren Lebens und all das, was er an Instinkten, Träumen, Visionen und dergleichen mit sich führt, ohne die Hilfe einer Story oder irgendeines anderen rationalen Kunstgriffs sichtbar zu machen (ebd., 254). | ||
Interessanterweise bleibt auch die Tricktechnik im Vergleich zu den parallelen Experimenten von Epstein eher zurückhaltend und findet nur | Interessanterweise bleibt auch die Tricktechnik im Vergleich zu den parallelen Experimenten von Epstein eher zurückhaltend und findet sich nur in Doppelbelichtungen und Überblendungen (beispielsweise wenn die Rückansicht des Fahrradfahrers zwischen zwei Einstellungen (Einstellung 25/26) überleitet) und im Verfahren der Stop-Motion-Technik (als sich die Kleidung des Mannes sich im Bett plötzlich verändert; Einstellung 53/55). | ||
===Ausblick=== | ===Ausblick=== | ||
Die Uraufführung des Films wurde zu Buñuels Erleichterung von der surrealistischen 'Kerngruppe' um Breton offenbar sehr positiv aufgenommen – seine mitgebrachten Steine "pour les lancer sur l'assistance en cas d'échec" (Buñuel 1982, 128) wurden letztlich nicht benötigt. Dafür aber wurde Buñuel schon bald sowohl für seine Veröffentlichung des Drehbuchs in der 'bürgerlichen' ''Revue de cinéma'' wie auch für den kommerziellen Erfolg des Films in Paris von den Surrealisten zur Rede gestellt: "Comment un film aussi provocant pouvait-il faire salle comble?" (ebd. | Die Uraufführung des Films wurde zu Buñuels Erleichterung von der surrealistischen 'Kerngruppe' um Breton offenbar sehr positiv aufgenommen – seine mitgebrachten Steine "pour les lancer sur l'assistance en cas d'échec" (Buñuel 1982, 128) wurden letztlich nicht benötigt. Dafür aber wurde Buñuel schon bald sowohl für seine Veröffentlichung des Drehbuchs in der 'bürgerlichen' ''Revue de cinéma'' wie auch für den kommerziellen Erfolg des Films in Paris von den Surrealisten zur Rede gestellt: "Comment un film aussi provocant pouvait-il faire salle comble?" (ebd., 131) Dabei dürfte gerade die Skandalisierung des Films die ZuschauerInnen ins Kino gelockt haben: | ||
: | : Quarante ou cinquante dénonciateurs se présentèrent au commissariat de police en affirmant: 'Il faut interdire ce film obscène et cruel.' […] On compta même deux avortements pendant les projections. Pourtant, le film ne fut pas interdit (ebd., 130). | ||
Letztlich aber blieb Buñuels und Dalís Film in gewisser Weise ein Experiment. Ohnehin entstanden in der Hochphase des Surrealismus nur wenige 'rein surrealistische' Filme (vgl. Turvey 2014, 17) und noch weniger, die sich tatsächlich an einer filmästhetischen Anlehnung an den Traum versuchen. Dies mag auch daran liegen, dass bereits andere Surrealisten kritisiert hatten, eine zu offensichtliche Deutung als Traum könnte "das verstörende Potenzial eines Films" (Brütsch 2011, 38) abschwächen. | |||
Auch andere Filme außerhalb der surrealistischen 'Kerngruppe' griffen durchaus die Ästhetik von ''Un chien andalou'' auf – etwa das Augenthema in Henri Storcks ''Pour vos beaux yeux'' (1929), das bereits in ''Even – As You and I'' (1937) von Roger Barlow, Harry Hay und LeRoy Robbins parodiert wird. Darüber hinaus reicht der Kreis der 'Nachahmer' (vgl. Hammond 2014 | Der 'klassische' Kanon surrealistischer Film umfasst dabei meistens etwa zehn Werke, wobei diese Auswahl durchaus unterschiedlich ausfallen kann und in der Filmwissenschaft nicht immer reflektiert wird (vgl. Béhar 2004, 10 f.): Neben ''Un chien andalou'' von 1929 zählen dazu häufig noch, in chronologischer Reihenfolge: ''Retour à la raison'' (1923) von Man Ray, ''Entracte'' (1924) von René Clair, ''Emak Bakia'' (1927) und ''L'étoile de mer'' (1928) von Man Ray, ''La coquille et le clergyman'' (1928) von Germaine Dulac und Antonin Artaud, ''La perle'' (1929) von Henri d'Arche sowie ''Le mystère du château de dé'' (1929) von Man Ray und Marcel Duchamp. Das folgende Gemeinschaftsprojekt von Buñuel und Dalí, der abendfüllende Spielfilm ''L'âge d'or'' (1930), verfügte über eine deutlich 'stringentere' Handlung, lief jedoch nur wenige Tage und wurde dann von der Filmzensur verboten. | ||
Auch andere Filme außerhalb der surrealistischen 'Kerngruppe' griffen durchaus die Ästhetik von ''Un chien andalou'' auf – etwa das Augenthema in Henri Storcks ''Pour vos beaux yeux'' (1929), das bereits in ''Even – As You and I'' (1937) von Roger Barlow, Harry Hay und LeRoy Robbins parodiert wird. Darüber hinaus reicht der Kreis der 'Nachahmer' (vgl. Hammond 2014, 37) im erweiterten 'surrealistischen' Umfeld von Jean Cocteaus ''Le sang d'un poète'' (1930) oder Michel Zimbaccas und Jean-Louis Bédouins ''L'invention du monde'' (1951) bis hin zu zeitgenössischen Werken von David Cronenberg, Terry Gilliam oder David Lynch. | |||
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===Drehbuch=== | ===Drehbuch=== | ||
* Buñuel, Luis/Salvador Dalí: Un Chien andalou. In: La Révolution Surréaliste 12 (15.12.1929), 24-37. | * Buñuel, Luis/Salvador Dalí: Un Chien andalou. In: La Révolution Surréaliste 12 (15.12.1929), 24-37. | ||
* Buñuel, Luis/Salvador Dalí: Ein andalusischer Hund. In: Salvador Dalí | * Buñuel, Luis/Salvador Dalí: Ein andalusischer Hund. In: Salvador Dalí: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften. Hg. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann. München: Rogner & Bernhard 1974, 91–97. | ||
* Buñuel, Luis/Salvador Dalí: Un chien andalou. Vorwort von Jean Vigo, Transkription und Einleitung von Phillip Drummond. London: Faber & Faber 1994. | * Buñuel, Luis/Salvador Dalí: Un chien andalou. Vorwort von Jean Vigo, Transkription und Einleitung von Phillip Drummond. London: Faber & Faber 1994. | ||
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* Breton, André: Manifeste du surréalisme (1924). In: Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 1979, 13–65. | * Breton, André: Manifeste du surréalisme (1924). In: Ders.: Manifestes du surréalisme. Paris: Gallimard 1979, 13–65. | ||
* Breton, André: Présentation d'''Un Chien Andalou'' [17.05.1938]. In: | * Breton, André: Présentation d'''Un Chien Andalou'' [17.05.1938]. In: Ders., Œuvres complètes. Ed. by Marguerite Bonnet. Paris: Gallimard 1992, Bd. 2, 1263-1267. | ||
* Breton, André: Lettre à A. Rolland de Renéville. In: La nouvelle revue française 226 (1932), 151–155. | * Breton, André: Lettre à A. Rolland de Renéville. In: La nouvelle revue française 226 (1932), 151–155. | ||
* Buñuel, Luis: Mon dernier soupir. Paris: Laffont 1982. | * Buñuel, Luis: Mon dernier soupir. Paris: Laffont 1982. | ||
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* King, Elliott H.: Dalí, Surrealism and Cinema. Harpenden: Kamera Books 2007. | * King, Elliott H.: Dalí, Surrealism and Cinema. Harpenden: Kamera Books 2007. | ||
* Koebner, Thomas: Von Träumen im Film. Visionen einer anderen Wirklichkeit. Marburg: Schüren 2018. | * Koebner, Thomas: Von Träumen im Film. Visionen einer anderen Wirklichkeit. Marburg: Schüren 2018. | ||
* Kracauer | * Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [zuerst als: Theory of Film, 1960]. Übers. von Friedrich Walter und Ruth Zollschan. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964. | ||
* Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014. | * Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014. | ||
* Finkelstein, Haim: Dali and ''Un Chien andalou''. The Nature of a Collaboration. In: Rudolf E. Kuenzli (Hg.): Dada and Surrealist Film. Cambridge, Mass., London: MIT 1996, 128-142. | * Finkelstein, Haim: Dali and ''Un Chien andalou''. The Nature of a Collaboration. In: Rudolf E. Kuenzli (Hg.): Dada and Surrealist Film. Cambridge, Mass., London: MIT 1996, 128-142. |