"Marianne Dreams" (Catherine Storr): Unterschied zwischen den Versionen
Zur Navigation springen
Zur Suche springen
"Marianne Dreams" (Catherine Storr) (Quelltext anzeigen)
Version vom 22. September 2021, 15:04 Uhr
, 22. September 2021keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
||
Zeile 61: | Zeile 61: | ||
Zur erträumten Behausung/Zeichnung | Zur erträumten Behausung/Zeichnung | ||
Das in ihrem seriellen Traum erkundete und tagsüber stetig überarbeitete und erweiterte Haus weist zunächst nur eine Fassade auf. Erst nach und nach wird der Innenraum erschlossen, wobei der Fokus auf bestimmte Räume gerichtet wird. Beispielsweise gibt es keine Küche, sondern lediglich einen am ehesten als Schlaf- bzw. Kinderzimmer identifizierbaren Raum, ein Treppenhaus sowie einen Keller. Storr setzt mit dieser Gewichtung die kindliche Perspektive bzw. Raumwahrnehmung ins Bild, da der familiären Gemeinschaft vorbehaltene Orte, wie Küche oder Wohnzimmer, hier keine Bedeutung beigemessen wird. Auch wenn Marianne und Mark gemeinsam essen, oder Kartenspielen, tun sie dies stets in Marks Schlafzimmer, was allerdings auch seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit geschuldet sein mag. In dieser Darstellung gelangt demnach sowohl eine Ermächtigungsfantasie als auch eine Notsituation zum Ausdruck. Da erwachsene Instanzen abwesend sind, sind die Kinder auf sich alleine gestellt. Wenn sie hungrig sind, zeichnet Marianne im nächsten Tag Lebensmittel in den Bildraum, die sich im seriellen Traum als unerschöpflich entpuppen. | Das in ihrem seriellen Traum erkundete und tagsüber stetig überarbeitete und erweiterte Haus weist zunächst nur eine Fassade auf. Erst nach und nach wird der Innenraum erschlossen, wobei der Fokus auf bestimmte Räume gerichtet wird. Beispielsweise gibt es keine Küche, sondern lediglich einen am ehesten als Schlaf- bzw. Kinderzimmer identifizierbaren Raum, ein Treppenhaus sowie einen Keller. Storr setzt mit dieser Gewichtung die kindliche Perspektive bzw. Raumwahrnehmung ins Bild, da der familiären Gemeinschaft vorbehaltene Orte, wie Küche oder Wohnzimmer, hier keine Bedeutung beigemessen wird. Auch wenn Marianne und Mark gemeinsam essen, oder Kartenspielen, tun sie dies stets in Marks Schlafzimmer, was allerdings auch seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit geschuldet sein mag. In dieser Darstellung gelangt demnach sowohl eine Ermächtigungsfantasie als auch eine Notsituation zum Ausdruck. Da erwachsene Instanzen abwesend sind, sind die Kinder auf sich alleine gestellt. Wenn sie hungrig sind, zeichnet Marianne im nächsten Tag Lebensmittel in den Bildraum, die sich im seriellen Traum als unerschöpflich entpuppen. | ||
Auf metaphorischer Ebene lässt sich das gezeichnete Haus als Visualisierung eines Krankheitszustandes bzw. erkrankten Körpers lesen. Der Umstand, dass Marianne die Zeichnung ausgerechnet in dem Moment beginnt, als sie auf ihren Arzt wartet, der ihrem aktuellen, ungewissen Zustand bzw. Leiden ein Ende bereiten könnte, erscheint aufschlussreich, wird doch das mit ihrer Krankheit in Verbindung stehende Haus auf diese Weise als Symbol des Leidens und der unbenannten Krankheit lesbar. Gleichzeitig kann es auf den erkrankten Körper bezogen werden, der seine Funktion als verlässliche und funktionstüchtige Behausung verloren hat, sodass sich die Figur einen neuen Raum schafft, den sie nach Belieben ausstatten kann und den sie unbedingt erkunden möchte. Die Zustände des Träumens und der Erkrankung werden auch darüber miteinander verbunden, dass Marianne ein anderes erkranktes Kind in dieses Haus platziert, das sich nichts sehnlicher wünscht als diesen in seinen Augen unsicheren Ort bzw. Zustand zu verlassen. | Auf metaphorischer Ebene lässt sich das gezeichnete Haus als Visualisierung eines Krankheitszustandes bzw. erkrankten Körpers lesen. Der Umstand, dass Marianne die Zeichnung ausgerechnet in dem Moment beginnt, als sie auf ihren Arzt wartet, der ihrem aktuellen, ungewissen Zustand bzw. Leiden ein Ende bereiten könnte, erscheint aufschlussreich, wird doch das mit ihrer Krankheit in Verbindung stehende Haus auf diese Weise als Symbol des Leidens und der unbenannten Krankheit lesbar. Gleichzeitig kann es auf den erkrankten Körper bezogen werden, der seine Funktion als verlässliche und funktionstüchtige Behausung verloren hat, sodass sich die Figur einen neuen Raum schafft, den sie nach Belieben ausstatten kann und den sie unbedingt erkunden möchte. Die Zustände des Träumens und der Erkrankung werden auch darüber miteinander verbunden, dass Marianne ein anderes erkranktes Kind in dieses Haus platziert, das sich nichts sehnlicher wünscht als diesen in seinen Augen unsicheren Ort bzw. Zustand zu verlassen. | ||
Zeile 74: | Zeile 75: | ||
Interpretation | Interpretation | ||
Der Umstand, dass die Krankheit, an der Marianne leidet, an keiner Stelle eine Diagnose erfährt, trägt dazu bei, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise bleiben die Ungewissheiten, die mit dem Zustand der Krankheit verbunden sind und die ebenso in der nächtlichen Erkundung ihrer Zeichnung zur Darstellung gelangen, über die gesamte Erzählung hinweg präsent. | Der Umstand, dass die Krankheit, an der Marianne leidet, an keiner Stelle eine Diagnose erfährt, trägt dazu bei, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise bleiben die Ungewissheiten, die mit dem Zustand der Krankheit verbunden sind und die ebenso in der nächtlichen Erkundung ihrer Zeichnung zur Darstellung gelangen, über die gesamte Erzählung hinweg präsent. | ||
Enggeführt werden die Zustände der Rekonvaleszenz und des Träumens auch mit jenem der Adoleszenz. Auch in diesem Zwischenstadium fehlt es an Orientierung, was die Figur wie folgt zum Ausdruck bringt: „It’s neither one thing nor the other, not being well and not being ill, and I hate it.“ (MD 141) In einem Vortrag zum Thema Horror und Angst in kinder- und jugendliterarischen Werken hat Storr asugeführt, dass die fantastische Literatur dazu prädestiniert sei, die paradoxen und mitunter beängstigenden Gefühle im Angesicht der Aufgabe, erwachsen zu werden, zu veranschaulichen. Durch die unmittelbare Verbindung ihrer Zeichnung zu ihren seriellen Träumen wird Marianne mit den im Wachen verdrängten und im Traum verdichteten ambivalenten Gefühlen, wie etwa Ungeduld, Missgunst und Eifersucht konfrontiert. Gleichzeitig erlebt sie eine Ermächtigung durch den magischen Bleistift, sodass sie sich in ihren Träumen, etwa im Streitgespräch mit Mark, der nicht einsieht, dass es noch eine andere, wache Realitätsebene gibt, Omnipotenzfantasien hingibt, die auf den Konstruktionscharakter des erträumten Hauses bezogen sind: | Enggeführt werden die Zustände der Rekonvaleszenz und des Träumens auch mit jenem der Adoleszenz. Auch in diesem Zwischenstadium fehlt es an Orientierung, was die Figur wie folgt zum Ausdruck bringt: „It’s neither one thing nor the other, not being well and not being ill, and I hate it.“ (MD 141) In einem Vortrag zum Thema Horror und Angst in kinder- und jugendliterarischen Werken hat Storr asugeführt, dass die fantastische Literatur dazu prädestiniert sei, die paradoxen und mitunter beängstigenden Gefühle im Angesicht der Aufgabe, erwachsen zu werden, zu veranschaulichen. Durch die unmittelbare Verbindung ihrer Zeichnung zu ihren seriellen Träumen wird Marianne mit den im Wachen verdrängten und im Traum verdichteten ambivalenten Gefühlen, wie etwa Ungeduld, Missgunst und Eifersucht konfrontiert. Gleichzeitig erlebt sie eine Ermächtigung durch den magischen Bleistift, sodass sie sich in ihren Träumen, etwa im Streitgespräch mit Mark, der nicht einsieht, dass es noch eine andere, wache Realitätsebene gibt, Omnipotenzfantasien hingibt, die auf den Konstruktionscharakter des erträumten Hauses bezogen sind: |