"Wolga" (Lou Andreas-Salomé): Unterschied zwischen den Versionen
Zur Navigation springen
Zur Suche springen
"Wolga" (Lou Andreas-Salomé) (Quelltext anzeigen)
Version vom 25. Februar 2022, 14:41 Uhr
, 25. Februar 2022keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
|||
Zeile 10: | Zeile 10: | ||
Auf ihren beiden Russlandreisen, die sie im ausgehenden 19. Jahrhundert mit ihrem damaligen Geliebten Rainer-Maria Rilke (1875-1926) unternahm, führte sie Reisetagebücher, die sie auch mit Gedichten füllte. Insbesondere die Wolgafahrt, die sie mit Rilke auf ihrer zweiten Russlandreise unternahm, hinterließ einen bleibenden Eindruck, den sie auf künstlerische Weise sowohl in ihrer Novelle wie auch in dem im Reisetagebuch vermerkten Gedicht ''Wolga'' verarbeitete: | Auf ihren beiden Russlandreisen, die sie im ausgehenden 19. Jahrhundert mit ihrem damaligen Geliebten Rainer-Maria Rilke (1875-1926) unternahm, führte sie Reisetagebücher, die sie auch mit Gedichten füllte. Insbesondere die Wolgafahrt, die sie mit Rilke auf ihrer zweiten Russlandreise unternahm, hinterließ einen bleibenden Eindruck, den sie auf künstlerische Weise sowohl in ihrer Novelle wie auch in dem im Reisetagebuch vermerkten Gedicht ''Wolga'' verarbeitete: | ||
: Bist Du auch fern: ich schaue Dich doch an, | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
: Bist Du auch fern: mir bleibst Du doch gegeben - | |- | ||
: Wie eine Gegenwart, die nicht verblassen kann. | || | ||
: Wie meine Landschaft liegst Du um mein Leben. | : <span style="color: #7b879e;">Bist Du auch fern: ich schaue Dich doch an, | ||
: <span style="color: #7b879e;">Bist Du auch fern: mir bleibst Du doch gegeben - | |||
: <span style="color: #7b879e;">Wie eine Gegenwart, die nicht verblassen kann. | |||
: <span style="color: #7b879e;">Wie meine Landschaft liegst Du um mein Leben. | |||
: Hätt‘ ich an Deinen Ufern nie geruht: | : <span style="color: #7b879e;">Hätt‘ ich an Deinen Ufern nie geruht: | ||
: Mir ist, als wüßt ich doch um Deine Weiten, | : <span style="color: #7b879e;">Mir ist, als wüßt ich doch um Deine Weiten, | ||
: Als landete mich jede Traumesflut | : <span style="color: #7b879e;">Als landete mich jede Traumesflut | ||
: An Deinen ungeheuren Einsamkeiten. | : <span style="color: #7b879e;">An Deinen ungeheuren Einsamkeiten. | ||
:: (Andreas-Salomé 1999). | :: <span style="color: #7b879e;">(Andreas-Salomé 1999).</span> | ||
|} | |||
Veröffentlicht wurde die Erzählung in dem Novellenzyklus ''Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen'' im Jahre 1902 in der J.G. Cotta’schen Buchhandlung. Vorangegangen war eine Zeitschriftenpublikation in der von F.W. Hackländer herausgegebenen ''Deutschen Roman-Bibliothek'' (1901). Wie Britta Benert, die Herausgeberin der neuen Standard-Edition, hervorhebt, weicht die Zeitschriftenfassung stark von der in der Novellensammlung publizierten Version ab (W 392 ff.). Gewidmet ist der Novellenzyklus der Cousine der Verfasserin, Emma Flörke, geb. Wilm, „zur Erinnerung an unsere Kindheit“. | Veröffentlicht wurde die Erzählung in dem Novellenzyklus ''Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen'' im Jahre 1902 in der J.G. Cotta’schen Buchhandlung. Vorangegangen war eine Zeitschriftenpublikation in der von F.W. Hackländer herausgegebenen ''Deutschen Roman-Bibliothek'' (1901). Wie Britta Benert, die Herausgeberin der neuen Standard-Edition, hervorhebt, weicht die Zeitschriftenfassung stark von der in der Novellensammlung publizierten Version ab (W 392 ff.). Gewidmet ist der Novellenzyklus der Cousine der Verfasserin, Emma Flörke, geb. Wilm, „zur Erinnerung an unsere Kindheit“. | ||
Zeile 40: | Zeile 44: | ||
Das Märchen kreist um eine am Brunnen schlafende verzauberte Prinzessin, die von einem Ritter innerhalb von drei Nächten erlöst werden könnte, wenn er sie in den tiefen Brunnen wirft. Doch statt ihrer wirft er in der ersten Nacht einen Stein ins Wasser; am nächsten Abend hebt er sie zwar hoch, ist jedoch von ihrer Schönheit derart gebannt, dass er sie wieder ablegt; am dritten Morgen „zerrinnt die Prinzessin vor ihm im Nebel der Morgendämmerung, und vom Platz, wo sie gelegen, schlüpft ein grünes Fröschlein traurig von dannen“ (W 312). Die Analogie dieses fiktiven Märchens zur Prophezeihung Valdevenens, sie werde sich eines Tages wehrlos „wie blind und taub und lahm, wie im tiefsten Schlaf, […] hineinwerfen lassen in das tiefe, enge Gelaß [der Ehe]“ (W 310), ist unverkennbar. Was genau Valdevenen mit diesen Andeutungen meint, erschließt sich Ljubow nicht, doch weckt das Gespräch ihre Neugier, mehr über seine Ansichten zu erfahren. Die Rollenverteilung und -erwartungen in ihrem Lieblingsmärchen sind ihr hingegen vertraut und erscheinen ihr als unveränderlich. So gibt sie sich zunächst einem genussvollen Traum hin, in welchem sie sich als verzauberte Prinzessin imaginiert, die einen Ritter (Valdevenen) in höchste Verzückung versetzt. | Das Märchen kreist um eine am Brunnen schlafende verzauberte Prinzessin, die von einem Ritter innerhalb von drei Nächten erlöst werden könnte, wenn er sie in den tiefen Brunnen wirft. Doch statt ihrer wirft er in der ersten Nacht einen Stein ins Wasser; am nächsten Abend hebt er sie zwar hoch, ist jedoch von ihrer Schönheit derart gebannt, dass er sie wieder ablegt; am dritten Morgen „zerrinnt die Prinzessin vor ihm im Nebel der Morgendämmerung, und vom Platz, wo sie gelegen, schlüpft ein grünes Fröschlein traurig von dannen“ (W 312). Die Analogie dieses fiktiven Märchens zur Prophezeihung Valdevenens, sie werde sich eines Tages wehrlos „wie blind und taub und lahm, wie im tiefsten Schlaf, […] hineinwerfen lassen in das tiefe, enge Gelaß [der Ehe]“ (W 310), ist unverkennbar. Was genau Valdevenen mit diesen Andeutungen meint, erschließt sich Ljubow nicht, doch weckt das Gespräch ihre Neugier, mehr über seine Ansichten zu erfahren. Die Rollenverteilung und -erwartungen in ihrem Lieblingsmärchen sind ihr hingegen vertraut und erscheinen ihr als unveränderlich. So gibt sie sich zunächst einem genussvollen Traum hin, in welchem sie sich als verzauberte Prinzessin imaginiert, die einen Ritter (Valdevenen) in höchste Verzückung versetzt. | ||
: Getrost und überlegen liegt die Schlafende da. Sie weiß es ja aus dem Märchen, daß sie nicht in den Brunnen fallen wird, nur er, der Ärmste, weiß es noch nicht. Und sie freut sich auf den Schluß, wo er, von ihrer Lieblichkeit berückt, sie in Verzweiflung anschwärmen wird (W 313). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Getrost und überlegen liegt die Schlafende da. Sie weiß es ja aus dem Märchen, daß sie nicht in den Brunnen fallen wird, nur er, der Ärmste, weiß es noch nicht. Und sie freut sich auf den Schluß, wo er, von ihrer Lieblichkeit berückt, sie in Verzweiflung anschwärmen wird (W 313).</span> | |||
|} | |||
Andreas-Salomé lässt die Leserschaft nicht nur an den Quellen, aus welchen sich das Traumgeschehen speist teilhaben, sondern auch an der den Traum begleitenden Geräuschkulisse aus dem Umfeld der Schlafenden: Es sind Schritte vernehmbar, die mutmaßlich von Valdevenen herrühren, der vor Ljubows Kabine auf dem Deck auf und ab läuft. Die nah am Fenster auf einem Diwan Liegende hört, wie er einen Stein ins Wasser wirft, woraufhin sich die Schritte entfernen. | Andreas-Salomé lässt die Leserschaft nicht nur an den Quellen, aus welchen sich das Traumgeschehen speist teilhaben, sondern auch an der den Traum begleitenden Geräuschkulisse aus dem Umfeld der Schlafenden: Es sind Schritte vernehmbar, die mutmaßlich von Valdevenen herrühren, der vor Ljubows Kabine auf dem Deck auf und ab läuft. Die nah am Fenster auf einem Diwan Liegende hört, wie er einen Stein ins Wasser wirft, woraufhin sich die Schritte entfernen. | ||
Zeile 46: | Zeile 54: | ||
Doch kurz darauf kehrt der Traumritter zurück und die Träumende | Doch kurz darauf kehrt der Traumritter zurück und die Träumende | ||
: fühlt sich aufgenommen von zwei Armen, – hochgehoben, dann herabgesenkt, – eine moderige Luft schlägt ihr feuchtkalt aus irgendwelcher Tiefe entgegen. Sie denkt schnell: "Das ist ein Irrtum, – das kommt ja erst morgen, – er überschlägt eine Nacht!" Und ungeduldig wartet sie, daß nun ihre Lieblichkeit ihn bestechen werde (W 313 f.). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">fühlt sich aufgenommen von zwei Armen, – hochgehoben, dann herabgesenkt, – eine moderige Luft schlägt ihr feuchtkalt aus irgendwelcher Tiefe entgegen. Sie denkt schnell: "Das ist ein Irrtum, – das kommt ja erst morgen, – er überschlägt eine Nacht!" Und ungeduldig wartet sie, daß nun ihre Lieblichkeit ihn bestechen werde (W 313 f.).</span> | |||
|} | |||
Märchenhandlung und Traumgeschehen entfernen sich so zunehmend voneinander, was die Schlafende zutiefst ängstigt: | Märchenhandlung und Traumgeschehen entfernen sich so zunehmend voneinander, was die Schlafende zutiefst ängstigt: | ||
: Da wird sie von Entsetzen gepackt. Wenn er die Reihenfolge nicht wie im Märchen einhält, dann kann ja überhaupt alles ganz anders ausgehen, – dann befindet sich unten im Brunnen auch gar kein Goldschloß mit Diamantzinnen, wo sie mit ihrem Ritter und Erlöser als glückliches Paar in Freuden und Herrlichkeit leben soll, – dann fällt sie einfach ins Wasser, – in eiskaltes Wasser, – und ertrinkt (W 314). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Da wird sie von Entsetzen gepackt. Wenn er die Reihenfolge nicht wie im Märchen einhält, dann kann ja überhaupt alles ganz anders ausgehen, – dann befindet sich unten im Brunnen auch gar kein Goldschloß mit Diamantzinnen, wo sie mit ihrem Ritter und Erlöser als glückliches Paar in Freuden und Herrlichkeit leben soll, – dann fällt sie einfach ins Wasser, – in eiskaltes Wasser, – und ertrinkt (W 314).</span> | |||
|} | |||
Als schließlich der Saum ihres Rocks feucht wird, reißt ihr die Angst die Augen auf, wie es im Text heißt, doch sehen kann sie nichts - nur fühlen, dass sie in den Mantel Valdevenens gehüllt ist, der ganz nah bei ihr ist und dennoch „wie von weitem“ (W 315) zu ihr spricht. Dass sie erwacht, wird erst nach der folgenden Verführungsszene beschrieben, sodass die Leserschaft im Unklaren darüber gelassen wird, ob die Verführung durch Valdevenen (der Ljubow darlegt, dass er weit Schöneres kenne als ein Goldschloss mit Diamantzinnen und dass in ihr selbst ein Brunnen liege) noch Teil des Traumes bzw. ein Traum im Traum ist: „In dir selber mußt du zu allem bereit sein, was ein anderer dir tut, – dich von ihm nehmen und hinabsenken lassen, und nicht fragen, was er tut. Du mußt versinken, dann wirst du auferstehen“ (W 315). Ljobow sträubt sich zunächst gegen diese Anweisung, fällt jedoch nur kurz in die Rolle der schlafenden, passiven Prinzessin zurück: „,Nein, – nein, ich will lieber verzaubert bleiben!' denkt sie in Angst. Aber noch während sie es denkt, heben ihre Arme wider ihren Willen sich schon“ (W 316). Dafür, dass diese Verführung noch Teil der Traumhandlung ist, sprechen die fünfzehn Gedankenstriche, von denen die Traumhandlung gerahmt wird: „Eine Wonne, stark wie Schmerz, benimmt ihr die Besinnung. – – – – – – – – – – – – Mit einem tiefen seufzenden Atemzug erwachte sie“ (W 316), heißt es am Ende des Abschnitts. | Als schließlich der Saum ihres Rocks feucht wird, reißt ihr die Angst die Augen auf, wie es im Text heißt, doch sehen kann sie nichts - nur fühlen, dass sie in den Mantel Valdevenens gehüllt ist, der ganz nah bei ihr ist und dennoch „wie von weitem“ (W 315) zu ihr spricht. Dass sie erwacht, wird erst nach der folgenden Verführungsszene beschrieben, sodass die Leserschaft im Unklaren darüber gelassen wird, ob die Verführung durch Valdevenen (der Ljubow darlegt, dass er weit Schöneres kenne als ein Goldschloss mit Diamantzinnen und dass in ihr selbst ein Brunnen liege) noch Teil des Traumes bzw. ein Traum im Traum ist: „In dir selber mußt du zu allem bereit sein, was ein anderer dir tut, – dich von ihm nehmen und hinabsenken lassen, und nicht fragen, was er tut. Du mußt versinken, dann wirst du auferstehen“ (W 315). Ljobow sträubt sich zunächst gegen diese Anweisung, fällt jedoch nur kurz in die Rolle der schlafenden, passiven Prinzessin zurück: „,Nein, – nein, ich will lieber verzaubert bleiben!' denkt sie in Angst. Aber noch während sie es denkt, heben ihre Arme wider ihren Willen sich schon“ (W 316). Dafür, dass diese Verführung noch Teil der Traumhandlung ist, sprechen die fünfzehn Gedankenstriche, von denen die Traumhandlung gerahmt wird: „Eine Wonne, stark wie Schmerz, benimmt ihr die Besinnung. – – – – – – – – – – – – Mit einem tiefen seufzenden Atemzug erwachte sie“ (W 316), heißt es am Ende des Abschnitts. | ||
Zeile 57: | Zeile 73: | ||
Obwohl sie in der nächsten Nacht vor dem Einschlafen an die wärmenden Hände ihrer verstorbenen Mutter denkt, bleibt diese Nacht traumlos. Erst in der darauf folgenden – wie in ihrem Lieblingsmärchen werden auch in der Novelle drei Nächte beschrieben – träumt sie in einem Zustand des „Halbschlummers“ (W 334). Der zweite Traum steht ebenfalls im Spannungsfeld von Kindheitserinnerungen, Tagesresten und (sexuellen) Sehnsüchten. Da sie am Tag Postkarten an ihre Klassenkameradinnen geschrieben hat, träumt sie von ihren Freundinnen, doch stets im Bewusstsein, dass Valdevenen am nächsten Morgen das Schiff verlassen wird und sie ihn unbedingt noch vor seiner Abreise sehen möchte. Daher schläft sie nicht in ihrer Kabine, sondern im Salon der 1. Klasse, wo er sie leichter aufsuchen kann, ohne Aufsehen zu erregen. So heißt es: | Obwohl sie in der nächsten Nacht vor dem Einschlafen an die wärmenden Hände ihrer verstorbenen Mutter denkt, bleibt diese Nacht traumlos. Erst in der darauf folgenden – wie in ihrem Lieblingsmärchen werden auch in der Novelle drei Nächte beschrieben – träumt sie in einem Zustand des „Halbschlummers“ (W 334). Der zweite Traum steht ebenfalls im Spannungsfeld von Kindheitserinnerungen, Tagesresten und (sexuellen) Sehnsüchten. Da sie am Tag Postkarten an ihre Klassenkameradinnen geschrieben hat, träumt sie von ihren Freundinnen, doch stets im Bewusstsein, dass Valdevenen am nächsten Morgen das Schiff verlassen wird und sie ihn unbedingt noch vor seiner Abreise sehen möchte. Daher schläft sie nicht in ihrer Kabine, sondern im Salon der 1. Klasse, wo er sie leichter aufsuchen kann, ohne Aufsehen zu erregen. So heißt es: | ||
: ein Halbschlummer kam über sie mit halben Träumen –, aber immer entsann sie sich doch, daß sie dasaß und worauf sie wartete. Erinnerungen aus ihrer Schulzeit kamen ihr, alle die Mädchen tauchten in ihrem dämmernden Bewußtsein auf, mit denen sie bis vor einigen Tagen ganz unzertrennlich vertraut gewesen (W 334). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">ein Halbschlummer kam über sie mit halben Träumen –, aber immer entsann sie sich doch, daß sie dasaß und worauf sie wartete. Erinnerungen aus ihrer Schulzeit kamen ihr, alle die Mädchen tauchten in ihrem dämmernden Bewußtsein auf, mit denen sie bis vor einigen Tagen ganz unzertrennlich vertraut gewesen (W 334).</span> | |||
|} | |||
Im Halbschlaf reflektiert sie darüber, ob sie nach den Erlebnissen der letzten beiden Tage noch so unbefangen mit ihnen umgehen könnte wie sie es vor ihrer Reise gewohnt war. Dem harmlosen Ballspiel, das sie sodann imaginiert, wird eine anrüchige Note verliehen, als der Ball unversehens „dicht an ihnen vorbei, in die Untiefe“ (ebd.) entgleitet. Und ein | Im Halbschlaf reflektiert sie darüber, ob sie nach den Erlebnissen der letzten beiden Tage noch so unbefangen mit ihnen umgehen könnte wie sie es vor ihrer Reise gewohnt war. Dem harmlosen Ballspiel, das sie sodann imaginiert, wird eine anrüchige Note verliehen, als der Ball unversehens „dicht an ihnen vorbei, in die Untiefe“ (ebd.) entgleitet. Und ein | ||
: schwindelndes Prickeln überlief sie, als glitte sie jetzt selbst – ja, sie selbst war es ja, die da ausglitt, am Abhang, wo sie alle gespielt, sie glitt, glitt hinab, hinunter, wer weiß wohin, wer weiß wie tief! Schlaftrunken griff sie haltlos, suchend in die Luft. Nur noch wie eine von ihnen längst Geschiedene unterschied sie ihre Gefährtinnen dort oben, irgendwo, auf freundlicher, sonniger Wiese. Alle sah sie (W 334 f.). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">schwindelndes Prickeln überlief sie, als glitte sie jetzt selbst – ja, sie selbst war es ja, die da ausglitt, am Abhang, wo sie alle gespielt, sie glitt, glitt hinab, hinunter, wer weiß wohin, wer weiß wie tief! Schlaftrunken griff sie haltlos, suchend in die Luft. Nur noch wie eine von ihnen längst Geschiedene unterschied sie ihre Gefährtinnen dort oben, irgendwo, auf freundlicher, sonniger Wiese. Alle sah sie (W 334 f.).</span> | |||
|} | |||
Rekurriert wird hier auf das Bild des „gefallenen“ Mädchens, das sich weder moralisch noch gesellschaftlich auf Augenhöhe mit ihren Spielgefährtinnen befindet: | Rekurriert wird hier auf das Bild des „gefallenen“ Mädchens, das sich weder moralisch noch gesellschaftlich auf Augenhöhe mit ihren Spielgefährtinnen befindet: | ||
: Alle sah sie – doch nur noch von fern, nur noch blaß, als sei sie schon aus dem heitern Reigen ausgetreten, als blickten alle schon fast fremd nach ihr. Und immer blasser standen sie vor ihr, – jetzt flatterte deutlich nur noch ein helles Kleid, – jetzt wehte noch gelöstes blondes Mädchenhaar, winkte noch eine Hand, – und bald wußte Ljubow nicht mehr, ob es nicht nur wieder die Birken am hohen Rande der Wolga seien, die im Winde so wehten und winkten, abschied grüßend – – (W 335). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Alle sah sie – doch nur noch von fern, nur noch blaß, als sei sie schon aus dem heitern Reigen ausgetreten, als blickten alle schon fast fremd nach ihr. Und immer blasser standen sie vor ihr, – jetzt flatterte deutlich nur noch ein helles Kleid, – jetzt wehte noch gelöstes blondes Mädchenhaar, winkte noch eine Hand, – und bald wußte Ljubow nicht mehr, ob es nicht nur wieder die Birken am hohen Rande der Wolga seien, die im Winde so wehten und winkten, abschied grüßend – – (W 335).</span> | |||
|} | |||
Die Birken, mit denen sie sich zunächst identifiziert, erscheinen nach diesem Halbschlaf plötzlich als das Fremde und Andere eines vergangenen Lebens. Sie befindet sich tatsächlich in einem Zwischenland, dessen zahlreiche Unwägbarkeiten durch den Zustand des Halbschlafs zur Darstellung gelangen. | Die Birken, mit denen sie sich zunächst identifiziert, erscheinen nach diesem Halbschlaf plötzlich als das Fremde und Andere eines vergangenen Lebens. Sie befindet sich tatsächlich in einem Zwischenland, dessen zahlreiche Unwägbarkeiten durch den Zustand des Halbschlafs zur Darstellung gelangen. | ||
Zeile 72: | Zeile 100: | ||
In Adoleszenzerzählungen kommt dem Traum als Zwischenstadium von Gestern/Vergangenem und Morgen/Künftigem eine besondere Bedeutung zu, die auch in Andreas-Salomés Novelle präsent ist. Eine Besonderheit besteht in der Verwendung von Erzählweisen des Volksmärchens. Auf die Traumhaftigkeit des Erzählens in Volksmärchen macht bereits Lüthi aufmerksam (Lüthi 2005, 79). Wie Träume sind sie stets auf das unmittelbare Erleben der Figuren fokussiert, stellen lediglich dar, aber stellen nichts in Frage, erklären und fordern nichts. Zudem wird auch in den Grimm’schen Volksmärchen häufig die Adoleszenz der Figuren thematisiert, was insbesondere in der ersten Konfrontation mit Liebe und Tod zur Darstellung gelangt (Rölleke 1985, 82). So ist es charakteristisch für das (Grimm’sche) Märchen, dass Reifevorgänge immer auch Todeserfahrungen implizieren, wobei letztere häufig symbolischen Charakter haben und auf den Verlust der Kindheit oder der Bindungen an Personen (Eltern/Geschwister) bezogen werden (ebd.). Diese Todeserfahrung kommt im wachen Erleben Ljubows zum Ausdruck (etwa in der Konfrontation mit dem plötzlichen Einsatz Valdevenens während des Landgangs), aber auch im Traum bzw. dem fiktiven Lieblingsmärchen mit der Aufgabe, die schlafende Prinzessin in den tiefen Brunnen zu werfen. Auch nach den Gesprächen mit Valdevenen wird Ljubow immer wieder an dieses Bild erinnert, etwa wenn sie sich vorstellt, der Grund der Wolga wäre der tiefe Brunnen, in den Valdevenen sie stoßen könnte: | In Adoleszenzerzählungen kommt dem Traum als Zwischenstadium von Gestern/Vergangenem und Morgen/Künftigem eine besondere Bedeutung zu, die auch in Andreas-Salomés Novelle präsent ist. Eine Besonderheit besteht in der Verwendung von Erzählweisen des Volksmärchens. Auf die Traumhaftigkeit des Erzählens in Volksmärchen macht bereits Lüthi aufmerksam (Lüthi 2005, 79). Wie Träume sind sie stets auf das unmittelbare Erleben der Figuren fokussiert, stellen lediglich dar, aber stellen nichts in Frage, erklären und fordern nichts. Zudem wird auch in den Grimm’schen Volksmärchen häufig die Adoleszenz der Figuren thematisiert, was insbesondere in der ersten Konfrontation mit Liebe und Tod zur Darstellung gelangt (Rölleke 1985, 82). So ist es charakteristisch für das (Grimm’sche) Märchen, dass Reifevorgänge immer auch Todeserfahrungen implizieren, wobei letztere häufig symbolischen Charakter haben und auf den Verlust der Kindheit oder der Bindungen an Personen (Eltern/Geschwister) bezogen werden (ebd.). Diese Todeserfahrung kommt im wachen Erleben Ljubows zum Ausdruck (etwa in der Konfrontation mit dem plötzlichen Einsatz Valdevenens während des Landgangs), aber auch im Traum bzw. dem fiktiven Lieblingsmärchen mit der Aufgabe, die schlafende Prinzessin in den tiefen Brunnen zu werfen. Auch nach den Gesprächen mit Valdevenen wird Ljubow immer wieder an dieses Bild erinnert, etwa wenn sie sich vorstellt, der Grund der Wolga wäre der tiefe Brunnen, in den Valdevenen sie stoßen könnte: | ||
: Alles herum erschien ihr so gespenstisch-märchenhaft. Sie hatte hinuntergeblickt in das schwarze Wasser, in dem ein Schiffslicht aus dem Zwischendeck unten einen kleinen hellen Umkreis beschrieb: da glitzerte es dunkel und seltsam wie in der Tiefe eines Brunnens. Und mit einem Male war ihr gewesen, als würde Valdevenen sie da ins Wasser werfen (W 322 f.). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Alles herum erschien ihr so gespenstisch-märchenhaft. Sie hatte hinuntergeblickt in das schwarze Wasser, in dem ein Schiffslicht aus dem Zwischendeck unten einen kleinen hellen Umkreis beschrieb: da glitzerte es dunkel und seltsam wie in der Tiefe eines Brunnens. Und mit einem Male war ihr gewesen, als würde Valdevenen sie da ins Wasser werfen (W 322 f.).</span> | |||
|} | |||
Formal zeigt die in ''Wolga'' geschilderte Adoleszenzreise demnach einige Charakteristika der (Grimm’schen) Volksmärchen. Im Unterschied zu den (Grimm’schen) Märchenfiguren, ist Ljubow jedoch mit einer psychologischen Tiefe ausgestattet, die insbesondere in ihren Träumen zur Darstellung gelangt. So erfüllt der geschilderte Traum die Funktion eines Seelenraums im Sinne Bilinas, da er einen tieferen Einblick in die Figurenpsyche ermöglicht (Bilina 2017, 39). | Formal zeigt die in ''Wolga'' geschilderte Adoleszenzreise demnach einige Charakteristika der (Grimm’schen) Volksmärchen. Im Unterschied zu den (Grimm’schen) Märchenfiguren, ist Ljubow jedoch mit einer psychologischen Tiefe ausgestattet, die insbesondere in ihren Träumen zur Darstellung gelangt. So erfüllt der geschilderte Traum die Funktion eines Seelenraums im Sinne Bilinas, da er einen tieferen Einblick in die Figurenpsyche ermöglicht (Bilina 2017, 39). | ||
Zeile 91: | Zeile 123: | ||
Da sich Ljubow während der Verführung in einem Zustand des Halbschlafs befindet, vermischt sich das Erlebte mit den Träumen der Nacht. Der Vorfall wird daher zu einem traumgleichen Erlebnis, dessen Deutung Ljubows Kompetenzen übersteigt. Ob als Traum im Traum oder als Verschachtelung verschiedener Träume, deren Ränder sich überlagern - die geschilderte Melange aus romantisch verklärtem Sehnsuchtstraum und prophetischem Angsttraum ist überaus bemerkenswert, da dieser hybride Traumcharakter das ambivalente Seelenleben der adoleszenten Hauptfigur eindrucksvoll veranschaulicht. Die divergierenden Gefühle und Sichtweisen zeichnen sie als unzuverlässige Erzählerin aus. Während ihre Beschreibungen nahelegen, dass die Verführung Teil des Traumgeschehens ist, lässt die Reaktion Valdevenens auf ihren träumerisch sehnsuchtsvollen Blick auf die vorbeiziehende Wolgalandschaft am nächsten Morgen einen anderen Schluss zu: „Aber können Sie immer noch nicht genug bekommen, Sie kleine Unersättliche? Heute, nach der gestrigen Nacht, hätten Sie eigentlich ein Recht darauf, müde zu sein“ (W 320 f.) Für sie selbst scheinen sich die Fäden erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst allmählich bemerkt sie, dass es tatsächlich seine Schritte waren, die sie im Traum vernommen hat: | Da sich Ljubow während der Verführung in einem Zustand des Halbschlafs befindet, vermischt sich das Erlebte mit den Träumen der Nacht. Der Vorfall wird daher zu einem traumgleichen Erlebnis, dessen Deutung Ljubows Kompetenzen übersteigt. Ob als Traum im Traum oder als Verschachtelung verschiedener Träume, deren Ränder sich überlagern - die geschilderte Melange aus romantisch verklärtem Sehnsuchtstraum und prophetischem Angsttraum ist überaus bemerkenswert, da dieser hybride Traumcharakter das ambivalente Seelenleben der adoleszenten Hauptfigur eindrucksvoll veranschaulicht. Die divergierenden Gefühle und Sichtweisen zeichnen sie als unzuverlässige Erzählerin aus. Während ihre Beschreibungen nahelegen, dass die Verführung Teil des Traumgeschehens ist, lässt die Reaktion Valdevenens auf ihren träumerisch sehnsuchtsvollen Blick auf die vorbeiziehende Wolgalandschaft am nächsten Morgen einen anderen Schluss zu: „Aber können Sie immer noch nicht genug bekommen, Sie kleine Unersättliche? Heute, nach der gestrigen Nacht, hätten Sie eigentlich ein Recht darauf, müde zu sein“ (W 320 f.) Für sie selbst scheinen sich die Fäden erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst allmählich bemerkt sie, dass es tatsächlich seine Schritte waren, die sie im Traum vernommen hat: | ||
: Sie hörte auf seinen Schritt hin. Sie hörte ihn heraus unter all den anderen, ruhig und fest. „Wie auf den Steinfliesen vom Traumhof!“ dachte sie wieder. Ja, gewiß: das war sein Schritt gewesen, heute früh auf dem Deck, – kein anderer. Und dadurch war er also auch in ganzer Gestalt in den Traum hineingeraten – – (W 321 f.). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Sie hörte auf seinen Schritt hin. Sie hörte ihn heraus unter all den anderen, ruhig und fest. „Wie auf den Steinfliesen vom Traumhof!“ dachte sie wieder. Ja, gewiß: das war sein Schritt gewesen, heute früh auf dem Deck, – kein anderer. Und dadurch war er also auch in ganzer Gestalt in den Traum hineingeraten – – (W 321 f.).</span> | |||
|} | |||
Fortan wird der Brunnentraum zum stetigen Begleiter ihrer Gedanken, insbesondere wenn sie mit Valdevenen spricht. Stets ist in diesen Momenten die Opposition von sexuell konnotiertem Wunsch(tag)traum und realem Erleben männlicher Forderungen präsent, die ihr Angst bereiten und gegen die sie sich zunächst lautstark wehrt. Seine Prophezeiung erfüllend, erlebt sie sich als Gefangene seines Blickes, der stets auf ihren Körper gerichtet ist. Gleich darauf ist sie jedoch schon wieder enttäuscht, ob der vertanen Gelegenheit, Neues kennenzulernen, sodass sie schließlich auf seine Wünsche eingeht und ihm einen innigen Abschiedskuss gibt. | Fortan wird der Brunnentraum zum stetigen Begleiter ihrer Gedanken, insbesondere wenn sie mit Valdevenen spricht. Stets ist in diesen Momenten die Opposition von sexuell konnotiertem Wunsch(tag)traum und realem Erleben männlicher Forderungen präsent, die ihr Angst bereiten und gegen die sie sich zunächst lautstark wehrt. Seine Prophezeiung erfüllend, erlebt sie sich als Gefangene seines Blickes, der stets auf ihren Körper gerichtet ist. Gleich darauf ist sie jedoch schon wieder enttäuscht, ob der vertanen Gelegenheit, Neues kennenzulernen, sodass sie schließlich auf seine Wünsche eingeht und ihm einen innigen Abschiedskuss gibt. | ||
Zeile 100: | Zeile 136: | ||
So heißt es nach dem Erwachen: | So heißt es nach dem Erwachen: | ||
: Geschlafen hatte sie wohl nicht, aber auch nicht gewacht, und jetzt kam sie zu sich mit einem körperlichen Schaudern und Frösteln, als ob weder Tag noch Nacht mehr zu entwirren sei, als ob sie ein einziges, wolkenbrauendes Chaos seien, in dem nur sie sich befand, da auf ihrem roten Stuhl, wach, um eine Tat ringend, die ihr erst die ganze Welt ringsum wieder klären, durchsonnen, gestalten sollte (W 336). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Geschlafen hatte sie wohl nicht, aber auch nicht gewacht, und jetzt kam sie zu sich mit einem körperlichen Schaudern und Frösteln, als ob weder Tag noch Nacht mehr zu entwirren sei, als ob sie ein einziges, wolkenbrauendes Chaos seien, in dem nur sie sich befand, da auf ihrem roten Stuhl, wach, um eine Tat ringend, die ihr erst die ganze Welt ringsum wieder klären, durchsonnen, gestalten sollte (W 336).</span> | |||
|} | |||
Zwischen Gestern (vergangenen Kindertagen) und Morgen (künftigem Dasein als Ehefrau und Mutter) befindet sich demnach nicht die gegenwärtige wache Wahrnehmung des hellen Tages, sondern ein diffuser Halbschlaf im Dämmerlicht, der hier als ein Prozess des Abschiednehmens von der Kindheit und den Kindheitsfreundinnen lesbar wird. Nach dem leidenschaftlichen Abschiedskuss, den sie Valdevenen kurz nach dem Erwachen gibt, intensiviert sich diese traumhafte Art der Wahrnehmung zunehmend. So sieht Ljubow die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, sondern sie verliert das Interesse an der Landschaft, was etwa darin ersichtlich wird, dass sie nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich ist. Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen, auf sich selbst fixiert. Diese Wahrnehmung wird mehrfach auf traumhaftes Erleben bezogen, etwa wenn sie sich fragt: „[w]ar sie vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“ (W 319). Oder: „Mitten in diesem Hinträumen nahm sie zwischendurch irgend eine ganz gleichgültige Einzelheit wahr“ (W 339). Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Valdevenen, der ihr verspricht, sie auf der Rückreise ab Samara wiederzusehen und dann nicht mehr zu verlassen. In diesem Zusammenhang wird erneut auf das an erster Stelle in ihrem Märchenbilderbuch abgedruckte Lieblingsmärchen rekurriert, wenn es heißt: | Zwischen Gestern (vergangenen Kindertagen) und Morgen (künftigem Dasein als Ehefrau und Mutter) befindet sich demnach nicht die gegenwärtige wache Wahrnehmung des hellen Tages, sondern ein diffuser Halbschlaf im Dämmerlicht, der hier als ein Prozess des Abschiednehmens von der Kindheit und den Kindheitsfreundinnen lesbar wird. Nach dem leidenschaftlichen Abschiedskuss, den sie Valdevenen kurz nach dem Erwachen gibt, intensiviert sich diese traumhafte Art der Wahrnehmung zunehmend. So sieht Ljubow die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, sondern sie verliert das Interesse an der Landschaft, was etwa darin ersichtlich wird, dass sie nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich ist. Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen, auf sich selbst fixiert. Diese Wahrnehmung wird mehrfach auf traumhaftes Erleben bezogen, etwa wenn sie sich fragt: „[w]ar sie vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“ (W 319). Oder: „Mitten in diesem Hinträumen nahm sie zwischendurch irgend eine ganz gleichgültige Einzelheit wahr“ (W 339). Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Valdevenen, der ihr verspricht, sie auf der Rückreise ab Samara wiederzusehen und dann nicht mehr zu verlassen. In diesem Zusammenhang wird erneut auf das an erster Stelle in ihrem Märchenbilderbuch abgedruckte Lieblingsmärchen rekurriert, wenn es heißt: | ||
: nun stellte sie sich hin und schaute aufmerksamer in die wundervolle Szenerie [der Landschaft] wie in ein Bilderbuch, das man von hinten durchblättert. Denn die richtige Reihenfolge kam erst „dann“! Und der gewaltige Strom rauschte willig in ihre Träume, und die Fernen bedeckten sich für sie mit dem höchsten Glanz einer unsagbaren Schönheit (W 339). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">nun stellte sie sich hin und schaute aufmerksamer in die wundervolle Szenerie [der Landschaft] wie in ein Bilderbuch, das man von hinten durchblättert. Denn die richtige Reihenfolge kam erst „dann“! Und der gewaltige Strom rauschte willig in ihre Träume, und die Fernen bedeckten sich für sie mit dem höchsten Glanz einer unsagbaren Schönheit (W 339).</span> | |||
|} | |||
So könnte man schließen, dass sie (erneut) in ihr Märchen eintaucht und ihr ganzes Interesse ihrem eigenen Empfinden gilt, sodass sie nicht mehr mit wachem, interessiertem Blick auf die Landschaft schaut. Dies wird am Ende der Novelle in einem Perspektivwechsel deutlich, da sie nun von der Natur beobachtet wird: | So könnte man schließen, dass sie (erneut) in ihr Märchen eintaucht und ihr ganzes Interesse ihrem eigenen Empfinden gilt, sodass sie nicht mehr mit wachem, interessiertem Blick auf die Landschaft schaut. Dies wird am Ende der Novelle in einem Perspektivwechsel deutlich, da sie nun von der Natur beobachtet wird: | ||
: Aus großen, ruhigen Augen schaute die Landschaft dem Menschenkinde auf dem Schiffchen zu, [...] während der Strom weiterströmte, stetig und unaufhaltsam weiter – zum Meer – und Stunde um Stunde weiter zu ihrem Meer – zur Ewigkeit (W 339 f.). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Aus großen, ruhigen Augen schaute die Landschaft dem Menschenkinde auf dem Schiffchen zu, [...] während der Strom weiterströmte, stetig und unaufhaltsam weiter – zum Meer – und Stunde um Stunde weiter zu ihrem Meer – zur Ewigkeit (W 339 f.).</span> | |||
|} | |||
=== Funktion des Traums in der Novelle und im Novellenzyklus === | === Funktion des Traums in der Novelle und im Novellenzyklus === | ||
Zeile 117: | Zeile 165: | ||
Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert: | Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert: | ||
: ob immer noch die Landschaft sie verzaubert hielt, oder nur noch sein [Valdevenens] Dazwischentreten. „Nein, – die Birken da!“ dachte sie wie im Traum. Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermeßlich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – – (W 331). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">ob immer noch die Landschaft sie verzaubert hielt, oder nur noch sein [Valdevenens] Dazwischentreten. „Nein, – die Birken da!“ dachte sie wie im Traum. Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermeßlich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – – (W 331).</span> | |||
|} | |||
"Menschenkinder" lautet der Titel von Andreas-Salomés zwei Jahre zuvor erschienenem ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, ''Mein Dank an Freud'' ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.) | "Menschenkinder" lautet der Titel von Andreas-Salomés zwei Jahre zuvor erschienenem ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, ''Mein Dank an Freud'' ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.) | ||
Zeile 123: | Zeile 175: | ||
In ''Wolga'' erlebt die Liebe (Ljubow) eine Reibung, die sie durch Eigeninitiative vorantreibt. Sie entscheidet sich für einen Abschiedskuss, nachdem sie die letzte Nacht nur im Halbschlummer und nicht mehr in einem tiefen Schlaf verbracht hat, aus dem sie sich nur mühevoll befreien konnte wie nach dem ersten Traum. Der Schlaf erfährt demnach eine Überhöhung und verweist auf einen anderen Zustand, den es zu überwinden gilt. In der finalen Szene deutet sich ein Rollentausch der Figuren aus dem Lieblingsmärchen an, da Ljubow den Part des aktiven Prinzen übernimmt und der Geliebte mit dem im Nebel zerrinnenden Frosch, der traurig davon hüpft, verglichen wird: | In ''Wolga'' erlebt die Liebe (Ljubow) eine Reibung, die sie durch Eigeninitiative vorantreibt. Sie entscheidet sich für einen Abschiedskuss, nachdem sie die letzte Nacht nur im Halbschlummer und nicht mehr in einem tiefen Schlaf verbracht hat, aus dem sie sich nur mühevoll befreien konnte wie nach dem ersten Traum. Der Schlaf erfährt demnach eine Überhöhung und verweist auf einen anderen Zustand, den es zu überwinden gilt. In der finalen Szene deutet sich ein Rollentausch der Figuren aus dem Lieblingsmärchen an, da Ljubow den Part des aktiven Prinzen übernimmt und der Geliebte mit dem im Nebel zerrinnenden Frosch, der traurig davon hüpft, verglichen wird: | ||
: Ehe Ljubow [nach dem Kuss] zur Besinnung kam, schwand er ihr hinweg im weißen, brauenden Nebel, zerrann er ihr gleichsam in nichts, als habe sie nur geträumt (W 338). | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Ehe Ljubow [nach dem Kuss] zur Besinnung kam, schwand er ihr hinweg im weißen, brauenden Nebel, zerrann er ihr gleichsam in nichts, als habe sie nur geträumt (W 338).</span> | |||
|} | |||
Die Prinzessin hat die Initiative ergriffen, ist erwacht, aber folglich auf sich alleine gestellt. Der finale, nach innen gerichtete Blick Ljubows, lenkt die Aufmerksamkeit auf die tiefe Einsamkeit der Figur. So endet nicht nur das eingangs zitierte Gedicht, sondern auch die in der gleichnamigen Novelle geschilderte Reise durch das Zwischenland mit „ungeheuren Einsamkeiten“, die in Andreas-Salomés wissenschaftlichen Publikationen als Begleiterscheinung der Liebe geschildert werden (Andreas-Salomé 2012, Narzissmus). Der Traum, in dem die Einsamkeit ein zentrales Element ist, erweist sich als prädestiniert, die positiv besetzte weibliche Einsamkeit (Andreas-Salomé, 2014) literarästhetisch auszugestalten. | Die Prinzessin hat die Initiative ergriffen, ist erwacht, aber folglich auf sich alleine gestellt. Der finale, nach innen gerichtete Blick Ljubows, lenkt die Aufmerksamkeit auf die tiefe Einsamkeit der Figur. So endet nicht nur das eingangs zitierte Gedicht, sondern auch die in der gleichnamigen Novelle geschilderte Reise durch das Zwischenland mit „ungeheuren Einsamkeiten“, die in Andreas-Salomés wissenschaftlichen Publikationen als Begleiterscheinung der Liebe geschildert werden (Andreas-Salomé 2012, Narzissmus). Der Traum, in dem die Einsamkeit ein zentrales Element ist, erweist sich als prädestiniert, die positiv besetzte weibliche Einsamkeit (Andreas-Salomé, 2014) literarästhetisch auszugestalten. |