"Wolga" (Lou Andreas-Salomé): Unterschied zwischen den Versionen

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Während die Hauptfiguren der übrigen Novellen des Zyklus‘ im Zwischenland der Adoleszenz verharren, wird in ''Wolga'' ein Übergang zur Erwachsenenwelt vollzogen, der von einem gravierenden Gemütswandel begleitet ist. So bildet die Schifffahrt den Rahmen für eine weibliche Initiationsreise, die dem Dornröschen-Prinzip entspricht, da ein männlicher Initiator maßgeblich an der beschriebenen Entwicklung beteiligt ist.
Während die Hauptfiguren der übrigen Novellen des Zyklus‘ im Zwischenland der Adoleszenz verharren, wird in ''Wolga'' ein Übergang zur Erwachsenenwelt vollzogen, der von einem gravierenden Gemütswandel begleitet ist. So bildet die Schifffahrt den Rahmen für eine weibliche Initiationsreise, die dem Dornröschen-Prinzip entspricht, da ein männlicher Initiator maßgeblich an der beschriebenen Entwicklung beteiligt ist.


Das Schiff mit seinen unterschiedlichen Klassen kann als Heterotopie im Foucault’schen Sinn verstanden werden (Foucault 1993), wobei eine Besonderheit darin besteht, dass Ljubow sich frei zwischen den drei Klassen bewegen kann (wenngleich dies von Seiten des Kapitäns nicht gerne gesehen wird). Außerhalb dieser Heterotopie kennt sie nur den Mikrokosmos ihres Petersburger Pensionats sowie das Landhäuschens ihrer Tante in Peterhof (W 280). Die gesellschaftlichen Zwänge sind in diesem von Zeit und Ort losgelösten Raum weniger strikt als im heimischen Umfeld. Tatsächlich langweilt sie der Aufenthalt im Salon der 1. Klasse, wo ihr der etwa gleichaltrige Aristokratensohn Alescha Murawiew Avancen macht. Fasziniert ist sie viel eher von dem Fremden und Unbekannten, insbesondere dem erfahrenen Arzt Valdevenen, der während der Fahrt von einem Boot aus zusteigt und sich von dem jungen Mädchen angezogen fühlt. So wie sie sich an der Landschaft weidet, „erholen“ sich die Augen des Arztes, der eben noch Typhus und Skorbut behandelt hat, durch die Betrachtung der 16jährigen: „Eine Erholung, so etwas anzuschauen. Wie selten sind Jugend, Schönheit, Gesundheit so harmonisch beisammen“ (W295) Die Novelle endet mit seiner Abreise, einem bedeutsamen Abschiedskuss und dem Versprechen, sie auf der Heimreise wiederzusehen und beisammenzubleiben.
Das Schiff mit seinen unterschiedlichen Klassen kann als Heterotopie im Foucault’schen Sinn verstanden werden (Foucault 1993), wobei eine Besonderheit darin besteht, dass Ljubow sich frei zwischen den drei Klassen bewegen kann (wenngleich dies von Seiten des Kapitäns nicht gerne gesehen wird). Außerhalb dieser Heterotopie kennt sie nur den Mikrokosmos ihres Petersburger Pensionats sowie des Landhäuschens ihrer Tante in Peterhof (W 280). Die gesellschaftlichen Zwänge sind in diesem von Zeit und Ort losgelösten Raum weniger strikt als im heimischen Umfeld. Tatsächlich langweilt sie der Aufenthalt im Salon der 1. Klasse, wo ihr der etwa gleichaltrige Aristokratensohn Alescha Murawiew Avancen macht. Fasziniert ist sie viel eher von dem Fremden und Unbekannten, insbesondere dem erfahrenen Arzt Valdevenen, der während der Fahrt von einem Boot aus zusteigt und sich von dem jungen Mädchen angezogen fühlt. So wie sie sich an der Landschaft weidet, „erholen“ sich die Augen des Arztes, der eben noch Typhus und Skorbut behandelt hat, durch die Betrachtung der 16jährigen: „Eine Erholung, so etwas anzuschauen. Wie selten sind Jugend, Schönheit, Gesundheit so harmonisch beisammen“ (W295). Die Novelle endet mit seiner Abreise, einem bedeutsamen Abschiedskuss und dem Versprechen, sie auf der Heimreise wiederzusehen und beisammenzubleiben.


== Die Träume ==
== Die Träume ==


=== Beschreibung: Traum I ===
=== Beschreibung: Traum I ===
Nachem Ljubow mit Valdevenen eine ernste Unterhaltung über das unvermeidliche und in seinen Augen einem Leben in Gefangenschaft gleichende Schicksal der Frau geführt hat, wird im dritten Kapitel ein Traum beschrieben. Der Moment des Einschlafens ist nicht explizit markiert, sondern nur durch fünfzehn Gedankenstriche angezeigt. Im Fokus steht auch in dieser Traumszene die individuelle Wahrnehmung der Figur, die sich ihrer Verortung unsicher ist. Sie scheint nicht mehr auf der Wolga zu fahren, sondern fühlt sich in unbeschwerte Kindertage bzw. die kaiserlichen Gärten unweit des Hauses ihrer Tante zurückversetzt. Hier sitzt sie, in ihrem Lieblingsmärchen lesend, in der Nähe der Fontänen und beschreibt ihre Faszination an dieser Erzählung, die eine deutliche Analogie zum Gespräch mit Valdevenen aufweist. Geprägt ist das Traumgeschehen demnach von Kindheitserinnerungen und Tagesresten.  
Nachdem Ljubow mit Valdevenen eine ernste Unterhaltung über das unvermeidliche und in seinen Augen einem Leben in Gefangenschaft gleichende Schicksal der Frau geführt hat, wird im dritten Kapitel ein Traum beschrieben. Der Moment des Einschlafens ist nicht explizit markiert, sondern nur durch fünfzehn Gedankenstriche angezeigt. Im Fokus steht auch in dieser Traumszene die individuelle Wahrnehmung der Figur, die sich ihrer Verortung unsicher ist. Sie scheint nicht mehr auf der Wolga zu fahren, sondern fühlt sich in unbeschwerte Kindertage bzw. die kaiserlichen Gärten unweit des Hauses ihrer Tante zurückversetzt. Hier sitzt sie, in ihrem Lieblingsmärchen lesend, in der Nähe der Fontänen und beschreibt ihre Faszination an dieser Erzählung, die eine deutliche Analogie zum Gespräch mit Valdevenen aufweist. Geprägt ist das Traumgeschehen demnach von Kindheitserinnerungen und Tagesresten.  


Das Märchen kreist um eine am Brunnen schlafende verzauberte Prinzessin, die von einem Ritter innerhalb von drei Nächten erlöst werden könnte, wenn er sie in den tiefen Brunnen wirft. Doch statt ihrer wirft er in der ersten Nacht einen Stein ins Wasser; am nächsten Abend hebt er sie zwar hoch, ist jedoch von ihrer Schönheit derart gebannt, dass er sie wieder ablegt; am dritten Morgen „zerrinnt die Prinzessin vor ihm im Nebel der Morgendämmerung, und vom Platz, wo sie gelegen, schlüpft ein grünes Fröschlein traurig von dannen“ (W 312). Die Analogie dieses fiktiven Märchens zur Prophezeihung Valdevenens, sie werde sich eines Tages wehrlos „wie blind und taub und lahm, wie im tiefsten Schlaf, […] hineinwerfen lassen in das tiefe, enge Gelaß [der Ehe]“ (W 310), ist unverkennbar. Was genau Valdevenen mit diesen Andeutungen meint, erschließt sich Ljubow nicht, doch weckt das Gespräch ihre Neugier, mehr über seine Ansichten zu erfahren. Die Rollenverteilung und -erwartungen in ihrem Lieblingsmärchen sind ihr hingegen vertraut und erscheinen ihr als unveränderlich. So gibt sie sich zunächst einem genussvollen Traum hin, in welchem sie sich als verzauberte Prinzessin imaginiert, die einen Ritter (Valdevenen) in höchste Verzückung versetzt.
Das Märchen kreist um eine am Brunnen schlafende verzauberte Prinzessin, die von einem Ritter innerhalb von drei Nächten erlöst werden könnte, wenn er sie in den tiefen Brunnen wirft. Doch statt ihrer wirft er in der ersten Nacht einen Stein ins Wasser; am nächsten Abend hebt er sie zwar hoch, ist jedoch von ihrer Schönheit derart gebannt, dass er sie wieder ablegt; am dritten Morgen „zerrinnt die Prinzessin vor ihm im Nebel der Morgendämmerung, und vom Platz, wo sie gelegen, schlüpft ein grünes Fröschlein traurig von dannen“ (W 312). Die Analogie dieses fiktiven Märchens zur Prophezeiung Valdevenens, sie werde sich eines Tages wehrlos „wie blind und taub und lahm, wie im tiefsten Schlaf, […] hineinwerfen lassen in das tiefe, enge Gelaß [der Ehe]“ (W 310), ist unverkennbar. Was genau Valdevenen mit diesen Andeutungen meint, erschließt sich Ljubow nicht, doch weckt das Gespräch ihre Neugier, mehr über seine Ansichten zu erfahren. Die Rollenverteilung und -erwartungen in ihrem Lieblingsmärchen sind ihr hingegen vertraut und erscheinen ihr als unveränderlich. So gibt sie sich zunächst einem genussvollen Traum hin, in welchem sie sich als verzauberte Prinzessin imaginiert, die einen Ritter (Valdevenen) in höchste Verzückung versetzt.


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Als schließlich der Saum ihres Rocks feucht wird, reißt ihr die Angst die Augen auf, wie es im Text heißt, doch sehen kann sie nichts - nur fühlen, dass sie in den Mantel Valdevenens gehüllt ist, der ganz nah bei ihr ist und dennoch „wie von weitem“ (W 315) zu ihr spricht. Dass sie erwacht, wird erst nach der folgenden Verführungsszene beschrieben, sodass die Leserschaft im Unklaren darüber gelassen wird, ob die Verführung durch Valdevenen (der Ljubow darlegt, dass er weit Schöneres kenne als ein Goldschloss mit Diamantzinnen und dass in ihr selbst ein Brunnen liege) noch Teil des Traumes bzw. ein Traum im Traum ist: „In dir selber mußt du zu allem bereit sein, was ein anderer dir tut, – dich von ihm nehmen und hinabsenken lassen, und nicht fragen, was er tut. Du mußt versinken, dann wirst du auferstehen“ (W 315). Ljobow sträubt sich zunächst gegen diese Anweisung, fällt jedoch nur kurz in die Rolle der schlafenden, passiven Prinzessin zurück: „,Nein, – nein, ich will lieber verzaubert bleiben!' denkt sie in Angst. Aber noch während sie es denkt, heben ihre Arme wider ihren Willen sich schon“ (W 316). Dafür, dass diese Verführung noch Teil der Traumhandlung ist, sprechen die fünfzehn Gedankenstriche, von denen die Traumhandlung gerahmt wird: „Eine Wonne, stark wie Schmerz, benimmt ihr die Besinnung. – – – – – – – – – – – – Mit einem tiefen seufzenden Atemzug erwachte sie“ (W 316), heißt es am Ende des Abschnitts.
Als schließlich der Saum ihres Rocks feucht wird, reißt ihr die Angst die Augen auf, wie es im Text heißt, doch sehen kann sie nichts nur fühlen, dass sie in den Mantel Valdevenens gehüllt ist, der ganz nah bei ihr ist und dennoch „wie von weitem“ (W 315) zu ihr spricht. Dass sie erwacht, wird erst nach der folgenden Verführungsszene beschrieben, sodass die Leserschaft im Unklaren darüber gelassen wird, ob die Verführung durch Valdevenen (der Ljubow darlegt, dass er weit Schöneres kenne als ein Goldschloss mit Diamantzinnen und dass in ihr selbst ein Brunnen liege) noch Teil des Traumes bzw. ein Traum im Traum ist: „In dir selber mußt du zu allem bereit sein, was ein anderer dir tut, – dich von ihm nehmen und hinabsenken lassen, und nicht fragen, was er tut. Du mußt versinken, dann wirst du auferstehen“ (W 315). Ljobow sträubt sich zunächst gegen diese Anweisung, fällt jedoch nur kurz in die Rolle der schlafenden, passiven Prinzessin zurück: „,Nein, – nein, ich will lieber verzaubert bleiben!' denkt sie in Angst. Aber noch während sie es denkt, heben ihre Arme wider ihren Willen sich schon“ (W 316). Dafür, dass diese Verführung noch Teil der Traumhandlung ist, sprechen die fünfzehn Gedankenstriche, von denen die Traumhandlung gerahmt wird: „Eine Wonne, stark wie Schmerz, benimmt ihr die Besinnung. – – – – – – – – – – – – Mit einem tiefen seufzenden Atemzug erwachte sie“ (W 316), heißt es am Ende des Abschnitts.


=== Beschreibung: Traum II ===
=== Beschreibung: Traum II ===
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=== Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit ===
=== Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit ===
In Adoleszenzerzählungen kommt dem Traum als Zwischenstadium von Gestern/Vergangenem und Morgen/Künftigem eine besondere Bedeutung zu, die auch in Andreas-Salomés Novelle präsent ist. Eine Besonderheit besteht in der Verwendung von Erzählweisen des Volksmärchens. Auf die Traumhaftigkeit des Erzählens in Volksmärchen macht bereits Lüthi aufmerksam (Lüthi 2005, 79). Wie Träume sind sie stets auf das unmittelbare Erleben der Figuren fokussiert, stellen lediglich dar, aber stellen nichts in Frage, erklären und fordern nichts. Zudem wird auch in den Grimm’schen Volksmärchen häufig die Adoleszenz der Figuren thematisiert, was insbesondere in der ersten Konfrontation mit Liebe und Tod zur Darstellung gelangt (Rölleke 1985, 82). So ist es charakteristisch für das (Grimm’sche) Märchen, dass Reifevorgänge immer auch Todeserfahrungen implizieren, wobei letztere häufig symbolischen Charakter haben und auf den Verlust der Kindheit oder der Bindungen an Personen (Eltern/Geschwister) bezogen werden (ebd.). Diese Todeserfahrung kommt im wachen Erleben Ljubows zum Ausdruck (etwa in der Konfrontation mit dem plötzlichen Einsatz Valdevenens während des Landgangs), aber auch im Traum bzw. dem fiktiven Lieblingsmärchen mit der Aufgabe, die schlafende Prinzessin in den tiefen Brunnen zu werfen. Auch nach den Gesprächen mit Valdevenen wird Ljubow immer wieder an dieses Bild erinnert, etwa wenn sie sich vorstellt, der Grund der Wolga wäre der tiefe Brunnen, in den Valdevenen sie stoßen könnte:
In Adoleszenzerzählungen kommt dem Traum als Zwischenstadium von Gestern/Vergangenem und Morgen/Künftigem eine besondere Bedeutung zu, die auch in Andreas-Salomés Novelle präsent ist. Eine Besonderheit besteht in der Verwendung von Erzählweisen des Volksmärchens. Auf die Traumhaftigkeit des Erzählens in Volksmärchen macht bereits Lüthi aufmerksam (Lüthi 2005, 79). Wie Träume sind sie stets auf das unmittelbare Erleben der Figuren fokussiert, stellen lediglich dar, aber stellen nichts in Frage, erklären und fordern nichts. Zudem wird auch in den Grimm’schen Volksmärchen häufig die Adoleszenz der Figuren thematisiert, was insbesondere in der ersten Konfrontation mit Liebe und Tod zur Darstellung gelangt (Rölleke 1985, 82). So ist es charakteristisch für das (Grimm’sche) Märchen, dass Reifevorgänge immer auch Todeserfahrungen implizieren, wobei letztere häufig symbolischen Charakter haben und auf den Verlust der Kindheit oder der Bindung an Personen (Eltern/Geschwister) bezogen werden (ebd.). Diese Todeserfahrung kommt im wachen Erleben Ljubows zum Ausdruck (etwa in der Konfrontation mit dem plötzlichen Einsatz Valdevenens während des Landgangs), aber auch im Traum bzw. dem fiktiven Lieblingsmärchen mit der Aufgabe, die schlafende Prinzessin in den tiefen Brunnen zu werfen. Auch nach den Gesprächen mit Valdevenen wird Ljubow immer wieder an dieses Bild erinnert, etwa wenn sie sich vorstellt, der Grund der Wolga wäre der tiefe Brunnen, in den Valdevenen sie stoßen könnte:


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Anhand des im ersten Traum dominanten Lieblingsmärchens wird ein Konflikt zwischen dem zeitgenössischen Weiblichkeitsideal der ''femme fragile'' und den naiven und mitunter von Omnipotenzfantasien geprägten Sichtweisen der Protagonistin deutlich. Die Märchenprinzessin erweist sich als ähnlich passiv wie bekannte Märchenfiguren (etwa Dornröschen und Schneewittchen), die keine eigenen Entscheidungen treffen, sondern lediglich auf einen Prinzen warten, der sie wachküsst und den sie heiraten, ohne eine Wahlmöglichkeit in Betracht zu ziehen (Röllecke 1985, 83). Dieses ,Ideal' weiblicher Passivität und Manipulierbarkeit bestimmt zunächst den romantischen Blick Ljubows auf die Beziehung von Mann und Frau und macht sie so attraktiv für Valdevenen. Das Motiv des Zauberschlafs wird auch auf die wache Wahrnehmung der Figur bezogen, sodass die kindliche Weltwahrnehmung mit dem Zustand des Schlafs enggeführt ist. Im letzten Teil des geschilderten Traums wird deutlich, dass die Projektionen und Forderungen des männlichen Gegenübers (Valdevenen) vom Verhalten des Märchenprinzen in Ljubows Lieblingsmärchen abweichen. Angesiedelt ist diese schockierende Erkenntnis an den Rändern des eigentlichen Traumgeschehens, in einem Zustand des Aufwachens. Die Opposition von Traum und Wirklichkeit bzw. Ideal und Trieb lassen sich auch auf das Dornröschen-Prinzip übertragen. Rekurriert Andreas-Salomé doch mit dem Ende des ersten Traums auf die Wurzeln des ''Dornröschen''-Märchens, da die schlafende Schöne in Giambattista Basiles Version (''Sole, Luna e Talia'', 1634) von einem verheirateten König während der Jagd im Schlaf geschändet (und geschwängert) wird. Unmittelbar darauf zieht der König weiter und vergisst den Vorfall bald wieder.
Anhand des im ersten Traum dominanten Lieblingsmärchens wird ein Konflikt zwischen dem zeitgenössischen Weiblichkeitsideal der ''femme fragile'' und den naiven und mitunter von Omnipotenzfantasien geprägten Sichtweisen der Protagonistin deutlich. Die Märchenprinzessin erweist sich als ähnlich passiv wie bekannte Märchenfiguren (etwa Dornröschen und Schneewittchen), die keine eigenen Entscheidungen treffen, sondern lediglich auf einen Prinzen warten, der sie wachküsst und den sie heiraten, ohne eine Wahlmöglichkeit in Betracht zu ziehen (Röllecke 1985, 83). Dieses ,Ideal' weiblicher Passivität und Manipulierbarkeit bestimmt zunächst den romantischen Blick Ljubows auf die Beziehung von Mann und Frau und macht sie so attraktiv für Valdevenen. Das Motiv des Zauberschlafs wird auch auf die wache Wahrnehmung der Figur bezogen, sodass die kindliche Weltwahrnehmung mit dem Zustand des Schlafs enggeführt ist. Im letzten Teil des geschilderten Traums wird deutlich, dass die Projektionen und Forderungen des männlichen Gegenübers (Valdevenen) vom Verhalten des Märchenprinzen in Ljubows Lieblingsmärchen abweichen. Angesiedelt ist diese schockierende Erkenntnis an den Rändern des eigentlichen Traumgeschehens, in einem Zustand des Aufwachens. Die Opposition von Traum und Wirklichkeit bzw. Ideal und Trieb lassen sich auch auf das Dornröschen-Prinzip übertragen. Rekurriert Andreas-Salomé doch mit dem Ende des ersten Traums auf die Wurzeln des ''Dornröschen''-Märchens, da die schlafende Schöne in Giambattista Basiles Version (''Sole, Luna e Talia'', 1634) von einem verheirateten König während der Jagd im Schlaf geschändet (und geschwängert) wird. Unmittelbar darauf zieht der König weiter und vergisst den Vorfall bald wieder.


Da sich Ljubow während der Verführung in einem Zustand des Halbschlafs befindet, vermischt sich das Erlebte mit den Träumen der Nacht. Der Vorfall wird daher zu einem traumgleichen Erlebnis, dessen Deutung Ljubows Kompetenzen übersteigt. Ob als Traum im Traum oder als Verschachtelung verschiedener Träume, deren Ränder sich überlagern - die geschilderte Melange aus romantisch verklärtem Sehnsuchtstraum und prophetischem Angsttraum ist überaus bemerkenswert, da dieser hybride Traumcharakter das ambivalente Seelenleben der adoleszenten Hauptfigur eindrucksvoll veranschaulicht. Die divergierenden Gefühle und Sichtweisen zeichnen sie als unzuverlässige Erzählerin aus. Während ihre Beschreibungen nahelegen, dass die Verführung Teil des Traumgeschehens ist, lässt die Reaktion Valdevenens auf ihren träumerisch sehnsuchtsvollen Blick auf die vorbeiziehende Wolgalandschaft am nächsten Morgen einen anderen Schluss zu: „Aber können Sie immer noch nicht genug bekommen, Sie kleine Unersättliche? Heute, nach der gestrigen Nacht, hätten Sie eigentlich ein Recht darauf, müde zu sein“ (W 320 f.) Für sie selbst scheinen sich die Fäden erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst allmählich bemerkt sie, dass es tatsächlich seine Schritte waren, die sie im Traum vernommen hat:
Da sich Ljubow während der Verführung in einem Zustand des Halbschlafs befindet, vermischt sich das Erlebte mit den Träumen der Nacht. Der Vorfall wird daher zu einem traumgleichen Erlebnis, dessen Deutung Ljubows Kompetenzen übersteigt. Ob als Traum im Traum oder als Verschachtelung verschiedener Träume, deren Ränder sich überlagern die geschilderte Melange aus romantisch verklärtem Sehnsuchtstraum und prophetischem Angsttraum ist überaus bemerkenswert, da dieser hybride Traumcharakter das ambivalente Seelenleben der adoleszenten Hauptfigur eindrucksvoll veranschaulicht. Die divergierenden Gefühle und Sichtweisen zeichnen sie als unzuverlässige Erzählerin aus. Während ihre Beschreibungen nahelegen, dass die Verführung Teil des Traumgeschehens ist, lässt die Reaktion Valdevenens auf ihren träumerisch sehnsuchtsvollen Blick auf die vorbeiziehende Wolgalandschaft am nächsten Morgen einen anderen Schluss zu: „Aber können Sie immer noch nicht genug bekommen, Sie kleine Unersättliche? Heute, nach der gestrigen Nacht, hätten Sie eigentlich ein Recht darauf, müde zu sein“ (W 320 f.). Für sie selbst scheinen sich die Fäden erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst allmählich bemerkt sie, dass es tatsächlich seine Schritte waren, die sie im Traum vernommen hat:


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Zwischen Gestern (vergangenen Kindertagen) und Morgen (künftigem Dasein als Ehefrau und Mutter) befindet sich demnach nicht die gegenwärtige wache Wahrnehmung des hellen Tages, sondern ein diffuser Halbschlaf im Dämmerlicht, der hier als ein Prozess des Abschiednehmens von der Kindheit und den Kindheitsfreundinnen lesbar wird. Nach dem leidenschaftlichen Abschiedskuss, den sie Valdevenen kurz nach dem Erwachen gibt, intensiviert sich diese traumhafte Art der Wahrnehmung zunehmend. So sieht Ljubow die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, sondern sie verliert das Interesse an der Landschaft, was etwa darin ersichtlich wird, dass sie nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich ist. Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen, auf sich selbst fixiert. Diese Wahrnehmung wird mehrfach auf traumhaftes Erleben bezogen, etwa wenn sie sich fragt: „[w]ar sie vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“ (W 319). Oder: „Mitten in diesem Hinträumen nahm sie zwischendurch irgend eine ganz gleichgültige Einzelheit wahr“ (W 339). Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Valdevenen, der ihr verspricht, sie auf der Rückreise ab Samara wiederzusehen und dann nicht mehr zu verlassen. In diesem Zusammenhang wird erneut auf das an erster Stelle in ihrem Märchenbilderbuch abgedruckte Lieblingsmärchen rekurriert, wenn es heißt:
Zwischen Gestern (vergangenen Kindertagen) und Morgen (künftigem Dasein als Ehefrau und Mutter) befindet sich demnach nicht die gegenwärtige wache Wahrnehmung des hellen Tages, sondern ein diffuser Halbschlaf im Dämmerlicht, der hier als ein Prozess des Abschiednehmens von der Kindheit und den Kindheitsfreundinnen lesbar wird. Nach dem leidenschaftlichen Abschiedskuss, den sie Valdevenen kurz nach dem Erwachen gibt, intensiviert sich diese traumhafte Art der Wahrnehmung zunehmend. So sieht Ljubow die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, sondern verliert das Interesse an der Landschaft, was etwa darin ersichtlich wird, dass sie nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich ist. Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen, auf sich selbst fixiert. Diese Wahrnehmung wird mehrfach auf traumhaftes Erleben bezogen, etwa wenn sie sich fragt: „[w]ar sie vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“ (W 319). Oder: „Mitten in diesem Hinträumen nahm sie zwischendurch irgend eine ganz gleichgültige Einzelheit wahr“ (W 339). Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Valdevenen, der ihr verspricht, sie auf der Rückreise ab Samara wiederzusehen und dann nicht mehr zu verlassen. In diesem Zusammenhang wird erneut auf das an erster Stelle in ihrem Märchenbilderbuch abgedruckte Lieblingsmärchen rekurriert, wenn es heißt:


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Mit ihrer Novelle ''Wolga'' kreiert Andreas-Salomé ein Adoleszenzmärchen, das eine Metamorphose beinhaltet. Während die vorab in der Zeitschrift abgedruckte Version mit der Verlobung endet, wird in der im Novellenzyklus ''Im Zwischenland'' enthaltenen Variante das Ende offengelassen. Ob Valdevenen, wie versprochen, tatsächlich auf der Rückreise zusteigen wird, um sie dann nicht mehr zu verlassen, bleibt offen. Sicher ist, dass sein Kuss und die (erträumte) Verführung einen Gemütswandel auslösen, der einer Metamorphose gleicht. Anders als Dornröschen und Schneewittchen, die durch den Kuss des männlichen Helden aus ihrem Zauberschlaf geweckt werden, wirkt Ljubow keineswegs wacher, sondern viel eher träumerischer nach diesem Erlebnis. Sie nimmt die Natur nur noch wie durch einen Schleier wahr und befindet sich in einem Zwischenstadium von Wachen und Träumen. Der wache, neugierige Blick auf die umliegende Natur wird ihr durch den Kuss genommen. Am Ende ist es die als beständig beschriebene Natur, die auf die träumerische Frauenfigur blickt.
Mit ihrer Novelle ''Wolga'' kreiert Andreas-Salomé ein Adoleszenzmärchen, das eine Metamorphose beinhaltet. Während die vorab in der Zeitschrift abgedruckte Version mit der Verlobung endet, wird in der im Novellenzyklus ''Im Zwischenland'' enthaltenen Variante das Ende offengelassen. Ob Valdevenen, wie versprochen, tatsächlich auf der Rückreise zusteigen wird, um sie dann nicht mehr zu verlassen, bleibt offen. Sicher ist, dass sein Kuss und die (erträumte) Verführung einen Gemütswandel auslösen, der einer Metamorphose gleicht. Anders als Dornröschen und Schneewittchen, die durch den Kuss des männlichen Helden aus ihrem Zauberschlaf geweckt werden, wirkt Ljubow keineswegs wacher, sondern viel eher träumerischer nach diesem Erlebnis. Sie nimmt die Natur nur noch wie durch einen Schleier wahr und befindet sich in einem Zwischenstadium von Wachen und Träumen. Der wache, neugierige Blick auf die umliegende Natur wird ihr durch den Kuss genommen. Am Ende ist es die als beständig beschriebene Natur, die auf die träumerische Frauenfigur blickt.


So romantisch diese Novelle auf den ersten Blick anmuten mag, offenbart sie dennoch einen innovativen Blick auf die dominante Thematik der weiblichen Initiation. Die Protagonistin erkennt, dass die im Märchen idealisierte passive Haltung der schlafenden Prinzessin kein erstrebenswerter Zustand ist und sie selbst die Initiative ergreifen muss, um Neues kennenzulernen und das Zwischenland der Adoleszenz zu überwinden. Dass der Novellenzyklus mit dieser Novelle endet, ist demnach folgerichtig. Die im Zentrum der vorigen Novellen stehenden weiblichen Figuren werden als Klassenkameradinnen in Ljubows Traum erwähnt. Aus der Perspektive der Hauptfigur sind sie die im Zwischenland Verharrenden, von denen sie im Halbschlummer Abschied nimmt.
So romantisch diese Novelle auf den ersten Blick anmuten mag, offenbart sie dennoch einen innovativen Blick auf die dominante Thematik der weiblichen Initiation. Die Protagonistin erkennt, dass die im Märchen idealisierte passive Haltung der schlafenden Prinzessin kein erstrebenswerter Zustand ist und sie selbst die Initiative ergreifen muss, um Neues kennenzulernen und das Zwischenland der Adoleszenz zu überwinden. Dass der Novellenzyklus mit dieser Novelle endet, ist demnach folgerichtig. Die im Zentrum der vorigen Novellen stehenden weiblichen Figuren werden als Klassenkameradinnen in Ljubows zweitem Traum erwähnt. Aus der Perspektive der Hauptfigur sind sie die im Zwischenland Verharrenden, von denen sie im Halbschlummer Abschied nimmt.


Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert:  
Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert:  
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"Menschenkinder" lautet der Titel von Andreas-Salomés zwei Jahre zuvor erschienenem ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, ''Mein Dank an Freud'' ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.)
''Menschenkinder'' lautet der Titel von Andreas-Salomés zwei Jahre zuvor erschienenem ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, ''Mein Dank an Freud'' ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.).


In ''Wolga'' erlebt die Liebe (Ljubow) eine Reibung, die sie durch Eigeninitiative vorantreibt. Sie entscheidet sich für einen Abschiedskuss, nachdem sie die letzte Nacht nur im Halbschlummer und nicht mehr in einem tiefen Schlaf verbracht hat, aus dem sie sich nur mühevoll befreien konnte wie nach dem ersten Traum. Der Schlaf erfährt demnach eine Überhöhung und verweist auf einen anderen Zustand, den es zu überwinden gilt. In der finalen Szene deutet sich ein Rollentausch der Figuren aus dem Lieblingsmärchen an, da Ljubow den Part des aktiven Prinzen übernimmt und der Geliebte mit dem im Nebel zerrinnenden Frosch, der traurig davon hüpft, verglichen wird:
In ''Wolga'' erlebt die Liebe (Ljubow) eine Reibung, die sie durch Eigeninitiative vorantreibt. Sie entscheidet sich für einen Abschiedskuss, nachdem sie die letzte Nacht nur im Halbschlummer und nicht mehr in einem tiefen Schlaf verbracht hat, aus dem sie sich nur mühevoll befreien konnte wie nach dem ersten Traum. Der Schlaf erfährt demnach eine Überhöhung und verweist auf einen anderen Zustand, den es zu überwinden gilt. In der finalen Szene deutet sich ein Rollentausch der Figuren aus dem Lieblingsmärchen an, da Ljubow den Part des aktiven Prinzen übernimmt und der Geliebte mit dem im Nebel zerrinnenden Frosch, der traurig davon hüpft, verglichen wird:
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