"Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung): Unterschied zwischen den Versionen
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"Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung) (Quelltext anzeigen)
Version vom 14. Mai 2022, 07:21 Uhr
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Der Begriff des Individuationsprozesses nimmt in Kombination mit den Begriffen des kollektiven Unbewussten sowie des Archetypus eine zentrale Stellung in der Konzeption der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs ein (vgl. Roesler/ Vogel 2016, 16). Träume repräsentieren dabei laut Jung einerseits die individuellen und persönlichen Aspekte dieses Individuationsprozesses. Andererseits stellt Jung in seinen späten Werken zunehmend mythische Spekulationen über die sich in Traumsymbolen widerspiegelnden Motive der Alchemie an, welche den menschlichen Individuationsprozess seiner Ansicht nach maßgeblich mitprägen. In Traumsymbole des Individuationsprozesses (1944) knüpft Jung an seine bereits zuvor konzipierte Individuationstheorie (vgl. Jung GW 9/1 (1939), 293) an und führt seine paradoxe Definition des „Selbst“, das er zugleich »als Zentrum der Person [wie auch] als auch als deren Ganzheit« auffasst, weiter aus, in dem er eine Auswahl von 400 Träumen des Physiknobelpreisträgers (1932) Wolfgang E. Pauli analysiert (vgl. Roesler (2016), 30-31; Lindorff (1995, 555-557). Insgesamt beinhaltet Paulis Traumserie ca. 1000 Träume, die in weiten Teilen nicht von Jung selbst, sondern von dessen Schülerin Erna Rosenbaum dokumentiert wurden, um die Reinheit und Authentizität der Träume nicht zu gefährden (vgl. Enz (2002), 243). | Der Begriff des Individuationsprozesses nimmt in Kombination mit den Begriffen des kollektiven Unbewussten sowie des Archetypus eine zentrale Stellung in der Konzeption der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs ein (vgl. Roesler/ Vogel 2016, 16). Träume repräsentieren dabei laut Jung einerseits die individuellen und persönlichen Aspekte dieses Individuationsprozesses. Andererseits stellt Jung in seinen späten Werken zunehmend mythische Spekulationen über die sich in Traumsymbolen widerspiegelnden Motive der Alchemie an, welche den menschlichen Individuationsprozess seiner Ansicht nach maßgeblich mitprägen. In ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' (1944) knüpft Jung an seine bereits zuvor konzipierte Individuationstheorie (vgl. Jung GW 9/1 (1939), 293) an und führt seine paradoxe Definition des „Selbst“, das er zugleich »als Zentrum der Person [wie auch] als auch als deren Ganzheit« auffasst, weiter aus, in dem er eine Auswahl von 400 Träumen des Physiknobelpreisträgers (1932) Wolfgang E. Pauli analysiert (vgl. Roesler (2016), 30-31; Lindorff (1995, 555-557). Insgesamt beinhaltet Paulis Traumserie ca. 1000 Träume, die in weiten Teilen nicht von Jung selbst, sondern von dessen Schülerin Erna Rosenbaum dokumentiert wurden, um die Reinheit und Authentizität der Träume nicht zu gefährden (vgl. Enz (2002), 243). | ||
==Werkentstehung und Werkstruktur== | ==Werkentstehung und Werkstruktur== | ||
Jungs Traumsymbole des Individuationsprozesses entstand nach einem langen Prozess der persönlichen Auseinandersetzung mit Traumsymbolen, der nach dem Bruch mit seinem ehemaligen Mentor Freud im Jahr 1914 einsetzte und bis in die 1930er Jahre andauerte. Zwischen 1914 und 1930 arbeitete Jung insgesamt 16 Jahre an seinen eigenen, inneren Bildern, die schließlich – nach seinem Tod – im Roten Buch kulminierten. Jung verfügte zu Lebzeiten, dass seine eigenen Träume und Visionen nicht veröffentlicht werden sollten, möglicherweise auch deshalb, weil er sich durch die Beschäftigung mit den eigenen Träumen auch von einer depressiven Verstimmungen zu lösen versuchte (vgl. Greene (2018), 2). Erst im Jahr 2009 konnten deshalb diese lange geheim gebliebenen Ego-Dokumente der Öffentlichkeit mit der Publikation des Roten Buches zugänglich gemacht. Im Ergebnis grenzt sich der von Jung konstruierte Konnex von Traum und Individuation in vielen wesentlichen Punkten von Freuds Diktum des Wunscherfüllungstraums sowie von Adlers »Wille zur Macht«- Prinzip ab (Jung GW 7 (1916), 41-42). Bei dieser Abgrenzung spielen neben eigenen Traumerfahrungen auch zahlreiche spirituelle, religiöse oder aus anderen Symbolquellen stammende, individuationsrelevante Traumerfahrungen, die ihm von Patienten und anderen Versuchspersonen mitgeteilt wurden, eine wichtige Rolle. Je länger Jung anhand von Traumbeobachtungen an seiner Individuationstheorie forschte, desto stärker wuchs sein Interesse an überindividuellen Einflussfaktoren auf das menschliche Traumerleben (vgl. u.a. Etheber 1998, 82-86; Roesler/ Vogel 2016, 36). In seiner Privatpraxis in Küsnacht entwickelte Jung die Beschäftigung mit Patiententräumen die Technik der sogenannten »aktiven Imagination«, auf deren Grundlage er in einem zweiten Schritt das persönliche und kollektive Unbewusste zu erforschen und auf archetypische Bilder zurückzuführen versuchte (vgl. Graf-Nold 2014). Bereits als junger Arzt in der Psychiatrie kam Jung auf die Idee, dass es sich bei den Wahrnehmungen von vielen psychisch erkrankten Menschen keineswegs um simple mentale Irreleitungen handele, sondern darin sehr viel häufiger rational verdrängtes, archetypisches Denken zum Ausdruck komme. Vor allem aber seine jahrelange Auseinandersetzung mit antiken Werken, der Astrologie, der Alchemie und nicht zuletzt seinen eigenen Träumen, welche Bilder im Grenzbereich von Halbschlafbildern, Halluzinationen und Visionen produziert hätten (vgl. Kluger 2011, 225-227), habe ihn in seinem Glauben an überindividuellen und überzeitlichen Traumstrukturen bestärkt. (vgl. Greene (2018), 2-5). | Jungs ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' entstand nach einem langen Prozess der persönlichen Auseinandersetzung mit Traumsymbolen, der nach dem Bruch mit seinem ehemaligen Mentor Freud im Jahr 1914 einsetzte und bis in die 1930er Jahre andauerte. Zwischen 1914 und 1930 arbeitete Jung insgesamt 16 Jahre an seinen eigenen, inneren Bildern, die schließlich – nach seinem Tod – im Roten Buch kulminierten. Jung verfügte zu Lebzeiten, dass seine eigenen Träume und Visionen nicht veröffentlicht werden sollten, möglicherweise auch deshalb, weil er sich durch die Beschäftigung mit den eigenen Träumen auch von einer depressiven Verstimmungen zu lösen versuchte (vgl. Greene (2018), 2). Erst im Jahr 2009 konnten deshalb diese lange geheim gebliebenen Ego-Dokumente der Öffentlichkeit mit der Publikation des Roten Buches zugänglich gemacht. Im Ergebnis grenzt sich der von Jung konstruierte Konnex von Traum und Individuation in vielen wesentlichen Punkten von Freuds Diktum des Wunscherfüllungstraums sowie von Adlers »Wille zur Macht«- Prinzip ab (Jung GW 7 (1916), 41-42). Bei dieser Abgrenzung spielen neben eigenen Traumerfahrungen auch zahlreiche spirituelle, religiöse oder aus anderen Symbolquellen stammende, individuationsrelevante Traumerfahrungen, die ihm von Patienten und anderen Versuchspersonen mitgeteilt wurden, eine wichtige Rolle. Je länger Jung anhand von Traumbeobachtungen an seiner Individuationstheorie forschte, desto stärker wuchs sein Interesse an überindividuellen Einflussfaktoren auf das menschliche Traumerleben (vgl. u.a. Etheber 1998, 82-86; Roesler/ Vogel 2016, 36). In seiner Privatpraxis in Küsnacht entwickelte Jung die Beschäftigung mit Patiententräumen die Technik der sogenannten »aktiven Imagination«, auf deren Grundlage er in einem zweiten Schritt das persönliche und kollektive Unbewusste zu erforschen und auf archetypische Bilder zurückzuführen versuchte (vgl. Graf-Nold 2014). Bereits als junger Arzt in der Psychiatrie kam Jung auf die Idee, dass es sich bei den Wahrnehmungen von vielen psychisch erkrankten Menschen keineswegs um simple mentale Irreleitungen handele, sondern darin sehr viel häufiger rational verdrängtes, archetypisches Denken zum Ausdruck komme. Vor allem aber seine jahrelange Auseinandersetzung mit antiken Werken, der Astrologie, der Alchemie und nicht zuletzt seinen eigenen Träumen, welche Bilder im Grenzbereich von Halbschlafbildern, Halluzinationen und Visionen produziert hätten (vgl. Kluger 2011, 225-227), habe ihn in seinem Glauben an überindividuellen und überzeitlichen Traumstrukturen bestärkt. (vgl. Greene (2018), 2-5). | ||
Bereits während des ersten Weltkriegs, in dem er bereits als Arzt tätig war, stellte sich Jung die Frage, »warum Menschen lieber ihre Brüder töten, als in sich selbst nach ihren Schatten zu suchen« (Sadigh 2011). In den 1920er Jahren unternahm Jung ausgedehnte Reisen, die ihn zu den Pueblo-Indianern nach Nordamerika sowie nach Nord- und Ostafrika führten. Während dieser Zeit gelangte Jung zunehmend zu der Überzeugung, dass die Analyse von Symbolen, die der eigenen imaginativen Erfahrung entspringen, in einem dialektischen Prozess zu einer Integration des Unbewussten ins Bewusstsein führen müsste, indem das Ich selbst in die Träume oder die Imagination eindringt und in einen Dialog mit den dort agierenden, unbewussten Figuren tritt (vgl. Kast 2014, 38). | Bereits während des ersten Weltkriegs, in dem er bereits als Arzt tätig war, stellte sich Jung die Frage, »warum Menschen lieber ihre Brüder töten, als in sich selbst nach ihren Schatten zu suchen« (Sadigh 2011). In den 1920er Jahren unternahm Jung ausgedehnte Reisen, die ihn zu den Pueblo-Indianern nach Nordamerika sowie nach Nord- und Ostafrika führten. Während dieser Zeit gelangte Jung zunehmend zu der Überzeugung, dass die Analyse von Symbolen, die der eigenen imaginativen Erfahrung entspringen, in einem dialektischen Prozess zu einer Integration des Unbewussten ins Bewusstsein führen müsste, indem das Ich selbst in die Träume oder die Imagination eindringt und in einen Dialog mit den dort agierenden, unbewussten Figuren tritt (vgl. Kast 2014, 38). | ||
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fiel Jung in den Jahren 1933 und 1934 mehrfach mit problematischen, öffentlichen Äußerungen auf, die antisemitisch gedeutet wer-den können. Mit zeitlichem Voranschreiten des Bestehens der nationalsozialistischen Diktatur änderte Jung seine Rhetorik und öffentliche Handlungsweise jedenfalls immer deutlicher: Nicht nur verbal, sondern auch mit Taten stellte Jung sich während der 1930er Jahre zusehends gegen jedwede nationalsozialistischen Vereinnahmungsversuche (vgl. u.a. Jungs »persönliche Gleichung«: Jung GW 10 (1933), 25-26; für die allgemeine Einordnung seiner Haltung nationalsozialistischem Gedankengut: Grunert (1984) Gess (1994), Adler und Jaffé 2001 (1973), Bair (2005), Kirsch (2012), Sorge (2016)). So bemühte sich Jung als Präsident der 1934 neugeschaffenen Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (IAÄGP) um die Einhaltung von elementaren, rechtlichen Strukturen der bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern in Zürich ansässigen Gesellschaft. Diese sollte von Deutschland unabhängig und politisch neutral bleiben sowie darüber hinaus dezidiert auch jüdischen Psychotherapeuten, die von der deutschen Landesgruppe ausgeschlossen worden waren, zu einer individuellen Gesellschaftsmitgliedschaft verhelfen (vgl. Bair 2005, 638-639). | Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fiel Jung in den Jahren 1933 und 1934 mehrfach mit problematischen, öffentlichen Äußerungen auf, die antisemitisch gedeutet wer-den können. Mit zeitlichem Voranschreiten des Bestehens der nationalsozialistischen Diktatur änderte Jung seine Rhetorik und öffentliche Handlungsweise jedenfalls immer deutlicher: Nicht nur verbal, sondern auch mit Taten stellte Jung sich während der 1930er Jahre zusehends gegen jedwede nationalsozialistischen Vereinnahmungsversuche (vgl. u.a. Jungs »persönliche Gleichung«: Jung GW 10 (1933), 25-26; für die allgemeine Einordnung seiner Haltung nationalsozialistischem Gedankengut: Grunert (1984) Gess (1994), Adler und Jaffé 2001 (1973), Bair (2005), Kirsch (2012), Sorge (2016)). So bemühte sich Jung als Präsident der 1934 neugeschaffenen Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (IAÄGP) um die Einhaltung von elementaren, rechtlichen Strukturen der bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern in Zürich ansässigen Gesellschaft. Diese sollte von Deutschland unabhängig und politisch neutral bleiben sowie darüber hinaus dezidiert auch jüdischen Psychotherapeuten, die von der deutschen Landesgruppe ausgeschlossen worden waren, zu einer individuellen Gesellschaftsmitgliedschaft verhelfen (vgl. Bair 2005, 638-639). | ||
Auch innerhalb seines wissenschaftlichen Werks versuchte Jung seit der Mitte der 1930er Jahre verstärkt jeglicher Vereinnahmung durch Politik oder Religion entgegenzuwirken. | Auch innerhalb seines wissenschaftlichen Werks versuchte Jung seit der Mitte der 1930er Jahre verstärkt jeglicher Vereinnahmung durch Politik oder Religion entgegenzuwirken. | ||
Diese späte Einsicht in die religionspolitische Neutralitätsverpflichtung spiegelt sich auch in Traumsymbole des Individuationsprozesses wider. An die Stelle von potenziellen, religiösen Einflussfaktoren rücken nunmehr alchemistische Argumentationsketten in den Vordergrund. Besonders an Textstellen, welche die Entschlüsselung von überindividuellen Traumsymbolen thematisieren, kommt Jungs denkerische Distanzierung vom Christentum zum Ausdruck. Ins-besondere die Erfahrung seiner Indienreise (1938) könnte dabei eine wichtige Rolle gespielt haben, in deren Verlauf er unter anderem das buddhistische Kloster von Bhutia Busty besuchte und mit dem »lamaistischen Rimpotche namens Lindam Gomchen über das Mandala« (Jung GW 12, 115) sprach. Zugleich ereignete sich Jungs Idee, einem verborgenen Konnex zwischen Buddhismus, Alchemie und Psychologie in den Tiefen des menschlichen Unbewussten nachzuspüren, keineswegs zufällig. Bereits seine Paracelsus-Lektüre gab ihm bereits entsprechende Impulse, weil er in Paracelsus‘ Werk eine ähnliche geistige Konfliktlinie zwischen »Wissen und Glauben« (vgl. Jung GW 13, 131) wie in seinem eigenen Denken entdeckt zu haben glaubte. Seine im zunehmende Alter gesteigerte Skepsis gegenüber der Verschiebbarkeit »der Grenze des Erkennbaren« innerhalb der psychologischen Disziplin verschriftliche er schließlich in seinem Werk Mysterium Coniunctionis (vgl. Jung GW 14, 130). | Diese späte Einsicht in die religionspolitische Neutralitätsverpflichtung spiegelt sich auch in ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' wider. An die Stelle von potenziellen, religiösen Einflussfaktoren rücken nunmehr alchemistische Argumentationsketten in den Vordergrund. Besonders an Textstellen, welche die Entschlüsselung von überindividuellen Traumsymbolen thematisieren, kommt Jungs denkerische Distanzierung vom Christentum zum Ausdruck. Ins-besondere die Erfahrung seiner Indienreise (1938) könnte dabei eine wichtige Rolle gespielt haben, in deren Verlauf er unter anderem das buddhistische Kloster von Bhutia Busty besuchte und mit dem »lamaistischen Rimpotche namens Lindam Gomchen über das Mandala« (Jung GW 12, 115) sprach. Zugleich ereignete sich Jungs Idee, einem verborgenen Konnex zwischen Buddhismus, Alchemie und Psychologie in den Tiefen des menschlichen Unbewussten nachzuspüren, keineswegs zufällig. Bereits seine Paracelsus-Lektüre gab ihm bereits entsprechende Impulse, weil er in Paracelsus‘ Werk eine ähnliche geistige Konfliktlinie zwischen »Wissen und Glauben« (vgl. Jung GW 13, 131) wie in seinem eigenen Denken entdeckt zu haben glaubte. Seine im zunehmende Alter gesteigerte Skepsis gegenüber der Verschiebbarkeit »der Grenze des Erkennbaren« innerhalb der psychologischen Disziplin verschriftliche er schließlich in seinem Werk Mysterium Coniunctionis (vgl. Jung GW 14, 130). | ||
Unter diesen Gesichtspunkten erscheint das im Kapitel »Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie« genutzte Stilmittel der Prokatalepsis zugleich als Zusammenfassung seines forscherischen Erkenntnisinteresses und als erneuerte Kritik an Freud. Bereits in Traumsymbole des Individuationsprozesses kündigt sich Jungs auf Ganzheitlichkeit ausgerichteter tiefenpsychologischer Ansatz an, der sich gleichermaßen von der (christlichen) Religion wie von biologisch verengten Psychologieansätzen emanzipiert: | Unter diesen Gesichtspunkten erscheint das im Kapitel »Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie« genutzte Stilmittel der Prokatalepsis zugleich als Zusammenfassung seines forscherischen Erkenntnisinteresses und als erneuerte Kritik an Freud. Bereits in ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' kündigt sich Jungs auf Ganzheitlichkeit ausgerichteter tiefenpsychologischer Ansatz an, der sich gleichermaßen von der (christlichen) Religion wie von biologisch verengten Psychologieansätzen emanzipiert: | ||
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In den von Rosenbaum und Jung aufgezeichneten und analysierten Träumen Wolfgang Paulis tritt der Gedanke der »longissima via« ebenfalls auf. Die von Pauli geträumte »unerkannte Frau«, die dem Traumsubjekt den Weg »im Schlafland« weist, wird von Jung ebenfalls dahingehend gedeutet, dass das Traumsubjekt im Verlaufe seines Individuationsprozesses lange Wanderungen auf verschlungenen Pfaden zu verrichten habe, ehe es von einem Gipfel der Erkenntnis zum nächsten gelangen könne (vgl. GW 12, 10. Initialtraum, 79-82). Im weiteren Argumentationsverlauf des Einleitungskapitels zu Traumsymbole des Individuationsprozesses gesteht Jung ferner ein, dass er nicht angeben könne, aus welchen Urquellen sich Archetypen im Allgemeinen ableiten ließen (vgl. Jung GW 12, 27). Deshalb müsse sich die Psychologie »als empirische Wissenschaft« (vgl. Jung GW 14, 130) auf solche Fragen beschränken, die darauf abzielen, ob die in den Träumen zum Ausdruck kommenden Bilder phänomenologisch charakterisiert werden können, zum Beispiel als Heldenbilder oder Gottesbilder, ohne dabei über deren Existenz zu urteilen (vgl. Jung GW 12, 27). | In den von Rosenbaum und Jung aufgezeichneten und analysierten Träumen Wolfgang Paulis tritt der Gedanke der »longissima via« ebenfalls auf. Die von Pauli geträumte »unerkannte Frau«, die dem Traumsubjekt den Weg »im Schlafland« weist, wird von Jung ebenfalls dahingehend gedeutet, dass das Traumsubjekt im Verlaufe seines Individuationsprozesses lange Wanderungen auf verschlungenen Pfaden zu verrichten habe, ehe es von einem Gipfel der Erkenntnis zum nächsten gelangen könne (vgl. GW 12, 10. Initialtraum, 79-82). Im weiteren Argumentationsverlauf des Einleitungskapitels zu ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' gesteht Jung ferner ein, dass er nicht angeben könne, aus welchen Urquellen sich Archetypen im Allgemeinen ableiten ließen (vgl. Jung GW 12, 27). Deshalb müsse sich die Psychologie »als empirische Wissenschaft« (vgl. Jung GW 14, 130) auf solche Fragen beschränken, die darauf abzielen, ob die in den Träumen zum Ausdruck kommenden Bilder phänomenologisch charakterisiert werden können, zum Beispiel als Heldenbilder oder Gottesbilder, ohne dabei über deren Existenz zu urteilen (vgl. Jung GW 12, 27). | ||
Für diese psychologisch-alchemistische Arbeit sei es vielmehr vonnöten, den bisweilen chaotischen und – analog zur Hermeneutik – als spiralförmig angenommenen Erkenntnisprozess auf Traumserien zu übertragen: Weil Jung einzelne Träume aufgrund ihrer Bizarrheit, Chiffrierung und Individualität in letzter Konsequenz für tendenziell undeutbar hält, versucht er mithilfe einer Kombination von empirischen und hermeneutischen Mitteln, aus Traumserien so etwas wie eine spiralförmige, mandalaartige Struktur mit einem archetypischen Zentrum abzuleiten (vgl. ebd., 41-42). | Für diese psychologisch-alchemistische Arbeit sei es vielmehr vonnöten, den bisweilen chaotischen und – analog zur Hermeneutik – als spiralförmig angenommenen Erkenntnisprozess auf Traumserien zu übertragen: Weil Jung einzelne Träume aufgrund ihrer Bizarrheit, Chiffrierung und Individualität in letzter Konsequenz für tendenziell undeutbar hält, versucht er mithilfe einer Kombination von empirischen und hermeneutischen Mitteln, aus Traumserien so etwas wie eine spiralförmige, mandalaartige Struktur mit einem archetypischen Zentrum abzuleiten (vgl. ebd., 41-42). | ||
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Den »Kontext« von Träumen verortet Jung wiederum in der Nähe der alchemistischen Tradition. Denn im Gegensatz zu den Riten und Dogmen der christlichen Kirche, die von einer Entfremdung von den »naturhaften Wurzeln im Unbewußten« (ebd., 51) geprägt seien, seien Astrologie und Alchemie immer um die Aufrechterhaltung von Brücken zum Unbewußten bemüht gewesen. Außerdem hätte insbesondere die Alchemie aufgrund ihres Wandelns auf schmalem Grat, der historisch betrachtet meist an der Schwelle zur Häresie verlaufen sei, stets mit einer allegorischen Bild- und Symbolsprache operiert, die »Anlaß zur Projektion jener Archetypen« (ebd.) gegeben hätte, die sich nicht reibungslos in den christlichen Prozess hätten einfügen lassen. | Den »Kontext« von Träumen verortet Jung wiederum in der Nähe der alchemistischen Tradition. Denn im Gegensatz zu den Riten und Dogmen der christlichen Kirche, die von einer Entfremdung von den »naturhaften Wurzeln im Unbewußten« (ebd., 51) geprägt seien, seien Astrologie und Alchemie immer um die Aufrechterhaltung von Brücken zum Unbewußten bemüht gewesen. Außerdem hätte insbesondere die Alchemie aufgrund ihres Wandelns auf schmalem Grat, der historisch betrachtet meist an der Schwelle zur Häresie verlaufen sei, stets mit einer allegorischen Bild- und Symbolsprache operiert, die »Anlaß zur Projektion jener Archetypen« (ebd.) gegeben hätte, die sich nicht reibungslos in den christlichen Prozess hätten einfügen lassen. | ||
==Initial- und Mandalaträume als zentrale Kategorien der Traumsymbole des Individuationsprozesses== | ==Initial- und Mandalaträume als zentrale Kategorien der ''Traumsymbole des Individuationsprozesses''== | ||
Jungs Traumsymbole des Individuationsprozesses ist untergliedert in die beiden Traum-Hauptkapitel der »Initialträume« (Jung GW 12, 66-114) und der »Mandalasymbolik« (ebd., 115-247). Ersteres beinhaltet 22 Träume und »[hypnagogische,] visuelle Eindrücke« des Traum-Probanden Wolfang Pauli. Das Kapitel »Mandalasymbolik« enthält dagegen 59 Träume. Am Ende der Initialträume hat der Träumende einen Entwicklungsprozess durchgemacht, in dessen Zuge er in einen Zustand des inneren Konflikts zwischen Bewusstem und Unbewusstem gelangt ist. Die Initialträume verkörpern damit vorrangig einen Traumtypus, welcher Irritationsmomente im erwachten Träumer erzeugt und ihn zur Reflexion über seine Existenz beziehungsweise das Verhältnis von Unbewusstem und Bewussten anregt. Am Ende des Mandalasymbolik-Kapitels löst sich der mentale Konflikt des Träumenden im Archetypus des »Mandalamotivs« auf, wobei letzteres bereits im Laufe der Traumserie zunehmend an Konturen gewinnt. Mit dem Sichtbarwerden des Mandala-Archetypus schreitet somit der Prozess der ganzheitlichen Selbstwerdung – bildlich gesprochen aus sich selbst heraus – voran (vgl. ebd., 245-247). | Jungs ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' ist untergliedert in die beiden Traum-Hauptkapitel der »Initialträume« (Jung GW 12, 66-114) und der »Mandalasymbolik« (ebd., 115-247). Ersteres beinhaltet 22 Träume und »[hypnagogische,] visuelle Eindrücke« des Traum-Probanden Wolfang Pauli. Das Kapitel »Mandalasymbolik« enthält dagegen 59 Träume. Am Ende der Initialträume hat der Träumende einen Entwicklungsprozess durchgemacht, in dessen Zuge er in einen Zustand des inneren Konflikts zwischen Bewusstem und Unbewusstem gelangt ist. Die Initialträume verkörpern damit vorrangig einen Traumtypus, welcher Irritationsmomente im erwachten Träumer erzeugt und ihn zur Reflexion über seine Existenz beziehungsweise das Verhältnis von Unbewusstem und Bewussten anregt. Am Ende des Mandalasymbolik-Kapitels löst sich der mentale Konflikt des Träumenden im Archetypus des »Mandalamotivs« auf, wobei letzteres bereits im Laufe der Traumserie zunehmend an Konturen gewinnt. Mit dem Sichtbarwerden des Mandala-Archetypus schreitet somit der Prozess der ganzheitlichen Selbstwerdung – bildlich gesprochen aus sich selbst heraus – voran (vgl. ebd., 245-247). | ||
===Jungs Analysen der »Initialträume«=== | ===Jungs Analysen der »Initialträume«=== | ||
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»Das war auch das Gefühl, das ich bezüglich der Alchemie empfand: Ich habe es zusammengeklaubt. Alchemie – das kam nicht von innen« (zit. nach: Bair 2005, 709). | »Das war auch das Gefühl, das ich bezüglich der Alchemie empfand: Ich habe es zusammengeklaubt. Alchemie – das kam nicht von innen« (zit. nach: Bair 2005, 709). | ||
Nichtsdestoweniger glaubte Jung trotz methodischer Zweifel bis zuletzt unerschütterlich an den praktischen Nutzen »der Suche alten Alchemisten nach Verwandlung« für seine »moderne Suche nach erfolgreicher Individuation« (vgl. Bair 2005, 524): | Nichtsdestoweniger glaubte Jung trotz methodischer Zweifel bis zuletzt unerschütterlich an den praktischen Nutzen »der Suche alten Alchemisten nach Verwandlung« für seine »moderne Suche nach erfolgreicher Individuation« (vgl. Bair 2005, 524): | ||
Inspiriert zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Alchemie sei Jung nicht zuletzt durch die persönliche Bekanntschaft mit dem renommierten Sinologen Richard Wilhelm geworden, wie er in seiner Einleitung zu Traumsymbole des Individuationsprozesses freimütig einräumt. Insbesondere die Lektüre von dessen Das Geheimnis der goldenen Blüte (vgl. Bair 2005, 525) habe ihn künftig dauerhaft geprägt. Vor allem die Symbolsprache des historisch gesehen oft subversiv geführten alchemistischen Diskurses gegen die christliche Dogmatik hätten ihm in seiner tiefenpsychologischen Akzentsetzung geholfen: | Inspiriert zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Alchemie sei Jung nicht zuletzt durch die persönliche Bekanntschaft mit dem renommierten Sinologen Richard Wilhelm geworden, wie er in seiner Einleitung zu ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' freimütig einräumt. Insbesondere die Lektüre von dessen Das Geheimnis der goldenen Blüte (vgl. Bair 2005, 525) habe ihn künftig dauerhaft geprägt. Vor allem die Symbolsprache des historisch gesehen oft subversiv geführten alchemistischen Diskurses gegen die christliche Dogmatik hätten ihm in seiner tiefenpsychologischen Akzentsetzung geholfen: | ||
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:<span style="color: #7b879e;">„Die Alchemie nämlich bildet wie eine Unterströmung zu dem die Oberfläche beherrschenden Christentum. Sie verhält sich zu diesem wie ein Traum zum Bewußtsein, und wie dieser die Konflikte des Bewußtseins kompensiert, so bestrebt sich jene, die Lücken, die Lücken, welche die Gegensatzspannung des Christentums offengelassen hat, auszufüllen. Dies drückt sich wohl am prägnantesten in jenem Axiom aus, […das die] Lebensdauer der Alchemie durchzieht: eben jener oben zitierte Satz der Maria Prophetissa[: »Die Eins wird zu Zwei, die Zwei zu Drei, und aus dem Dritten war das Eine als Viertes.«] Hier schieben sich zwischen ungerade Zahlen der christlichen Dogmatik die geraden Zahlen, welche das Weibliche, die Erde, das Unterirdische […] bedeuten. (Jung GW 12, 38)“</span> | :<span style="color: #7b879e;">„Die Alchemie nämlich bildet wie eine Unterströmung zu dem die Oberfläche beherrschenden Christentum. Sie verhält sich zu diesem wie ein Traum zum Bewußtsein, und wie dieser die Konflikte des Bewußtseins kompensiert, so bestrebt sich jene, die Lücken, die Lücken, welche die Gegensatzspannung des Christentums offengelassen hat, auszufüllen. Dies drückt sich wohl am prägnantesten in jenem Axiom aus, […das die] Lebensdauer der Alchemie durchzieht: eben jener oben zitierte Satz der Maria Prophetissa[: »Die Eins wird zu Zwei, die Zwei zu Drei, und aus dem Dritten war das Eine als Viertes.«] Hier schieben sich zwischen ungerade Zahlen der christlichen Dogmatik die geraden Zahlen, welche das Weibliche, die Erde, das Unterirdische […] bedeuten. (Jung GW 12, 38)“</span> | ||
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Mit Jung gesprochen lässt sich diese Analogiebeziehung zwischen den Binnenverhältnissen von Alchemie und Christentum einerseits sowie Traum und Psychologie also auf das ähnlich geartete Charakteristikum der »Unterströmung«, das Alchemie und Traum innewohne, zurückführen. Mit diskursanalytischer Terminologie lässt sich der roten Faden der Traumsymbole des Individuationsprozesses also abschließend auf die Formel bringen, dass der Individuationsprozess des Individuums erst dann abgeschlossen ist, wenn es das Zusammenspiel des von kulturellen Epistemen geprägten, eigenen Wachbewusstseins und des komplementären Traumbewusstseins zu verstehen und akzeptieren gelernt hat. | Mit Jung gesprochen lässt sich diese Analogiebeziehung zwischen den Binnenverhältnissen von Alchemie und Christentum einerseits sowie Traum und Psychologie also auf das ähnlich geartete Charakteristikum der »Unterströmung«, das Alchemie und Traum innewohne, zurückführen. Mit diskursanalytischer Terminologie lässt sich der roten Faden der ''Traumsymbole des Individuationsprozesses'' also abschließend auf die Formel bringen, dass der Individuationsprozess des Individuums erst dann abgeschlossen ist, wenn es das Zusammenspiel des von kulturellen Epistemen geprägten, eigenen Wachbewusstseins und des komplementären Traumbewusstseins zu verstehen und akzeptieren gelernt hat. | ||