"Divina Commedia" (Dante Alighieri): Unterschied zwischen den Versionen
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"Divina Commedia" (Dante Alighieri) (Quelltext anzeigen)
Version vom 13. August 2022, 09:24 Uhr
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Der Traum von einem goldgefiederten Adler, der aus dem Himmel herabstößt, um den Träumenden zu packen und in eine Feuersphäre zu verschleppen, in der dieser zu verglühen glaubt, lässt Dante vor Schreck erwachen. Er erkennt, dass Vergil bei ihm ist, der ihm zeigt, dass sie das Eingangstor zum Läuterungsberg erreicht haben. Die Deutung des Traums überlässt der Autor dem intradiegetischen Begleiter. Dieser berichtet Dante, die heilige Lucia sei während seines Schlafs erschienen und habe ihn bis zum Tor hinaufgetragen. Die unbewusste Traumerfahrung nimmt ihren Ursprung damit in einem externen Stimulus – das ‚Gepacktwerden‘ im Traum spiegelt das ‚Getragenwerden‘ während des Schlafs in der realen Welt wider. Während der Ich-Erzähler einerseits die sensorisch intensive Dimension des Traums rekonstruiert, markiert das Verb „parea“ in der nachträglichen Erzählung eine Differenz zwischen Wirklichkeit und Traumzustand. | Der Traum von einem goldgefiederten Adler, der aus dem Himmel herabstößt, um den Träumenden zu packen und in eine Feuersphäre zu verschleppen, in der dieser zu verglühen glaubt, lässt Dante vor Schreck erwachen. Er erkennt, dass Vergil bei ihm ist, der ihm zeigt, dass sie das Eingangstor zum Läuterungsberg erreicht haben. Die Deutung des Traums überlässt der Autor dem intradiegetischen Begleiter. Dieser berichtet Dante, die heilige Lucia sei während seines Schlafs erschienen und habe ihn bis zum Tor hinaufgetragen. Die unbewusste Traumerfahrung nimmt ihren Ursprung damit in einem externen Stimulus – das ‚Gepacktwerden‘ im Traum spiegelt das ‚Getragenwerden‘ während des Schlafs in der realen Welt wider. Während der Ich-Erzähler einerseits die sensorisch intensive Dimension des Traums rekonstruiert, markiert das Verb „parea“ in der nachträglichen Erzählung eine Differenz zwischen Wirklichkeit und Traumzustand. | ||
Katharina Münchberg verweist jedoch darauf, dass die Traumbilder auch noch weiterreichende Bedeutungen haben: Der herabstürzende Adler stehe „für Christus, der Dantes Seele durch das Feuer zwischen Erdsphäre und Mondsphäre zu Gott erhebt“ (Münchberg 2020, 292). Neben dieser primären Bedeutung verweist sie auch noch auf andere allegorische Assoziationen: So wird in der Apokalypse ein Adler erwähnt, der die Menschen vor ihrer Sündhaftigkeit warnt. Dadurch lässt sich überdies ein Zusammenhang herstellen zu Beatrice und dem Wagen, auf dem sie das irdische Paradies durchquert, da der Wagen von einem Greifen mit goldenen Adlerflügeln gezogen wird. Dieser wiederum kann als Allegorie für Christus gedeutet werden (Münchberg 2020, 293). Auch das Feuer verweist auf bevorstehende Episoden wie das Läuterungsfeuer am Ende des ''Purgatorio'' oder die Feuersphäre, die die irdische Luft von der Mondsphäre trennt. Spannend ist in diesem Sinn, dass Dante mit diesen allegorischen Verweisen zwar eine prophetisch | Katharina Münchberg verweist jedoch darauf, dass die Traumbilder auch noch weiterreichende Bedeutungen haben: Der herabstürzende Adler stehe „für Christus, der Dantes Seele durch das Feuer zwischen Erdsphäre und Mondsphäre zu Gott erhebt“ (Münchberg 2020, 292). Neben dieser primären Bedeutung verweist sie auch noch auf andere allegorische Assoziationen: So wird in der Apokalypse ein Adler erwähnt, der die Menschen vor ihrer Sündhaftigkeit warnt. Dadurch lässt sich überdies ein Zusammenhang herstellen zu Beatrice und dem Wagen, auf dem sie das irdische Paradies durchquert, da der Wagen von einem Greifen mit goldenen Adlerflügeln gezogen wird. Dieser wiederum kann als Allegorie für Christus gedeutet werden (Münchberg 2020, 293). Auch das Feuer verweist auf bevorstehende Episoden wie das Läuterungsfeuer am Ende des ''Purgatorio'' oder die Feuersphäre, die die irdische Luft von der Mondsphäre trennt. Spannend ist in diesem Sinn, dass Dante mit diesen allegorischen Verweisen zwar eine prophetisch bzw. (aus narratologischer Sicht) proleptisch aufgeladene Deutung impliziert, explizit jedoch eine profane Erklärung anführt, die das Traumerleben in den Mittelpunkt der Narration stellt. | ||
====Zweiter Traum==== | ====Zweiter Traum==== | ||
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: <span style="color: #7b879e;">con le man monche, e di colore scialba (''Purgatorio'' XIX, 7-9). | : <span style="color: #7b879e;">con le man monche, e di colore scialba (''Purgatorio'' XIX, 7-9). | ||
: <span style="color: #7b879e;">erschien mir im Traum ein stotterndes Weib, / mit den Augen schielend, über den Füßen verkrümmt, / mit verkrüppelten Händen, von Farbe totenbleich.</span> | : <span style="color: #7b879e;">erschien mir im Traum ein stotterndes Weib,/ mit den Augen schielend, über den Füßen verkrümmt,/ mit verkrüppelten Händen, von Farbe totenbleich.</span> | ||
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: <span style="color: #7b879e;">quel mi svegliò col puzzo che n’uscìa (''Purgatorio'' XIX, 31-33). | : <span style="color: #7b879e;">quel mi svegliò col puzzo che n’uscìa (''Purgatorio'' XIX, 31-33). | ||
: <span style="color: #7b879e;">Die andere packte er, riß ihr vorne die Kleidung auseinander / und zeigte mir den Bauch; der weckte mich auf / mit dem Gestank, der von ihm ausging.</span> | : <span style="color: #7b879e;">Die andere packte er, riß ihr vorne die Kleidung auseinander/ und zeigte mir den Bauch; der weckte mich auf/ mit dem Gestank, der von ihm ausging.</span> | ||
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: <span style="color: #7b879e;">vedesti come l’uom da lei si slega (''Purgatorio'' XIX, 58-60). | : <span style="color: #7b879e;">vedesti come l’uom da lei si slega (''Purgatorio'' XIX, 58-60). | ||
: <span style="color: #7b879e;">‚Du sahst‘, sprach er, ‚die uralte Zauberin, / die allein oberhalb von uns noch beweint wird; / du sahst, wie er Mensch sich von ihr losmacht.‘</span> | : <span style="color: #7b879e;">‚Du sahst‘, sprach er, ‚die uralte Zauberin,/ die allein oberhalb von uns noch beweint wird;/ du sahst, wie er Mensch sich von ihr losmacht.‘</span> | ||
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In Vergils Deutung verweist der Traum von der Sirene auf ein erotisch-sexuelles Begehren. Damit schließt Dante an das mittelalterliche Motiv der Sirene als Allegorie der Lust an (Münchberg 2020, 293). Wenige Gesänge später taucht das Motiv der Sirene noch einmal auf, als Beatrice Dante Vorwürfe ob seines Lebenswandels und seiner Zuwendung zu einer anderen Frau macht. In Beatrices Worten sind die Sirenen mit „cose fallaci“ (''Purgatorio'' XXXI, 56), trügerischen Dingen, assoziiert, von denen sich Dante verführen ließ. Erneut deutet der Traum somit auf ein nachfolgendes Ereignis | In Vergils Deutung verweist der Traum von der Sirene auf ein erotisch-sexuelles Begehren. Damit schließt Dante an das mittelalterliche Motiv der Sirene als Allegorie der Lust an (Münchberg 2020, 293). Wenige Gesänge später taucht das Motiv der Sirene noch einmal auf, als Beatrice Dante Vorwürfe ob seines Lebenswandels und seiner Zuwendung zu einer anderen Frau macht. In Beatrices Worten sind die Sirenen mit „cose fallaci“ (''Purgatorio'' XXXI, 56), trügerischen Dingen, assoziiert, von denen sich Dante verführen ließ. Erneut deutet der Traum somit auf ein nachfolgendes Ereignis voraus. | ||
====Dritter Traum==== | ====Dritter Traum==== | ||
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In diesem Beispiel wird die allegorische Bedeutung des Traums nicht von einer physiologisch untermauerten Erklärung Vergils überlagert. Relativ eindeutig erscheint so die symbolische Antithese zwischen den beiden Frauen, die die zwei philosophischen Konzeptionen der ''vita activa'' und der ''vita contemplativa'' verkörpern. Gleichzeitig kann dem Traum abermals eine proleptische, bzw. prophetische Dimension zugeschrieben werden, da die beiden Frauen im Traum für die beiden Frauen stehen, denen Dante kurz darauf im irdischen Paradies begegnet: Matelda, die am Ufer des Flusses Lethe Blumen pflückt, und Beatrice, seine verstorbene Geliebte. Mit dieser wird das Motiv des Spiegels wieder aufgegriffen: Als Dante seiner Geliebten voll Reue angesichts ihrer Vorwürfe gegenübersteht, blickt er in ihre Augen, in denen sich das Abbild eines Greifs spiegelt – „Come in lo specchio il sol, non altrimenti/ la doppia fiera dentro vi raggiava“ (Purgatorio XXXI, 121 f.; „Wie die Sonne im Spiegel, nicht anders erstrahlte/ das zweifache Tier darin“) – ein Verweis auf die bevorstehende Begegnung mit dem Göttlichen. | In diesem Beispiel wird die allegorische Bedeutung des Traums nicht von einer physiologisch untermauerten Erklärung Vergils überlagert. Relativ eindeutig erscheint so die symbolische Antithese zwischen den beiden Frauen, die die zwei philosophischen Konzeptionen der ''vita activa'' und der ''vita contemplativa'' verkörpern. Gleichzeitig kann dem Traum abermals eine proleptische, bzw. prophetische Dimension zugeschrieben werden, da die beiden Frauen im Traum für die beiden Frauen stehen, denen Dante kurz darauf im irdischen Paradies begegnet: Matelda, die am Ufer des Flusses Lethe Blumen pflückt, und Beatrice, seine verstorbene Geliebte. Mit dieser wird das Motiv des Spiegels wieder aufgegriffen: Als Dante seiner Geliebten voll Reue angesichts ihrer Vorwürfe gegenübersteht, blickt er in ihre Augen, in denen sich das Abbild eines Greifs spiegelt – „Come in lo specchio il sol, non altrimenti/ la doppia fiera dentro vi raggiava“ (Purgatorio XXXI, 121 f.; „Wie die Sonne im Spiegel, nicht anders erstrahlte/ das zweifache Tier darin“) –, ein Verweis auf die bevorstehende Begegnung mit dem Göttlichen. | ||
===Dantes Traumpoetik=== | ===Dantes Traumpoetik=== | ||
Durch die verschiedenen Traumebenen ergibt sich eine „Schachtelung der Wahrnehmungsebenen“ (Harst 2018, 218). Weitere Verweise auf den Traum verstärken diese Wirkung: | Durch die verschiedenen Traumebenen ergibt sich eine „Schachtelung der Wahrnehmungsebenen“ (Harst 2018, 218). Weitere Verweise auf den Traum verstärken diese Wirkung: beispielsweise Beatrices Überlegungen über die Sphäre des irdischen Lebens, als eine, in der selbst Theologen und Kirchenleute träumen, also nicht die Wahrheit schauen oder erfahren – „là giù, non dormendo, si sogna“, (''Paradiso'' XXIX, 82; „darüber wird nun dort unten, ohne zu schlafen, geträumt“) – eine mögliche Allusion auf die generelle Konzeption des irdischen, menschlichen Lebens als Traumkonstrukt (Harst 2018, 218f.). Die Jenseitsreise hingegen bereitet Dante auf eine Erfahrung mit Offenbarungscharakter vor: Im Spiel mit Traum- und Wirklichkeitsebenen erscheint die Begegnung mit Gott also gleichermaßen als Traumvision und als eine jede Wirklichkeit übertreffende Wahrheit. In diesem Sinne bezeichnet Karlheinz Stierle den Höhepunkt der Jenseitsreise als einen „totalisierten Traum, der die Differenz von Traum und Wachen aufhebt“ (Stierle 2017, 157) Damit greift Dante auch auf innovative Weise auf die mittelalterliche Tradition des prophetischen Traums zurück. | ||
In dieser Auffassung des Traums und der Ausarbeitung der Reise durch die Jenseitsreiche als traumhafte Erfahrung spiegelt sich auch Dantes Poetik des Traums, sowie, allgemeiner, seine Auffassung des Dichtens. Mit Karlheinz Stierle ist Dantes ''Commedia'' „in wesentlicher Hinsicht eine poetische Phänomenologie des Traums“ (2017, 149), da Dante in seiner monumentalen Erzählung „eine ganze Skala der Grenzsituationen des | |||
In dieser Auffassung des Traums und der Ausarbeitung der Reise durch die Jenseitsreiche als traumhafte Erfahrung spiegelt sich auch Dantes Poetik des Traums, sowie, allgemeiner, seine Auffassung des Dichtens. Mit Karlheinz Stierle ist Dantes ''Commedia'' „in wesentlicher Hinsicht eine poetische Phänomenologie des Traums“ (Stierle 2017, 149), da Dante in seiner monumentalen Erzählung „eine ganze Skala der Grenzsituationen des Bewusstseins“ entfaltet (ebd., 153). Dabei bringt Dante den Traum wiederholt in Verbindung mit dem Dichten bzw. dem Kunstschaffen an sich. Beide erscheinen als „Hervorbringungen einer produktiven Subjektivität“ (ebd., 158) – das Träumen wird in diesem Sinn von Dante auch als Metapher des Schreibens als künstlerischer Prozess inszeniert. Wie weiter oben ausgeführt, finden sich alle binnenfiktionalen, vom Ich-Erzähler geträumten Träume im zweiten Teil des Werks. Dadurch verdichten sich im ''Purgatorio'' die Traumelemente, während gleichzeitig das „visionäre Sehen“ mit „läuterndem Aufstieg“ und „dichterischem Schaffen“ verschränkt wird (Harst 2018, 223). In diesem Sinn kann „Dantes Reise als selbstbewusst erdichtete Erlösung – ein souverän ‚gelenkter Traum‘ – erscheinen“ (ebd., 224). | |||
==Fazit== | ==Fazit== | ||
Dantes ''Divina Commedia'' wird vom Mittelalter bis heute | Dantes ''Divina Commedia'' wird vom Mittelalter bis heute vor allem in Italien, aber auch international rezipiert und in den unterschiedlichsten Medienformaten adaptiert (Heimgartner/Schmitz-Emans 2017; Scharold 2014). Gerade in den letzten Jahren kann man im Bereich der Populärmedien eine „Dante-''renaissance''“ beobachten (Lazzarin/Dutel 2018, 9). In der Beschäftigung mit Dantes Werk, zeigen sich Autor:innen und Künstler:innen einerseits vom ''Inferno'', also dem ersten Teil der Reise (Meier 2021), inspiriert, andererseits von der Traumthematik allgemein. Für die Kultur- und Mediengeschichte des Traums kann die ''Commedia'' in der Tat als Klassiker gehandelt werden, allerdings weniger aufgrund der drei markierten Träume im ''Purgatorio'' als aufgrund der traumhaften Rahmung der Binnenhandlung. Dies gilt z.B. für Christine de Pizans ''Le Livre du Chemin de long estude'' (1402), das seinen Ursprung eindeutig in der Rezeption der ''Commedia'' findet, dabei jedoch eindeutiger als eine Traumreise herausgestellt wird. Auch Jorge Luis Borges (1899-1986) oder Ingeborg Bachmann (1926-1973) rezipieren Dantes Traumwerk (vgl. Harst 2018; Spiller 2022). Dabei verwendet Dante wenig bis keine der topisch gewordenen Elemente zur literarischen Inszenierung des Traums, wie verzerrte Raum-Zeit-Koordinatoren, surreale Erscheinungen oder ein Aufheben der Gesetzmäßigkeiten des ''Logos'' (Engel 2003, 153 f.; Kreuzer 2014, 72 f.). Vielmehr hat sich die Struktur der Traumreise als Modell konstituiert, das sich durch eine stetige, lineare räumliche Progression und eine episodenhafte Struktur auszeichnet. Besonders in der Kinder- und Jugendliteratur findet man dieses Modell wieder (z.B. in E.T.A. Hoffmanns, ''Nußknacker und Mausekönig'', Lewis Carrolls [["Alice's Adventures in Wonderland" / "Through the Looking-Glass" (Lewis Carroll)|''Alice’s Adventures in Wonderland'']], Gerdt von Bassewitz' ''Peterchens Mondfahrt''und Maurice Sendaks ''Wo die Wilden Kerle wohnen''). | ||