"Frost" (Thomas Bernhard): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 8. September 2022, 07:54 Uhr
, 8. September 2022→Träume des Studenten
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===Träume des Studenten=== | ===Träume des Studenten=== | ||
Da die Weltwahrnehmung des Malers im Fokus der Narration steht, nehmen die Reflexionen und Erlebnisse des Studenten deutlich weniger Raum ein – ebenso seine Träume, von denen nur einer erzählt und ein weiterer angedeutet wird. Der mögliche Traum bezieht sich auf ein Erlebnis in der Nacht zum zweiundzwanzigsten Tag, in der er Geräusche hört und beobachtet, wie der Wasenmeister der Wirtin einen Rucksack bringt, in dem er Tierkadaver vermutet. Er schleicht aus dem Zimmer und wird Zeuge einer Unterhaltung der beiden, die seine Vermutung bestätigt: „Jetzt weiß ich, daß sie mit Hundefleisch kocht, dachte ich. Der Maler hat es ja gesagt. Es ist wahr“ (F 257). Am nächsten Morgen kommt ihm diese „Geschichte“ allerdings „immer wieder wie ein Traum“ (F 257) vor und er beschließt, niemandem davon zu erzählen. Er reflektiert über die Möglichkeit, so realistisch zu träumen: „Daß im Traum derartiges möglich ist, auch bei geistig gesunden Menschen – im Traum ist alles möglich –, weiß ich; aber es war kein Traum“ (F 258). Sollte es sich um einen Traum handeln, so bestätigt dieser die langsame Übernahme der Weltsicht des Malers. Die Andeutung, dass es eventuell kein Traum war, trägt zur | Da die Weltwahrnehmung des Malers im Fokus der Narration steht, nehmen die Reflexionen und Erlebnisse des Studenten deutlich weniger Raum ein – ebenso seine Träume, von denen nur einer erzählt und ein weiterer angedeutet wird. Der mögliche Traum bezieht sich auf ein Erlebnis in der Nacht zum zweiundzwanzigsten Tag, in der er Geräusche hört und beobachtet, wie der Wasenmeister der Wirtin einen Rucksack bringt, in dem er Tierkadaver vermutet. Er schleicht aus dem Zimmer und wird Zeuge einer Unterhaltung der beiden, die seine Vermutung bestätigt: „Jetzt weiß ich, daß sie mit Hundefleisch kocht, dachte ich. Der Maler hat es ja gesagt. Es ist wahr“ (F 257). Am nächsten Morgen kommt ihm diese „Geschichte“ allerdings „immer wieder wie ein Traum“ (F 257) vor und er beschließt, niemandem davon zu erzählen. Er reflektiert über die Möglichkeit, so realistisch zu träumen: „Daß im Traum derartiges möglich ist, auch bei geistig gesunden Menschen – im Traum ist alles möglich –, weiß ich; aber es war kein Traum“ (F 258). Sollte es sich um einen Traum handeln, so bestätigt dieser die langsame Übernahme der Weltsicht des Malers. Die Andeutung, dass es eventuell kein Traum war, trägt zur alptraumhaften Kulisse des Dorfes bei, in der die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt werden. | ||
Am zehnten Tag berichtet der Student, der sich bisher „an keinen einzigen Traum in der letzten Zeit erinnern“ kann, dass er „von Strauch geträumt“ (F 106) | Am zehnten Tag berichtet der Student, der sich bisher „an keinen einzigen Traum in der letzten Zeit erinnern“ kann, dass er „von Strauch geträumt“ hat (F 106). Sein Traum-Ich ist gefeierter Arzt, schreitet durch die Klink und die Patienten verneigen sich vor ihm. In einem „schlachthausähnlichen, weißgekachelten Raum“ befindet sich „Strauch auf dem Operationstisch angeschnallt“, der „sich dauernd halb rotierend bewegte“ (F 107). Aufgrund der Bewegung des Tischs möchte er nicht operieren, aber die Ärzteschaft fordert ihn dazu auf und insbesondere der Chirurg drängt: „Schneiden Sie doch! [...] Sie sind meinem Bruder ''alles'' schuldig!“ (F 108). Das Traum-Ich des Studenten fängt an und führt „eine Reihe von Operationen [...] gleichzeitig aus,“ bis ihm auffällt, dass er den Körper „vollkommen zerschnitten“ hat: „Der Körper war überhaupt nicht mehr als Körper erkennbar. Es war wie ein Fleisch, das ich folgerichtig, tadellos, aber vollkommen verrückt zerschnitten hatte und jetzt wieder tadellos, aber wahnsinnig geworden zusammennähte“ (F 108). Die Ärzteschaft ist von dieser Operation begeistert, lobt seine „großartige Leistung“ (F 108) und hebt ihn im Jubel hinauf. Von oben blickt er auf den Operationstisch und sieht „einen Haufen völlig zerstückelten Fleisches, das schlagweise Blut ausstieß, ununterbrochen Blut ausstieß, riesige Mengen Blutes und langsam alles in Blut ertränkte, alles, die Ärzteschaft, alles“ (F 109). Nach dem Aufwachen erinnert sich der Student, dass alle Ärzte im Traum mit grotesken Kinderstimmen gesprochen haben. | ||
Bozzi bezieht sich in ihrer Deutung des Traums auf den französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan (1901-1981) und sieht darin ein Zeichen von aggressiver Desintegration, da der Student in der feindlichen Umgebung dem Maler und seiner Gedankenwelt hilflos ausgeliefert sei. Auch lasse das Eindringen in das Fleisch und die Bewegung männliche Sexualität anklingen, die in einer Ejakulationsmetapher münde und Auswirkung einer Angst vor sexueller Aktivität sei (Bozzi 2002, 134 f.) Ordnet man den Traum jedoch in das bereits skizzierte Denkschema des Studenten ein, wird er zum Symbol seiner Auseinandersetzung mit dem Beobachtungsobjekt und den Konsequenzen für seine Vorstellung von Medizin. Im Traum folgt er den Anweisungen der anderen Ärzte, wie er zunächst der Anweisung des Chirurgen zur Beobachtung des Malers gefolgt ist. Er nimmt „ganz präzise Operationen“ (F 108) vor, die aber seinen Patienten zerstören. Daran wird deutlich, dass sich sein Untersuchungsgegenstand mit den herkömmlichen Methoden der Medizin nicht fassen lässt, da er sich in Rotation, also in permanenter geistiger Unruhe, befindet. Der Maler kann nicht operiert und geheilt werden, die chirurgischen Kompetenzen bringen den Studenten in diesem Fall nicht weiter. Der Traum zeugt von seinem Kontrollverlust und der Erkenntnis, dass er dem Maler als Arzt nicht helfen kann – der Ich-Zerfall des Malers lässt sich zwar beobachten, aber nicht aufhalten. | |||
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