"Il cardillo addolorato" (Anna Maria Ortese): Unterschied zwischen den Versionen

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==Zum Werk==
==Entstehungskontext==
 
===Entstehungskontext===
Zusammen mit ihren großen Romanen ''L’Iguana'' [''Iguana: ein romantisches Märchen''], ''Il porto di Toledo'' [''Der Hafen von Toledo''] und ''Alonso e i visionari'' erschuf A. M. Ortese auch in ''Il cardillo addolorato'' ungewöhnliche und fast magische Figuren, Dialoge und Handlungen, die die Schwerelosigkeit eines fliegenden Teppichs haben, mit dem Ziel, etwas Wahres zu verfassen - und da die Wahrheit ihrer Ansicht nach der einzige Weg war, Probleme zu lösen, auch einen Akutalitätsbezug herzustellen (Brunner 2009, 160). Nach Ansicht des Literaturkritikers und Essayisten Goffredo Fofi hat A. M. Ortese "mit ihren beiden letzten Romanen [dem Distelfinken und Alonso] ihre wahre Dimension erreicht und sich unter den größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts einen Platz gesichert". "In essi si perfeziona, trovando una liberissima misura narrativa dentro la metamorfosi e il movimento, dentro il cambiamento ingannevole delle apparenze e delle sostanze, l’acquisizione di una sempre più profonda verità essenzialmente religiosa " ["In ihnen zeigt sich immer deutlicher, indem sie in der Verwandlung und Bewegung, im trügerischen Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Täuschung ihren ganz eigenen Erzählstil findet, die Errungenschaft einer immer tieferen, im Wesentlichen religiösen Wahrheit"] (Fofi 1999, 283 f.).
Zusammen mit ihren großen Romanen ''L’Iguana'' [''Iguana: ein romantisches Märchen''], ''Il porto di Toledo'' [''Der Hafen von Toledo''] und ''Alonso e i visionari'' erschuf A. M. Ortese auch in ''Il cardillo addolorato'' ungewöhnliche und fast magische Figuren, Dialoge und Handlungen, die die Schwerelosigkeit eines fliegenden Teppichs haben, mit dem Ziel, etwas Wahres zu verfassen - und da die Wahrheit ihrer Ansicht nach der einzige Weg war, Probleme zu lösen, auch einen Akutalitätsbezug herzustellen (Brunner 2009, 160). Nach Ansicht des Literaturkritikers und Essayisten Goffredo Fofi hat A. M. Ortese "mit ihren beiden letzten Romanen [dem Distelfinken und Alonso] ihre wahre Dimension erreicht und sich unter den größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts einen Platz gesichert". "In essi si perfeziona, trovando una liberissima misura narrativa dentro la metamorfosi e il movimento, dentro il cambiamento ingannevole delle apparenze e delle sostanze, l’acquisizione di una sempre più profonda verità essenzialmente religiosa " ["In ihnen zeigt sich immer deutlicher, indem sie in der Verwandlung und Bewegung, im trügerischen Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Täuschung ihren ganz eigenen Erzählstil findet, die Errungenschaft einer immer tieferen, im Wesentlichen religiösen Wahrheit"] (Fofi 1999, 283 f.).




===Vier Träume bzw. Traumvisionen im Roman Il cardillo addolorato===
==Vier Träume bzw. Traumvisionen im Roman Il cardillo addolorato==
 
====Gedanken sind Träume, und Träume sind Eingebungen (1.Traum)====


===Gedanken sind Träume, und Träume sind Eingebungen (1.Traum)===
"Immer wenn es sich um Elmina drehte, träumte er. Und wenn er träumte, war er unberechenbar." Dieser Satz steht exakt in der Mitte des 415 Seiten langen Romans ''Il cardillo addolorato'' (Ortese 1993: 209). Er ist eigentlich nur auf einen Mann gemünzt – den launenhaften und auch rachsüchtigen, aber im Grunde keineswegs böswilligen Prinz Ingmar Neville. Doch der Roman beginnt, dass nicht er, sondern ein anderer von Elmina träumt und sich zu einer vorschnellen und unvorsichtigen Handlung hinreißen lässt.  
"Immer wenn es sich um Elmina drehte, träumte er. Und wenn er träumte, war er unberechenbar." Dieser Satz steht exakt in der Mitte des 415 Seiten langen Romans ''Il cardillo addolorato'' (Ortese 1993: 209). Er ist eigentlich nur auf einen Mann gemünzt – den launenhaften und auch rachsüchtigen, aber im Grunde keineswegs böswilligen Prinz Ingmar Neville. Doch der Roman beginnt, dass nicht er, sondern ein anderer von Elmina träumt und sich zu einer vorschnellen und unvorsichtigen Handlung hinreißen lässt.  
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'''Vorher'''
'''Vorher'''
Prinz Ingmar Neville hat sich von zwei Freunden (dem jungen Bildhauer Albert Dupré und dem Kaufmann Nodier) nach Neapel begleiten lassen. Kaum angekommen, lernen die drei dort im Hause des stadtbekannten Handschuhmachers Mariano Civile dessen Töchter Elmina und die kleine Teresa kennen. Noch in derselben Nacht träumt Dupré von Elmina. Im Roman wird er auch Bellerophon genannt, nach dem Helden aus der griechischen Mythologie, der für seinen Übermut, auf seinem geflügelten Pferd zum Olymp zu fliegen, von den Göttern hart bestraft wird und blind und verkrüppelt stirbt.  
Prinz Ingmar Neville hat sich von zwei Freunden (dem jungen Bildhauer Albert Dupré und dem Kaufmann Nodier) nach Neapel begleiten lassen. Kaum angekommen, lernen die drei dort im Hause des stadtbekannten Handschuhmachers Mariano Civile dessen Töchter Elmina und die kleine Teresa kennen. Noch in derselben Nacht träumt Dupré von Elmina. Im Roman wird er auch Bellerophon genannt, nach dem Helden aus der griechischen Mythologie, der für seinen Übermut, auf seinem geflügelten Pferd zum Olymp zu fliegen, von den Göttern hart bestraft wird und blind und verkrüppelt stirbt.  
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'''Nachher'''
'''Nachher'''
Gleich am frühen Morgen berichtet Albert Dupré dem Prinzen Ingmar Neville vertrauensselig von seinem Traum und was dieser ausgelöst habe. Er gibt zu, sich noch am selben Abend ihrer Ankunft in das Mädchen Elmina verliebt zu haben und bereits bei Sonnenaufgang einen Brief zum Haus des Handschuhmachers gebracht zu haben: Darin bittet er Herrn Mariano Civile um die Hand seiner Tochter. Der Prinz ist eifersüchtig - besonders auf Duprés Traum. Und er traut dem Glück nicht, das dem jungen Künstler den Verstand zu rauben scheint. Elmina kann aus dem Fenster beobachten, wie sich Neville kurzentschlossen den Brief wieder aushändigen lässt und damit den Heiratsantrag aus der Welt schafft. Seitdem ist sie ihm feindlich gesinnt.
Gleich am frühen Morgen berichtet Albert Dupré dem Prinzen Ingmar Neville vertrauensselig von seinem Traum und was dieser ausgelöst habe. Er gibt zu, sich noch am selben Abend ihrer Ankunft in das Mädchen Elmina verliebt zu haben und bereits bei Sonnenaufgang einen Brief zum Haus des Handschuhmachers gebracht zu haben: Darin bittet er Herrn Mariano Civile um die Hand seiner Tochter. Der Prinz ist eifersüchtig - besonders auf Duprés Traum. Und er traut dem Glück nicht, das dem jungen Künstler den Verstand zu rauben scheint. Elmina kann aus dem Fenster beobachten, wie sich Neville kurzentschlossen den Brief wieder aushändigen lässt und damit den Heiratsantrag aus der Welt schafft. Seitdem ist sie ihm feindlich gesinnt.




'''Von Trotz und Träumen (2. Traum)'''
===Von Trotz und Träumen (2. Traum)===
 
"Solo sogni e dispetti" [Nur Träume und Trotzreaktionen]: A. M. Ortese verbindet diese beiden Begriffe, um das Verhalten von "principi e fanciulli" [Prinzen und Kindern] zu beschreiben. Sie seien die „ammanettati dal Sogno“ [mit Handschellen vom Traum Gefesselten] – und sie laufen Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden.  
"Solo sogni e dispetti" [Nur Träume und Trotzreaktionen]: A. M. Ortese verbindet diese beiden Begriffe, um das Verhalten von "principi e fanciulli" [Prinzen und Kindern] zu beschreiben. Sie seien die „ammanettati dal Sogno“ [mit Handschellen vom Traum Gefesselten] – und sie laufen Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden.  


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A. M. Ortese hat bei der Charakterisierung der Figur des Prinzen, indem sie das Bild der im Morgengrauen in Handschellen durch die Straßen abgeführten Menschengruppe zeichnet, ausdrücklich die politischen Häftlinge des beginnenden 19. Jahrhunderts - der Roman spielt in jener Epoche - vor Augen. Sie waren jung und unverbesserlich, und kein Verbot oder Gefängnis, keine Folter oder sogar Todesstrafe konnte sie abschrecken. Durch ihren Trotz und ihre Träume unterscheidet sich diese Art von Menschen einerseits von den Freien, die wie der Kaufmann Nodier niemals gegen den eigenen Vorteil handeln würden. Doch liegen auch Welten zwischen ihnen und den Abhängigen, die sich wie der Künstler Albert Dupré zum eigenen Leidwesen oder aus Bequemlichkeit zeitlebens anderen unterordnen.
A. M. Ortese hat bei der Charakterisierung der Figur des Prinzen, indem sie das Bild der im Morgengrauen in Handschellen durch die Straßen abgeführten Menschengruppe zeichnet, ausdrücklich die politischen Häftlinge des beginnenden 19. Jahrhunderts - der Roman spielt in jener Epoche - vor Augen. Sie waren jung und unverbesserlich, und kein Verbot oder Gefängnis, keine Folter oder sogar Todesstrafe konnte sie abschrecken. Durch ihren Trotz und ihre Träume unterscheidet sich diese Art von Menschen einerseits von den Freien, die wie der Kaufmann Nodier niemals gegen den eigenen Vorteil handeln würden. Doch liegen auch Welten zwischen ihnen und den Abhängigen, die sich wie der Künstler Albert Dupré zum eigenen Leidwesen oder aus Bequemlichkeit zeitlebens anderen unterordnen.


 
===Ein wenig mehr Licht (3.Traum)===
'''Ein wenig mehr Licht (3.Traum)'''
 
Prinz Neville träumt von einem geräumigen Atelier für seinen Freund Albert Dupré, wobei sein prophetischer Traum nichts Gutes verheißt.
Prinz Neville träumt von einem geräumigen Atelier für seinen Freund Albert Dupré, wobei sein prophetischer Traum nichts Gutes verheißt.


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'''Vorher'''
''Vorher''
 
Diesem Traumbild des Prinzen war ein nächtlicher Meinungsumschwung vorausgegangen. Neville ist nach einem kurzen Abstecher in Caserta, wo er einem polnischen Herzog einen Besuch abgestattet hat, nach Neapel zurückgekehrt. Seit er von seinem Wunsch, die Ehe zwischen Albert und Elmina zu verhindern, abgelassen hat, ist er bereit, der Trauung in der Kirche beizuwohnen. Doch in der Nacht davor fühlt er plötzlich einen wilden Schmerz und ein grausames und egoistisches Verlangen, das Weite zu suchen. Er beschließt am folgenden Morgen, über Nizza in seine Heimat nach Lüttich zurückzukehren. Vorher will er sich aber noch schnell die zukünftige Wohnstätte der Frischvermählten ansehen, deren Restaurierung er finanziert hat.
Diesem Traumbild des Prinzen war ein nächtlicher Meinungsumschwung vorausgegangen. Neville ist nach einem kurzen Abstecher in Caserta, wo er einem polnischen Herzog einen Besuch abgestattet hat, nach Neapel zurückgekehrt. Seit er von seinem Wunsch, die Ehe zwischen Albert und Elmina zu verhindern, abgelassen hat, ist er bereit, der Trauung in der Kirche beizuwohnen. Doch in der Nacht davor fühlt er plötzlich einen wilden Schmerz und ein grausames und egoistisches Verlangen, das Weite zu suchen. Er beschließt am folgenden Morgen, über Nizza in seine Heimat nach Lüttich zurückzukehren. Vorher will er sich aber noch schnell die zukünftige Wohnstätte der Frischvermählten ansehen, deren Restaurierung er finanziert hat.


'''Nachher'''
''Nachher''
 
Nevilles polnischer Freund, der hellseherische Fähigkeiten hat, hatte ihn vorgewarnt. Jedes Mal, wenn er den Namen Dupré ausspreche: Albert Dupré, überlaufe es ihn kalt. "Ich mag diese beiden jungen Menschen, auch wenn ich sie persönlich nicht kenne, rührt mich ihre Unbedarftheit... ja, sie sind auf höchste Weise unschuldig, ungeachtet der Tatsache, dass Elmina noch blutjung und oft hochmütig ist. Beide scheinen im ersten Morgenlicht so strahlend glücklich, als könnten sie fliegen, noch ahnen sie nicht die Last, die das Schicksal für sie im Schlepptau hält." (Ortese 1993, 97) Der heruntergefallene Vorhang, den die alte Ferrantina wieder aufzuhängen bemüht ist, um die Fenster zu verdunkeln, bietet die Gelegenheit, einen kurzen Blick in die Zukunft zu werfen. Neville verfolgt nur bruchstückhaft das Gespräch der Alten mit dem am Boden liegenden Bildhauer. Aber es reicht, um sich Albert so krank vorzustellen, dass er noch nicht einmal mehr die Kraft besitzt, sich der rachsüchtigen Dienerin zu wehren.
Nevilles polnischer Freund, der hellseherische Fähigkeiten hat, hatte ihn vorgewarnt. Jedes Mal, wenn er den Namen Dupré ausspreche: Albert Dupré, überlaufe es ihn kalt. "Ich mag diese beiden jungen Menschen, auch wenn ich sie persönlich nicht kenne, rührt mich ihre Unbedarftheit... ja, sie sind auf höchste Weise unschuldig, ungeachtet der Tatsache, dass Elmina noch blutjung und oft hochmütig ist. Beide scheinen im ersten Morgenlicht so strahlend glücklich, als könnten sie fliegen, noch ahnen sie nicht die Last, die das Schicksal für sie im Schlepptau hält." (Ortese 1993, 97) Der heruntergefallene Vorhang, den die alte Ferrantina wieder aufzuhängen bemüht ist, um die Fenster zu verdunkeln, bietet die Gelegenheit, einen kurzen Blick in die Zukunft zu werfen. Neville verfolgt nur bruchstückhaft das Gespräch der Alten mit dem am Boden liegenden Bildhauer. Aber es reicht, um sich Albert so krank vorzustellen, dass er noch nicht einmal mehr die Kraft besitzt, sich der rachsüchtigen Dienerin zu wehren.




'''Ein Gespenst! (4.Traum)'''
===Ein Gespenst! (4.Traum)===
 
"Elmina war nie abergläubisch gewesen, aber in letzter Zeit träumte ihr." A. M. Ortese schafft zu Beginn ihres dritten Romanteils mit dieser Wendung einen Zwischenraum zwischen Traum- und Wachwelt, dessen Grenzen unscharf geworden sind. Elmina ist zu diesem Zeitpunkt des Handlungsgeschehens als Ehefrau und Mutter von mehreren Schicksalsschlägen getroffen worden. Die Traummarkierung per Dativkonstruktion stellt diese Träume als von außen eingegebene Träume aus, was wie eine Reminiszenz an voraufklärerische Zeiten wirkt. Ihre Gedanken sind zudem in weiten Teilen der Wirklichkeit entrückt und kreisen um Neville, der am Ende des ersten Romanteils abgereist war. Das dritte Romankapitel beginnt mit der Beschreibung einer Treppe, der "Scalinatella", die über mindestens tausend verwitterte Stufen bis hoch zu dem vereinsamten Häuschen mit Atelier führt.
"Elmina war nie abergläubisch gewesen, aber in letzter Zeit träumte ihr." A. M. Ortese schafft zu Beginn ihres dritten Romanteils mit dieser Wendung einen Zwischenraum zwischen Traum- und Wachwelt, dessen Grenzen unscharf geworden sind. Elmina ist zu diesem Zeitpunkt des Handlungsgeschehens als Ehefrau und Mutter von mehreren Schicksalsschlägen getroffen worden. Die Traummarkierung per Dativkonstruktion stellt diese Träume als von außen eingegebene Träume aus, was wie eine Reminiszenz an voraufklärerische Zeiten wirkt. Ihre Gedanken sind zudem in weiten Teilen der Wirklichkeit entrückt und kreisen um Neville, der am Ende des ersten Romanteils abgereist war. Das dritte Romankapitel beginnt mit der Beschreibung einer Treppe, der "Scalinatella", die über mindestens tausend verwitterte Stufen bis hoch zu dem vereinsamten Häuschen mit Atelier führt.


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'''Vorher'''
''Vorher''
 
Elmina ist an dieser Stelle des Romans eine gealterte Frau: nicht, was ihren unbeugsamen Stolz, sondern was ihr Wissen um die Vergänglichkeit der Welt angeht, ausgelöst durch den schlagartigen Verlust lieber Menschen und Sicherheiten. In weniger als zehn Jahren sind ihr drei Familienmitglieder weggestorben. Ihre Tätigkeit als Näherin, die ihr gesellschaftlich und finanziell Halt gegeben hat, steht auf unsicheren Füßen: erst der Tod des Vaters, dann der Tod des Sohnes, dann die lange Krankheit ihres Ehemanns Albert Dupré, von der ihr niemand sagen kann, ob es Verrücktheit war, schließlich das kümmerliche Schattendasein als mittellose Witwe mit einer dreijährigen stummen Tochter. Alles zusammen hat ihre Kundschaft vertrieben und sie in die Abhängigkeit einer einzigen strengen Arbeitgeberin gebracht.
Elmina ist an dieser Stelle des Romans eine gealterte Frau: nicht, was ihren unbeugsamen Stolz, sondern was ihr Wissen um die Vergänglichkeit der Welt angeht, ausgelöst durch den schlagartigen Verlust lieber Menschen und Sicherheiten. In weniger als zehn Jahren sind ihr drei Familienmitglieder weggestorben. Ihre Tätigkeit als Näherin, die ihr gesellschaftlich und finanziell Halt gegeben hat, steht auf unsicheren Füßen: erst der Tod des Vaters, dann der Tod des Sohnes, dann die lange Krankheit ihres Ehemanns Albert Dupré, von der ihr niemand sagen kann, ob es Verrücktheit war, schließlich das kümmerliche Schattendasein als mittellose Witwe mit einer dreijährigen stummen Tochter. Alles zusammen hat ihre Kundschaft vertrieben und sie in die Abhängigkeit einer einzigen strengen Arbeitgeberin gebracht.


'''Nachher'''
''Nachher''
 
Wenn am Ende der Treppe, die einem Bußgang gleicht, Neville auf sie wartet, könnte man meinen, die Erlösung sei greifbar nah. Aber dass es sich um einen Trugschluss handelt, zeigt schon allein die augenzwinkernd getroffene Wahl der Autorin, Neville zeitgleich an zwei Orten zu platzieren. Außerdem hat Elmina ihren eigenen Kopf. Sie ist wahrlich nicht frei, aber sie ist aufmüpfiger als ihr verstorbener Mann Albert. In ihrem Trotz und ihrer Fähigkeit zu träumen ist sie dem Prinzen ebenbürtig. Nicht zuletzt ist Orteses Roman die Geschichte einer unerfüllten Liebe zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig anziehen und hassen: der Prinz Neville und die schöne Elmina.
Wenn am Ende der Treppe, die einem Bußgang gleicht, Neville auf sie wartet, könnte man meinen, die Erlösung sei greifbar nah. Aber dass es sich um einen Trugschluss handelt, zeigt schon allein die augenzwinkernd getroffene Wahl der Autorin, Neville zeitgleich an zwei Orten zu platzieren. Außerdem hat Elmina ihren eigenen Kopf. Sie ist wahrlich nicht frei, aber sie ist aufmüpfiger als ihr verstorbener Mann Albert. In ihrem Trotz und ihrer Fähigkeit zu träumen ist sie dem Prinzen ebenbürtig. Nicht zuletzt ist Orteses Roman die Geschichte einer unerfüllten Liebe zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig anziehen und hassen: der Prinz Neville und die schöne Elmina.




===Einordnung===
==Einordnung==
 
Nur schwer lässt sich im Roman ''Die Klage des Distelfinken'' die Grenze zwischen einer erträumten Welt zu der eines wachen Bewusstseins ziehen: Trotz einer kunstvoll stimmigen und geschlossenen Wiedergabe, als wären es alles wahre Begebenheiten, kann keine der noch so minuziös geschilderten Szenen aus diesem Roman dauerhaft den Anspruch auf diegetische Wirklichkeit erheben, weil jeder einzelnen zu viele Widersprüchlichkeiten gleich auf den Fersen folgen. Was die vier genannten Traumsequenzen im „Distelfinken“ aber auszeichnet ist die ihnen innewohnende Anlage, dass sie nicht nur auf einzelne interpretative Ansätze hin, sondern auch maßgebend für ein allgemein besseres Verständnis des Handlungsverlaufs ausgelegt werden können. Gerade was die Zusammenfassung des Inhalts betrifft, hat A. M. Ortese vor oberflächlichen Aussagen gewarnt: "Ein Roman ist ein Gewebe, und wenn man an seinen einzelnen Fäden zieht, zerstört man sein Geheimnis" (Clerici 2002, 586). Die Geschichte sei das eigentliche Übel des Romans, gibt die Autorin zu. "In questo quadro fatto di prospettive multiple e personaggi instabili la vicenda non può che essere complessa e sfuggente, ramificata e contraddittoria, incontrollabile: quello dell’impossibilità di riassumere i due romanzi è un topos della critica" ["In diesem Bild, in dem es hundertfache Blickwinkel und mutierende Persönlichkeiten gibt, kann auch das Geschehen nur ein vielschichtiges und unbeständiges, weitgefächertes und widersprüchliches sein, mit einem Wort: ein außer Kontrolle geratenes; die Unmöglichkeit der Inhaltszusammenfassung ist für beide Romane ein Topos der Kritik"] (Clerici 2002, 601 f.).  
Nur schwer lässt sich im Roman ''Die Klage des Distelfinken'' die Grenze zwischen einer erträumten Welt zu der eines wachen Bewusstseins ziehen: Trotz einer kunstvoll stimmigen und geschlossenen Wiedergabe, als wären es alles wahre Begebenheiten, kann keine der noch so minuziös geschilderten Szenen aus diesem Roman dauerhaft den Anspruch auf diegetische Wirklichkeit erheben, weil jeder einzelnen zu viele Widersprüchlichkeiten gleich auf den Fersen folgen. Was die vier genannten Traumsequenzen im „Distelfinken“ aber auszeichnet ist die ihnen innewohnende Anlage, dass sie nicht nur auf einzelne interpretative Ansätze hin, sondern auch maßgebend für ein allgemein besseres Verständnis des Handlungsverlaufs ausgelegt werden können. Gerade was die Zusammenfassung des Inhalts betrifft, hat A. M. Ortese vor oberflächlichen Aussagen gewarnt: "Ein Roman ist ein Gewebe, und wenn man an seinen einzelnen Fäden zieht, zerstört man sein Geheimnis" (Clerici 2002, 586). Die Geschichte sei das eigentliche Übel des Romans, gibt die Autorin zu. "In questo quadro fatto di prospettive multiple e personaggi instabili la vicenda non può che essere complessa e sfuggente, ramificata e contraddittoria, incontrollabile: quello dell’impossibilità di riassumere i due romanzi è un topos della critica" ["In diesem Bild, in dem es hundertfache Blickwinkel und mutierende Persönlichkeiten gibt, kann auch das Geschehen nur ein vielschichtiges und unbeständiges, weitgefächertes und widersprüchliches sein, mit einem Wort: ein außer Kontrolle geratenes; die Unmöglichkeit der Inhaltszusammenfassung ist für beide Romane ein Topos der Kritik"] (Clerici 2002, 601 f.).  
Die vier ausgesuchten Träume hingegen zeigen auf, dass sich aus bestimmten Eingebungen der Protagonisten eine Struktur für das Romangeschehen ergeben kann. So bewahrheiten sich die onirischen Prophezeiungen vom Glanz (1.Traum) und Untergang (3.Traum) des Bildhauers Albert Dupré, wobei die zwei zeitlich getrennten Visionen kontrastiv aufeinanderprallend den Wendepunkt im Leben des Künstlers gestalten. Eine selbstreferentielle Qualifizierung der Traumbedeutung (2.Traum) nimmt die Erzählinstanz in Bezug auf den Individuationsprozess der wichtigsten Figur, Prinz Neville, vor: Dem Traum wird hier ein Momentum der Selbstbestimmtheit zugesprochen, der als Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Rollenerwartungen anzusehen ist. Auch die in ängstlicher Traumverlorenheit zum Ausdruck kommenden Leidenschaften der schönen Elmina (4.Traum) verdeutlichen schließlich die implizite Strukturierung des Romangeschehens in ähnlicher Art und Weise. Das Romangeschehen spiegelt sich in dem durch die Schicksalsschläge gewandelten Seelenleben Elminas wider, das Zeugnis von einem Bekenntnis zur Individualität ablegt, auch wenn diese lediglich im Gewand des Trotzes aufrechterhalten werden kann.
Die vier ausgesuchten Träume hingegen zeigen auf, dass sich aus bestimmten Eingebungen der Protagonisten eine Struktur für das Romangeschehen ergeben kann. So bewahrheiten sich die onirischen Prophezeiungen vom Glanz (1.Traum) und Untergang (3.Traum) des Bildhauers Albert Dupré, wobei die zwei zeitlich getrennten Visionen kontrastiv aufeinanderprallend den Wendepunkt im Leben des Künstlers gestalten. Eine selbstreferentielle Qualifizierung der Traumbedeutung (2.Traum) nimmt die Erzählinstanz in Bezug auf den Individuationsprozess der wichtigsten Figur, Prinz Neville, vor: Dem Traum wird hier ein Momentum der Selbstbestimmtheit zugesprochen, der als Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Rollenerwartungen anzusehen ist. Auch die in ängstlicher Traumverlorenheit zum Ausdruck kommenden Leidenschaften der schönen Elmina (4.Traum) verdeutlichen schließlich die implizite Strukturierung des Romangeschehens in ähnlicher Art und Weise. Das Romangeschehen spiegelt sich in dem durch die Schicksalsschläge gewandelten Seelenleben Elminas wider, das Zeugnis von einem Bekenntnis zur Individualität ablegt, auch wenn diese lediglich im Gewand des Trotzes aufrechterhalten werden kann.


<div style="text-align: right;">[[Autoren|Stephanie Kunzemann]]</div>
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Stephanie Kunzemann]]</div>
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==Literatur==
==Literatur==


===Ausgabe===
* Ortese, Anna Maria: ''Il cardillo addolorato''. Milano: Adelphi 1993.


 
===Forschungsliteratur===
* Ortese, Anna Maria: ''Il cardillo addolorato''. Milano: Adelphi 1993.
* Brunner, Maria E.: ''Schreiben als Arbeit an der Sprache. Das literarische Werk von Anna Maria Ortese''. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.
* Brunner, Maria E.: ''Schreiben als Arbeit an der Sprache. Das literarische Werk von Anna Maria Ortese''. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.
* Clerici, Luca: ''Apparizione e visione. Vita e opere di Anna Maria Ortese''. Milano: Mondadori 2002.
* Clerici, Luca: ''Apparizione e visione. Vita e opere di Anna Maria Ortese''. Milano: Mondadori 2002.
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[[Kategorie:Literatur]]
[[Kategorie:Literatur]]
[[Kategorie:Roman]]


[[Kategorie:20._Jahrhundert]]
[[Kategorie:20._Jahrhundert]]


[[Kategorie: Italienisch]]
[[Kategorie:Gegenwart]]
 
[[Kategorie:Italienisch]]
 
[[Kategorie:Italien]]
 
[[Kategorie:Ortese,_Anna_Maria|Anna Maria Ortese]]

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