"Il cardillo addolorato" (Anna Maria Ortese): Unterschied zwischen den Versionen
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"Il cardillo addolorato" (Anna Maria Ortese) (Quelltext anzeigen)
Version vom 10. Juni 2023, 07:59 Uhr
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Der 1993 veröffentlichte Roman ''Il cardillo addolorato'' | Der 1993 veröffentlichte Roman ''Il cardillo addolorato'' (''Die Klage des Distelfinken'', wörtlich „Der untröstliche Distelfink") von Anna Maria Ortese (1914-1998) ist ein "phantastisch-historischer Roman“ (Brunner 2009, 8) mit vier wegweisenden Träumen oder Traumvisionen. Die Autorin gesteht: "Scivolo sul ghiaccio dell’invenzione e cado dove non c’è più invenzione" ("Ich gleite über das Eis der Erfindung und falle, wo die Erfindung aufhört"; Clerici 2002, 584). Ihre im fortgeschrittenen Alter entstandenen Werke seien alle als moderne Märchen zu verstehen, deren Hauptfiguren auch als Erwachsene noch "Kindsköpfe" seien, weil sie den Gefahren und der Sterilität der herrschenden Sitten trotzten, zu Scherzen aufgelegt seien und das Spiel der unbegrenzten Möglichkeiten ausreizten, darin ihr als Autorin durchaus ähnlich, so verteidigt eine übermütige A. M. Ortese ihre besonders fruchtbare Schaffensperiode in den Siebziger und Achtziger Jahren (Clerici 2002, 585). Sie bezieht sich mit dieser Aussage auf eine Reihe von Manuskripten, darunter die zwei Romane ihrer späteren Jahre "Alonso e i visionari" und "Il cardillo addolorato". Noch ein weiteres Zitat bietet einen sicheren Zugang zu Orteses Verständnis vom "magischen Realismus": "L’ovvio, il comune, il parlato, il comprensibile mi sembrano cose sempre più prive di vita, come le mode, e vorrei perciò scrivere in modo antico o antichissimo, proprio per raggiungere un accento di verità (e anche attualità)" ("Alles Banale, Gewöhnliche, Dahergeredete, Selbstverständliche erscheint mir immer mehr als etwas Lebensfremdes, wie die Moden, und darum möchte ich auf eine veraltete Art schreiben, so veraltet wie möglich, um einen Hauch von Wahrheit zu erzeugen (und auch von Aktualität)"; Clerici 2002, 586). | ||
==Zur Autorin== | ==Zur Autorin== | ||
A. M. Ortese ist eine der wichtigen, allerdings lange Zeit verkannten italienischen Autorinnen des Novecento. Sie ist 1914 in Rom geboren und in Neapel aufgewachsen. Noch ein halbes Kind, verweigerte sie mit vierzehn Jahren die Schule, weil sie dort nichts lerne. "Io ho avuto il vantaggio di una famiglia che mi lasciava libera di camminare e di leggere: sono state queste due possibilità a formarmi" | A. M. Ortese ist eine der wichtigen, allerdings lange Zeit verkannten italienischen Autorinnen des Novecento. Sie ist 1914 in Rom geboren und in Neapel aufgewachsen. Noch ein halbes Kind, verweigerte sie mit vierzehn Jahren die Schule, weil sie dort nichts lerne. "Io ho avuto il vantaggio di una famiglia che mi lasciava libera di camminare e di leggere: sono state queste due possibilità a formarmi" ("Ich hatte den Vorteil, eine Familie zu haben, die mir die Freiheit ließ, umherzugehen und zu lesen: Darin bestand meine Bildung"; Clerici 2002, 62). In der Folgezeit begann sie – als Autodidaktin – zu schreiben. Ausgestattet mit einem Hang zu Isolation und Selbstaufopferung – oft saß sie um drei Uhr nachts am Schreibtisch – sowie mit einer großen Eigenwilligkeit, experimentierte A.M. Ortese viel mit der italienischen Sprache. Dabei feilte sie so lange an jedem ihrer Sätze, bis er ihren hohen poetischen Anforderungen entsprach. Niemals ordnete sie sich einer gerade gängigen literarischen Mode unter. Erste Bekanntheit erlangte sie 1953 mit dem Erzählband ''Il mare non bagna Napoli'' (''Neapel liegt nicht am Meer''). Eine Erzählung daraus erregte unter den von ihr namentlich zitierten Intellektuellen eine so heftige Polemik, dass sie Neapel schließlich verließ. Seitdem fühlte sie sich weder im privaten Leben noch im Kulturbetrieb zu Hause, obwohl sie weiterhin viele literarische Werke produzierte. A. M. Ortese blieb ihrer Heimatstadt stets in schmerzvoller Liebe verbunden. In einem Interview gestand sie, sie habe es beim Schreiben von ''Il cardillo addolorato'' als Glück empfunden, in eine Welt zurückzukehren, an der sie mit ganzer Seele hängt: Neapel. Diesem Roman gebührt der Ruhm als „erfolgreichstem Werk ihrer letzten Schaffensphase“ (Brunner 2009, 184). Ein Jahr vor ihrem Tod 1998 schrieb sie einer Freundin: "Vorrei dirLe tante più cose. Di quelle che si pensano di notte e sono molte luminose, però sfuggono subito. Al risveglio, non c’è nulla" ("Gern würde ich Ihnen noch viel mehr sagen. Von Nachtgedanken, die sehr einleuchtend sind, aber auch sofort wieder verschwinden. Beim Aufwachen ist alles weg"); Clerici 2002, 639). A. M. Ortese starb mit 84 Jahren in Rapallo in Ligurien, ihrer Wahlheimat für lange zwanzig Jahre. | ||
==Entstehungskontext== | ==Entstehungskontext== | ||
Zusammen mit ihren großen Romanen ''L’Iguana'' | Zusammen mit ihren großen Romanen ''L’Iguana'' (''Iguana: ein romantisches Märchen''), ''Il porto di Toledo'' (''Der Hafen von Toledo'') und ''Alonso e i visionari'' (####) erschuf A. M. Ortese auch in ''Il cardillo addolorato'' ungewöhnliche und fast magische Figuren, Dialoge und Handlungen, die die Schwerelosigkeit eines fliegenden Teppichs haben, mit dem Ziel, etwas Wahres zu verfassen - und da die Wahrheit ihrer Ansicht nach der einzige Weg war, Probleme zu lösen, auch einen Akutalitätsbezug herzustellen (Brunner 2009, 160). Nach Ansicht des Literaturkritikers und Essayisten Goffredo Fofi hat A. M. Ortese "mit ihren beiden letzten Romanen [dem ''Distelfinken'' und ''Alonso''] ihre wahre Dimension erreicht und sich unter den größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts einen Platz gesichert". "In essi si perfeziona, trovando una liberissima misura narrativa dentro la metamorfosi e il movimento, dentro il cambiamento ingannevole delle apparenze e delle sostanze, l’acquisizione di una sempre più profonda verità essenzialmente religiosa " ("In ihnen zeigt sich immer deutlicher, indem sie in der Verwandlung und Bewegung, im trügerischen Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Täuschung ihren ganz eigenen Erzählstil findet, die Errungenschaft einer immer tieferen, im Wesentlichen religiösen Wahrheit"; Fofi 1999, 283 f.). | ||
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: <span style="color: #7b879e;>Albert [...] war der Stern des apollinischen Wagens, der aus diesen drei jungen Reisenden bestand, er war der wahre Bellerophon der Gruppe; und als der Wagen losfuhr, beflügelt vom feurigen Pegasos – d.h. der europäischen Romantik –, überquerte man in Windeseile erst das von den Jakobinern schon viel weniger überlaufene Frankreich, dann die im Azur schwimmenden Alpen; anschließend fuhr man in euphorischer Stimmung das himmelblaue Italien runter und immer weiter runter, um endlich nach einem gewagten Sprung durch den rosafarbenen Feuerreifen der ersten mediterranen Morgenröte in Neapel zu landen; Neville will sich später daran erinnern können, dass bei ihrer Ankunft viele kleine Wellen hinter den Felsbrocken hervorgelugt hätten, oder dass noch andere luftgeborene Wesen des Frühlings die grünen Türen der am durchsichtigen Meer liegenden Fischerhütten, in deren Nähe das Haus von don Mariano Civile stand, einen Spalt weit geöffnet hätten, um lachend nach ihnen Ausschau zu halten… Don Mariano wohnte bekannterweise hier; und genau hier, wo er seine prachtvolle, mit dorischen Säulen geschmückte Villa wie eine Chimäre oder einen Traum angrenzend an das farbige und einfältige Fischerdorf mit seinen Fischernetzen und Fischerbooten errichtet hatte, war er in jungen Jahren zu viel Berühmtheit, vielen Kindern und einem unglaublichen Reichtum und Wohlstand gekommen, von dem man in Neapel und Umgebung nur so schwärmte [...] | : <span style="color: #7b879e;>Albert [...] war der Stern des apollinischen Wagens, der aus diesen drei jungen Reisenden bestand, er war der wahre Bellerophon der Gruppe; und als der Wagen losfuhr, beflügelt vom feurigen Pegasos – d.h. der europäischen Romantik –, überquerte man in Windeseile erst das von den Jakobinern schon viel weniger überlaufene Frankreich, dann die im Azur schwimmenden Alpen; anschließend fuhr man in euphorischer Stimmung das himmelblaue Italien runter und immer weiter runter, um endlich nach einem gewagten Sprung durch den rosafarbenen Feuerreifen der ersten mediterranen Morgenröte in Neapel zu landen; Neville will sich später daran erinnern können, dass bei ihrer Ankunft viele kleine Wellen hinter den Felsbrocken hervorgelugt hätten, oder dass noch andere luftgeborene Wesen des Frühlings die grünen Türen der am durchsichtigen Meer liegenden Fischerhütten, in deren Nähe das Haus von don Mariano Civile stand, einen Spalt weit geöffnet hätten, um lachend nach ihnen Ausschau zu halten… Don Mariano wohnte bekannterweise hier; und genau hier, wo er seine prachtvolle, mit dorischen Säulen geschmückte Villa wie eine Chimäre oder einen Traum angrenzend an das farbige und einfältige Fischerdorf mit seinen Fischernetzen und Fischerbooten errichtet hatte, war er in jungen Jahren zu viel Berühmtheit, vielen Kindern und einem unglaublichen Reichtum und Wohlstand gekommen, von dem man in Neapel und Umgebung nur so schwärmte [...] (Ortese 1993, 17 f., übers. von S.K.).</span> | ||
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===Von Trotz und Träumen (2. Traum)=== | ===Von Trotz und Träumen (2. Traum)=== | ||
"Solo sogni e dispetti" | "Solo sogni e dispetti" (Nur Träume und Trotzreaktionen): A. M. Ortese verbindet diese beiden Begriffe, um das Verhalten von "principi e fanciulli" (Prinzen und Kindern) zu beschreiben. Sie seien die „ammanettati dal Sogno“ (mit Handschellen vom Traum Gefesselten) – und sie laufen Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden. | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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==Einordnung== | ==Einordnung== | ||
Nur schwer lässt sich im Roman ''Die Klage des Distelfinken'' die Grenze zwischen einer erträumten Welt zu der eines wachen Bewusstseins ziehen: Trotz einer kunstvoll stimmigen und geschlossenen Wiedergabe, als wären es alles wahre Begebenheiten, kann keine der noch so minuziös geschilderten Szenen aus diesem Roman dauerhaft den Anspruch auf diegetische Wirklichkeit erheben, weil jeder einzelnen zu viele Widersprüchlichkeiten gleich auf den Fersen folgen. Was die vier genannten Traumsequenzen im „Distelfinken“ aber auszeichnet ist die ihnen innewohnende Anlage, dass sie nicht nur auf einzelne interpretative Ansätze hin, sondern auch maßgebend für ein allgemein besseres Verständnis des Handlungsverlaufs ausgelegt werden können. Gerade was die Zusammenfassung des Inhalts betrifft, hat A. M. Ortese vor oberflächlichen Aussagen gewarnt: "Ein Roman ist ein Gewebe, und wenn man an seinen einzelnen Fäden zieht, zerstört man sein Geheimnis" (Clerici 2002, 586). Die Geschichte sei das eigentliche Übel des Romans, gibt die Autorin zu. "In questo quadro fatto di prospettive multiple e personaggi instabili la vicenda non può che essere complessa e sfuggente, ramificata e contraddittoria, incontrollabile: quello dell’impossibilità di riassumere i due romanzi è un topos della critica" | Nur schwer lässt sich im Roman ''Die Klage des Distelfinken'' die Grenze zwischen einer erträumten Welt zu der eines wachen Bewusstseins ziehen: Trotz einer kunstvoll stimmigen und geschlossenen Wiedergabe, als wären es alles wahre Begebenheiten, kann keine der noch so minuziös geschilderten Szenen aus diesem Roman dauerhaft den Anspruch auf diegetische Wirklichkeit erheben, weil jeder einzelnen zu viele Widersprüchlichkeiten gleich auf den Fersen folgen. Was die vier genannten Traumsequenzen im „Distelfinken“ aber auszeichnet ist die ihnen innewohnende Anlage, dass sie nicht nur auf einzelne interpretative Ansätze hin, sondern auch maßgebend für ein allgemein besseres Verständnis des Handlungsverlaufs ausgelegt werden können. Gerade was die Zusammenfassung des Inhalts betrifft, hat A. M. Ortese vor oberflächlichen Aussagen gewarnt: "Ein Roman ist ein Gewebe, und wenn man an seinen einzelnen Fäden zieht, zerstört man sein Geheimnis" (Clerici 2002, 586). Die Geschichte sei das eigentliche Übel des Romans, gibt die Autorin zu. "In questo quadro fatto di prospettive multiple e personaggi instabili la vicenda non può che essere complessa e sfuggente, ramificata e contraddittoria, incontrollabile: quello dell’impossibilità di riassumere i due romanzi è un topos della critica" ("In diesem Bild, in dem es hundertfache Blickwinkel und mutierende Persönlichkeiten gibt, kann auch das Geschehen nur ein vielschichtiges und unbeständiges, weitgefächertes und widersprüchliches sein, mit einem Wort: ein außer Kontrolle geratenes; die Unmöglichkeit der Inhaltszusammenfassung ist für beide Romane ein Topos der Kritik"; Clerici 2002, 601 f.). | ||
Die vier ausgesuchten Träume hingegen zeigen auf, dass sich aus bestimmten Eingebungen der Protagonisten eine Struktur für das Romangeschehen ergeben kann. So bewahrheiten sich die onirischen Prophezeiungen vom Glanz (1.Traum) und Untergang (3.Traum) des Bildhauers Albert Dupré, wobei die zwei zeitlich getrennten Visionen kontrastiv aufeinanderprallend den Wendepunkt im Leben des Künstlers gestalten. Eine selbstreferentielle Qualifizierung der Traumbedeutung (2.Traum) nimmt die Erzählinstanz in Bezug auf den Individuationsprozess der wichtigsten Figur, Prinz Neville, vor: Dem Traum wird hier ein Momentum der Selbstbestimmtheit zugesprochen, der als Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Rollenerwartungen anzusehen ist. Auch die in ängstlicher Traumverlorenheit zum Ausdruck kommenden Leidenschaften der schönen Elmina (4.Traum) verdeutlichen schließlich die implizite Strukturierung des Romangeschehens in ähnlicher Art und Weise. Das Romangeschehen spiegelt sich in dem durch die Schicksalsschläge gewandelten Seelenleben Elminas wider, das Zeugnis von einem Bekenntnis zur Individualität ablegt, auch wenn diese lediglich im Gewand des Trotzes aufrechterhalten werden kann. | Die vier ausgesuchten Träume hingegen zeigen auf, dass sich aus bestimmten Eingebungen der Protagonisten eine Struktur für das Romangeschehen ergeben kann. So bewahrheiten sich die onirischen Prophezeiungen vom Glanz (1.Traum) und Untergang (3.Traum) des Bildhauers Albert Dupré, wobei die zwei zeitlich getrennten Visionen kontrastiv aufeinanderprallend den Wendepunkt im Leben des Künstlers gestalten. Eine selbstreferentielle Qualifizierung der Traumbedeutung (2.Traum) nimmt die Erzählinstanz in Bezug auf den Individuationsprozess der wichtigsten Figur, Prinz Neville, vor: Dem Traum wird hier ein Momentum der Selbstbestimmtheit zugesprochen, der als Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Rollenerwartungen anzusehen ist. Auch die in ängstlicher Traumverlorenheit zum Ausdruck kommenden Leidenschaften der schönen Elmina (4.Traum) verdeutlichen schließlich die implizite Strukturierung des Romangeschehens in ähnlicher Art und Weise. Das Romangeschehen spiegelt sich in dem durch die Schicksalsschläge gewandelten Seelenleben Elminas wider, das Zeugnis von einem Bekenntnis zur Individualität ablegt, auch wenn diese lediglich im Gewand des Trotzes aufrechterhalten werden kann. | ||