"Die Symbolik des Traumes" (Gotthilf Heinrich Schubert): Unterschied zwischen den Versionen
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"Die Symbolik des Traumes" (Gotthilf Heinrich Schubert) (Quelltext anzeigen)
Version vom 6. September 2015, 06:20 Uhr
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===Schuberts Vorstellung von der Naturgeschichte=== | ===Schuberts Vorstellung von der Naturgeschichte=== | ||
Das romantische Denkmuster der Drei-Zeitalter-Lehre verwendend, konstatiert Schubert gegenüber diesem Status quo ein in der Vergangenheit liegendes goldenes Zeitalter. In diesem, vor der Sprachenverwirrung und dem Sündenfall angesiedelten Abschnitt der Geschichte, befand sich der Mensch in einer Einheit mit der Natur und damit auch mit Gott, denn „[d]ie uns umgebende Natur in all ihren mannigfaltigen Elementen und Gestalten, erscheint hiernach als ein Wort, eine Offenbarung Gottes an den Menschen, deren Buchstaben […] lebendige Gestalten und sich bewegende Kräfte sind“ (SdT 29). Nach dem Sündenfall, „[d]amit er aber wieder werden konnte was er war, ''mußte der Mensch selber, die durch einen Act des Hochmuths entstandene Schranke der Sinnlichkeit, durch einen entgegengesetzten Act der gänzlichen Selbstverläugnung, Demuth und Ergebung in einen höheren Willen, freywillig wieder auflösen''“ (SdT 192). Der erste Schritt dazu ist laut Schubert bereits erfolgt. Christus war – damit erklärt sich der Titel des letzten Kapitels – der „Deus ex machina“, der | Das romantische Denkmuster der Drei-Zeitalter-Lehre verwendend, konstatiert Schubert gegenüber diesem Status quo ein in der Vergangenheit liegendes goldenes Zeitalter. In diesem, vor der Sprachenverwirrung und dem Sündenfall angesiedelten Abschnitt der Geschichte, befand sich der Mensch in einer Einheit mit der Natur und damit auch mit Gott, denn „[d]ie uns umgebende Natur in all ihren mannigfaltigen Elementen und Gestalten, erscheint hiernach als ein Wort, eine Offenbarung Gottes an den Menschen, deren Buchstaben […] lebendige Gestalten und sich bewegende Kräfte sind“ (SdT 29). Nach dem Sündenfall, „[d]amit er aber wieder werden konnte was er war, ''mußte der Mensch selber, die durch einen Act des Hochmuths entstandene Schranke der Sinnlichkeit, durch einen entgegengesetzten Act der gänzlichen Selbstverläugnung, Demuth und Ergebung in einen höheren Willen, freywillig wieder auflösen''“ (SdT 192). Der erste Schritt dazu ist laut Schubert bereits erfolgt. Christus war – damit erklärt sich der Titel des letzten Kapitels – der „Deus ex machina“, der in die stockende Maschine eingriff und sie wieder zum Laufen brachte, indem er dem Mensch durch sein Selbstopfer, durch die Verleugnung des Sinnlichen, den Weg zeigte, ein neues goldenes Zeitalter zu erreichen (SdT 191). Sowohl der progressive Charakter des Drei-Zeitalters-Modells, als auch Schuberts starke Rezeption christlicher Ideen und Ideale werden hier deutlich. Innerhalb der Triade befindet sich die Menschheit gegenwärtig auf der zweiten, ist aber auf dem Weg zur dritten Stufe oder kennt diesen zumindest nun. Schubert beendet daher sein Buch mit einem hoffnungsvollen Schluss: „Das magische Dunkel unserer Träume wird nun wieder zu einem hellen Licht von oben, der alte Zwiespalt unserer Natur ist versöhnt“ (SdT 204). Ausgehend von diesem Ende lässt sich Schuberts Traumvorstellung am besten rekonstruieren. | ||
===Schuberts Traumkonzept=== | ===Schuberts Traumkonzept=== | ||
====Physiologische Grundlagen des Träumens==== | ====Physiologische Grundlagen des Träumens==== | ||
Zu Beginn des 6. Kapitels ''Die Echo'' erläutert Schubert die physiologischen Grundlagen des Träumens (SdT 99-105). Er greift dafür auf die Entdeckung der Zweiteilung des menschlichen Nervensystems zurück und integriert diese in seine eigene Theorie. Demnach existieren zwei voneinander unabhängige Systeme, das Gangliensystem und das Cerebralsystem. In der heutigen medizinischen Terminologie entspricht ersteres dem peripheren Nervensystem, das zweite dem zentralen Nervensystem. Die Abschottung der beiden Systeme voneinander, die im Alter zunimmt (SdT 143), sowie | Zu Beginn des 6. Kapitels ''Die Echo'' erläutert Schubert die physiologischen Grundlagen des Träumens (SdT 99-105). Er greift dafür auf die Entdeckung der Zweiteilung des menschlichen Nervensystems zurück und integriert diese in seine eigene Theorie. Demnach existieren zwei voneinander unabhängige Systeme, das Gangliensystem und das Cerebralsystem. In der heutigen medizinischen Terminologie entspricht ersteres dem peripheren Nervensystem, das zweite dem zentralen Nervensystem. Die Abschottung der beiden Systeme voneinander, die im Alter zunimmt (SdT 143), sowie die eingetretene Degeneration des Gangliensystems sind dem Sündenfall geschuldet (SdT 157, 188f.). Jetzt ist es zuständig für unbewusste Prozesse - „[d]as ganze vegetative System des Leibes, alle jene Organe, welche Zur Bildung, Erhaltung und zum Wachstum des materiellen Organismus wirken, gehören in das Gebiet des Gangliensystems“ (SdT 101) -, während das Cerebralsystem den willentlichen Vorgängen zugehört. Es dominiert, wenn der Mensch wach ist; schläft er, gewinnt das Gangliensystem die Oberhand. Die Besonderheit des Schlafes liegt darin, dass die beiden getrennten Systeme wieder miteinander in Kontakt treten können (SdT 103, 153), also der bestehende ‚Zwiespalt‘ zumindest kurzzeitig aufgehoben wird. | ||
====Formen des Traumes und ihre Bewertung==== | ====Formen des Traumes und ihre Bewertung==== | ||
Schubert hierarchisiert verschiedene Formen des Traumes in seinen Ausführungen. Bereits zu Beginn der Symbolik warnt er davor, dass „ein großer Theil unsrer Träume […] ein leeres, bedeutungsloses Gewäsch“ (SdT 11) sei. Er differenziert weiter: „Ein großer Theil unsrer Träume ist demnach ein Reproduciren des Vergangenen, oder ein freyes Spiel unsrer Neigungen und Gelüste“ (SdT 12). Insbesondere letzteren bringt Schubert wenig Wertschätzung entgegen, weil in ihnen die „partie honteuse [schandhafter Teil] unsers armen zerlumpten Selbst“ (SdT 118) schöpferisch tätig wird | Schubert hierarchisiert verschiedene Formen des Traumes in seinen Ausführungen. Bereits zu Beginn der Symbolik warnt er davor, dass „ein großer Theil unsrer Träume […] ein leeres, bedeutungsloses Gewäsch“ (SdT 11) sei. Er differenziert weiter: „Ein großer Theil unsrer Träume ist demnach ein Reproduciren des Vergangenen, oder ein freyes Spiel unsrer Neigungen und Gelüste“ (SdT 12). Insbesondere letzteren bringt Schubert wenig Wertschätzung entgegen, weil in ihnen die „partie honteuse [schandhafter Teil] unsers armen zerlumpten Selbst“ (SdT 118) schöpferisch tätig wird: „Ich erschrecke, wenn ich diese Schattenseite meines Selbst einmal im Traume in ihrer eigentlichen Gestalt erblicke!“ (ebd.) | ||
Demgegenüber stehen die magnetische Clairvoyance, die höchste Form des Traumes, die möglich ist und einer weiteren Untersuchung würdig, sowie ein tieferer Grad des Traumes, der sich dadurch auszeichnet, dass in der erwachten Person Stimmungen oder Vorahnungen, etwa eines nahenden Todes, zurückbleiben (vgl. SdT 12). Für Schubert und seine Zeitgenossen sind Begriffe wie Magnetismus, Clairvoyance und magnetischer Schlaf noch selbstverständlich, heute bedürfen sie einer Erläuterung. Franz Anton Mesmer entwickelte eine nach ihm benannte Behandlungstechnik, den Mesmerismus. Alles, auch der Organismus, sei von einem unsichtbaren Fluidum durchdrungen. Es zirkuliert im menschlichen Körper; wird die Zirkulation unterbrochen, äußert sich dies im Organismus als Krankheit. Diese | Demgegenüber stehen die magnetische Clairvoyance, die höchste Form des Traumes, die möglich ist und einer weiteren Untersuchung würdig, sowie ein tieferer Grad des Traumes, der sich dadurch auszeichnet, dass in der erwachten Person Stimmungen oder Vorahnungen, etwa eines nahenden Todes, zurückbleiben (vgl. SdT 12). Für Schubert und seine Zeitgenossen sind Begriffe wie Magnetismus, Clairvoyance und magnetischer Schlaf noch selbstverständlich, heute bedürfen sie einer Erläuterung. Franz Anton Mesmer entwickelte eine nach ihm benannte Behandlungstechnik, den Mesmerismus. Alles, auch der Organismus, sei von einem unsichtbaren Fluidum durchdrungen. Es zirkuliert im menschlichen Körper; wird die Zirkulation unterbrochen, äußert sich dies im Organismus als Krankheit. Diese können geheilt werden, „Nervenkrankheiten unmittelbar und die übrigen mittelbar“ (Kluge 48), indem man den Fluss durch eine magnetische Behandlung wieder in Gang bringt. Mesmers Ansichten wurden in Frankreich unter anderem vom Marquis de Puységur weiterentwickelt (vgl. Kluge 64). Diesem gelang es, Patienten in künstlichen Somnambulismus zu versetzen. Der reformierte Mesermismus wurde nach seiner Rückkehr nach Deutschland als tierischer oder animalischer Magnetismus bezeichnet (vgl. Barkhoff 18-26). Dieser künstlich herbeigeführte Somnambulismus, während dessen die Patienten die Augen geschlossen haben, aber ihre Außenwelt trotzdem wahrnehmen können, also diese quasi träumen, befähigte mitunter zu außergewöhnlichen Leistungen, wie etwa der Clairvoyance, also dem Hellsehen. | ||
Schubert weist darauf hin, dass der Zustand des magnetischen Schlafes am leichtesten mit Hilfe des Magnetiseurs erreicht werden könne (SdT 131), jedoch „erfolgen jene Zustände, auch ohne Zuthun des Magnetiseurs, nach Gemüthsbewegungen und allen Einflüssen, wodurch die Tätigkeit des Gangliensystems sehr aufgeregt wird“ (SdT 131). Der bedeutende Unterschied zum normalen Schlaf ist die Kontrolle, die der Somnambule über sein Gehirn, sein Cerebralsystem hat: „der eigentliche, vollkommene Somnambulismus hat zugleich einen hellen Ueberblick über das Gebiet des wachen Zustandes“ (SdT 107). Schubert nennt zahlreiche Fähigkeiten, über die der Somnambule verfügen kann (SdT 104-108, 131-137) | Schubert weist darauf hin, dass der Zustand des magnetischen Schlafes am leichtesten mit Hilfe des Magnetiseurs erreicht werden könne (SdT 131), jedoch „erfolgen jene Zustände, auch ohne Zuthun des Magnetiseurs, nach Gemüthsbewegungen und allen Einflüssen, wodurch die Tätigkeit des Gangliensystems sehr aufgeregt wird“ (SdT 131). Der bedeutende Unterschied zum normalen Schlaf ist die Kontrolle, die der Somnambule über sein Gehirn, sein Cerebralsystem hat: „der eigentliche, vollkommene Somnambulismus hat zugleich einen hellen Ueberblick über das Gebiet des wachen Zustandes“ (SdT 107). Schubert nennt zahlreiche Fähigkeiten, über die der Somnambule verfügen kann (SdT 104-108, 131-137); als Beispiel seien neben der bereits erläuterten Clairvoyance die Fähigkeit genannt „an allen körperlichen und geistigen Gefühlen“ (SdT 134) des Magnetiseurs zu partizipieren. Tatsächlich sind alle Fähigkeiten, die genannt werden, für Schubert nicht um ihrer selbst willen interessant, sondern weil sie ihm als Beleg für seine Theorie der Naturgeschichte dienen: „Der Traum, der Somnambulismus, die Begeisterung und alle erhöhten Zustände unserer bildenden Natur, führen uns in schöne, noch nie gesehene Gegenden, in eine neue und selbsterschaffene, reiche und erhabene Natur […]. Aber jene Gebilde sind nur ein armer Nachhall des anfänglichen Vermögens“ (SdT 155). Der höhere, der clairvoyante Traum, ist ein Beleg für die Fähigkeiten, welche der Mensch im goldenen Zeitalter besessen hat und wieder besitzen wird, wenn das Ende der Triade erreicht wird. | ||
====Die Symbolik des Traumes==== | ====Die Symbolik des Traumes==== | ||
„Was uns Sprache des Wachens seyn sollte, ist uns jetzt dunkle Sprache des Traumes“ (SdT 89). Diese Erkenntnis Schuberts leitet sich aus der vorher beschriebenen Degeneration des Gangliensystems ab und verdeutlicht Schuberts Sichtweise des Traums. Dieser referiert auf die Natur und die ursprüngliche Einheit, wie im Kapitel ''Der versteckte Poet'' ausgeführt wird. Einst verstand der Mensch die Sprache der Natur, noch heute können wir sie indirekt erfahren: „Die ursprüngliche Sprache des Menschen, wie sie uns der Traum, Die Poesie, die Offenbarung kennen lehren, ist die Sprache des Gefühls […] die Sprache der Liebe (SdT 85). Diese Sprache bestand zwischen Gott und dem Menschen, ihre Worte „waren die Wesen der uns noch jetzt (als Schatten der ursprünglichen) umgebenden Natur“ (ebd.). Zwar hat der Mensch diese Sprache, bzw. das Verstehen der Symbolik der Natur verlernt, aber im Traum oder in der Poesie kann diese noch immer erfahren werden. Dies liegt nach Schubert daran, dass wir „[v]on jenen Bildern und Gestalten, deren sich die Sprache des Traumes, so wie die der Poesie […] bedienen, […] die Originale in der uns umgebenden Natur“ (SdT 24) finden. Die Sprache des Traumes und der Poesie sind also Abkömmlinge der ursprünglichen hieroglyphischen Natursprache. Im Gegensatz zur Wortsprache, die erst erlernt werden muss, ist das Verständnis für die Traumsprache angeboren (SdT 2). Aufgrund der Entfremdung von der | „Was uns Sprache des Wachens seyn sollte, ist uns jetzt dunkle Sprache des Traumes“ (SdT 89). Diese Erkenntnis Schuberts leitet sich aus der vorher beschriebenen Degeneration des Gangliensystems ab und verdeutlicht Schuberts Sichtweise des Traums. Dieser referiert auf die Natur und die ursprüngliche Einheit, wie im Kapitel ''Der versteckte Poet'' ausgeführt wird. Einst verstand der Mensch die Sprache der Natur, noch heute können wir sie indirekt erfahren: „Die ursprüngliche Sprache des Menschen, wie sie uns der Traum, Die Poesie, die Offenbarung kennen lehren, ist die Sprache des Gefühls […] die Sprache der Liebe (SdT 85). Diese Sprache bestand zwischen Gott und dem Menschen, ihre Worte „waren die Wesen der uns noch jetzt (als Schatten der ursprünglichen) umgebenden Natur“ (ebd.). Zwar hat der Mensch diese Sprache, bzw. das Verstehen der Symbolik der Natur verlernt, aber im Traum oder in der Poesie kann diese noch immer erfahren werden. Dies liegt nach Schubert daran, dass wir „[v]on jenen Bildern und Gestalten, deren sich die Sprache des Traumes, so wie die der Poesie […] bedienen, […] die Originale in der uns umgebenden Natur“ (SdT 24) finden. Die Sprache des Traumes und der Poesie sind also Abkömmlinge der ursprünglichen hieroglyphischen Natursprache. Im Gegensatz zur Wortsprache, die erst erlernt werden muss, ist das Verständnis für die Traumsprache angeboren (SdT 2). Aufgrund der Entfremdung der Wortsprache von der ursprünglichen Natursprache kommt es vor, dass „der Bilderausdruck des Traumes so weit von dem Wortausdruck des Wachens entfernt [ist], daß er erst einer Übersetzung in diesen bedarf“ (SdT 6). Schubert betont die enge Verwandtschaft von Traum und Poesie, indem er das Bild des „versteckten Poeten“ (SdT 9, 56) verwendet: „Wie die letztere [die Sprache des Traums] der Seele natürlich und gleichsam angeboren ist, nicht erst erlernt zu werden braucht, so ist nach der alten bekannten Sage auch Poesie die ursprüngliche Sprache der Völker gewesen […]. Jene, wie diese redet ausdrucksvoller, gewaltiger, magischer zum Gemüth als die Prosa des Wachens“ (SdT 15). Insbesondere diese Betonung der Verwandtschaft von ‚Ursprache‘, Traum und Dichtung erklärt die Wirkungsmächtigkeit der ''Symbolik des Traumes'' unter den Vertretern der Romantik. | ||
==Ausgaben und weitere Werke Schuberts== | ==Ausgaben und weitere Werke Schuberts== |