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===Das Erkenntnis- und (künstlerische) Inspirationspotenzial des (bewusst erlebten) Traums===
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====Das Erkenntnis- und (künstlerische) Inspirationspotenzial des (bewusst erlebten) Traums====
Allein der Vorgang der Traumbildung ist, nach Hervey de Saint-Denys, bereits mit der Arbeit eines Künstlers vergleichbar, denn durch die neuartige Kombination von Erinnerungen werden ästhetisch anspruchsvolle Kompositionen hervorgebracht (RMD 21). Die Nervenfasern im Gehirn, die entscheidend an der Traumbildung beteiligt sind, sieht Hervey als „cordes du violon sous les doigts de l’artiste“ (RMD 195) an und vergleicht sie mit einem Instrument, das durch die Inspiration des Künstlers (Träumers) ein musikalisches Motiv erklingen lässt (ebd.). In seinen bewusst erlebten Träumen ist Hervey de Saint-Denys zuweilen sogar explizit künstlerisch tätig, denn er verteilt beispielsweise unter den Figuren aus einem Roman François Fenelons die Rollen neu, verkehrt dessen Werk in eine Tragödie und versetzt sich selbst in die Theaterszenerie hinein (RMD 402).
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Allein der Vorgang der Traumbildung ist, nach Hervey de Saint-Denys, bereits mit der Arbeit eines Künstlers vergleichbar, da durch die neuartige Kombination von Erinnerungen ästhetisch anspruchsvolle Kompositionen hervorgebracht werden (RMD 21). Die Nervenfasern im Gehirn, die entscheidend an der Traumbildung beteiligt sind, sieht Hervey als „cordes du violon sous les doigts de l’artiste“ an und vergleicht sie mit einem Instrument, das durch die Inspiration des Künstlers (Träumers) ein musikalisches Motiv erklingen lässt (RMD 195). In seinen bewusst erlebten Träumen ist Hervey de Saint-Denys zuweilen sogar explizit künstlerisch tätig, denn er verteilt beispielsweise unter den Figuren aus einem Roman François Fenelons die Rollen neu, verkehrt dessen Werk in eine Tragödie und versetzt sich selbst in die Theaterszenerie hinein (RMD 402).
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Während die Konzentrationsfähigkeit, die Willensausübung und die Urteilskraft des Menschen im Traum zuweilen geschwächt sind, entfalten die Vorstellungskraft, das Gedächtnis und die sinnliche Wahrnehmung im Traum eine Ausweitung gegenüber dem Wachleben (RMD 475). Somit vermag der Träumer zwar kein rationales Meisterwerk im Traum zu erschaffen, aber der Traum eröffnet ihm neue, derart nicht gekannte Inspirationshorizonte (ebd.). Das inspiratorische Potenzial des Traums ist dabei unter anderem, hierin stimmt Hervey mit Lemoine überein, in der außergewöhnlichen Sensibilität jeglicher sinnlicher Wahrnehmung und insbesondere des ästhetischen Sinns begründet (RMD 202 f.).
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Während die Konzentrationsfähigkeit, die Willensausübung und die Urteilskraft des Menschen im Traum zuweilen geschwächt sind, entfalten die Vorstellungskraft, das Gedächtnis und die sinnliche Wahrnehmung im Traum eine Ausweitung gegenüber dem Wachleben (RMD 475). Somit vermag der Träumer zwar kein rationales Meisterwerk im Traum zu erschaffen, aber der Traum eröffnet ihm neue, bisher so nicht gekannte Inspirationshorizonte (ebd.). Das inspiratorische Potenzial des Traums ist dabei unter anderem, hierin stimmt Hervey mit Lemoine überein, in der außergewöhnlichen Sensibilität jeglicher sinnlicher Wahrnehmung und insbesondere des ästhetischen Sinns begründet (RMD 202 f.).
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So erschafft die Vorstellungskraft im Traum, wie Hervey anhand von Beispielen wie Guiseppe Tartinis Teufelstrillersonate hervorhebt, außergewöhnliche Konstrukte, die kognitiv wie emotional besonders intensiv erlebt werden (RMD 333–337). Im Traum können, Hervey de Saint-Denys zufolge, jedoch vor allem solche Tätigkeiten zu höchster Perfektion getrieben werden, die mehr Inspiration als Besonnenheit, Kritik- sowie Urteilsfähigkeit erfordern oder deren Untersuchungsgegenstände homogen und logisch erschließbar sind (RMD 123, 139 f., 334, 336 f.). Zu diesen Tätigkeitsbereichen zählen etwa die Musik, die Architektur, die Malerei, die Mathematik und Schach (RMD 140, 334, 340). Hinsichtlich der Erinnerbarkeit von im Traum gesehenen Kunstwerken weist Hervey darauf hin, dass der Klang eines Akkordes leichter einzuprägen sei als die Form eines Umrisses (RMD 472). Noch schwerer fällt die Erinnerung an im Traum zutage tretende literarische Werke, da diese ein heterogenes Konstrukt aus Wörtern sowie Ideen darstellen und daher nicht als Ganzes, sondern in all ihren Details eingeprägt werden müssten (RMD 334). In Fällen, in denen es Schriftstellern wie etwa einem Freund Herveys gelang, sich des im luziden Traum kreierten Werkes zu erinnern, folgte im Wachzustand die Ernüchterung angesichts von dessen sprachlicher Unausgereiftheit (RMD 334–336). Die Imaginationskraft scheitert demnach an der Konzeption stilistisch versierter literarischer Stücke, da diese eine Konzentration, selbstkritische Haltung und Urteilsfähigkeit voraussetzt, über die nicht einmal der luzide Träumer verfügt (RMD 334–338). Die Themenkonzeption eines literarischen Werkes, die auch in der Realität zuweilen Resultat einer plötzlichen Eingebung ist (RMD 337), kann jedoch im Traum vollbracht werden.
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So erschafft die Vorstellungskraft im Traum, wie Hervey anhand von Beispielen wie Guiseppe Tartinis Teufelstrillersonate hervorhebt, außergewöhnliche Konstrukte, die kognitiv wie emotional besonders intensiv erlebt werden (RMD 333–337). Im Traum können vor allem solche Tätigkeiten zu höchster Perfektion getrieben werden, die mehr Inspiration als Besonnenheit, Kritik- sowie Urteilsfähigkeit erfordern oder deren Untersuchungsgegenstände homogen und logisch erschließbar sind (RMD 123, 139 f., 334, 336 f.). Zu diesen Tätigkeitsbereichen zählen etwa die Musik, die Architektur, die Malerei, die Mathematik und Schach (RMD 140, 334, 340). Hinsichtlich der Erinnerbarkeit von im Traum gesehenen Kunstwerken weist Hervey darauf hin, dass der Klang eines Akkordes leichter einzuprägen sei als die Form eines Umrisses (RMD 472). Noch schwerer fällt die Erinnerung an im Traum zutage tretende literarische Werke, da diese ein heterogenes Konstrukt aus Wörtern sowie Ideen darstellen und daher nicht als Ganzes, sondern in all ihren Details eingeprägt werden müssten (RMD 334). In Fällen, in denen es Schriftstellern (wie etwa einem Freund Herveys) gelang, sich des im luziden Traum kreierten Werkes zu erinnern, folgte im Wachzustand die Ernüchterung angesichts von dessen sprachlicher Unausgereiftheit (RMD 334–336). Die Imaginationskraft scheitert demnach an der Konzeption stilistisch versierter literarischer Stücke, da diese eine Konzentration, selbstkritische Haltung und Urteilsfähigkeit voraussetzt, über die nicht einmal der luzide Träumer verfügt (RMD 334–338). Die Themenkonzeption eines literarischen Werkes, die auch in der Realität zuweilen Resultat einer plötzlichen Eingebung ist (RMD 337), kann jedoch im Traum vollbracht werden.
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Ein wichtiger Erkenntnisaspekt des Traums liegt ferner im trauminternen Dialog mit dem eigenen Selbst. In luziden Träumen schwingt sich der Träumer oftmals unwissentlich zum Dramatiker mit ausgezeichnetem Talent für die Figurenzeichnung auf und lässt Bekannte im Traum ihre Meinung in einem Tonfall vortragen, wie sie es auch in der Realität getan hätten (RMD 313 f.). Dabei bewegt er sie dazu, Pro und Contra einer ihn beschäftigenden Angelegenheit zu diskutieren und lässt sie Argumente austauschen, die er selbst insgeheim bereits erwogen hat (RMD 315 f.). Über die Begegnung mit dem eigenen Selbst, verkörpert durch die Traumfiguren, trägt der Träumer somit innere Konflikte aus und gelangt zu neuen Erkenntnissen (RMD 315 f., 345 f.). In der Gestalt eines halb weißen, halb schwarzen Kindes, das behauptet er selbst zu sein, begegnet Hervey in einem seiner Träume sogar explizit sich selbst, wobei die Dualität der Farben möglicherweise Sinnbild seiner guten und schlechten Seiten ist, wie er selbst vermutet (RMD 345–347). Hervey de Saint-Denys schließt seine Untersuchung, indem er bekräftigt, dass er die Traumsteuerung nicht nur als ertragreich für den individuellen Inspirationsprozess und das private Vergnügen eines Jeden, sondern auch für die Wissenschaft, insbesondere die Physiologie und Medizin, ansieht (RMD, 477 f.).
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Ein wichtiger Erkenntnisaspekt des Traums liegt ferner im trauminternen Dialog mit dem eigenen Selbst. In luziden Träumen schwingt sich der Träumer oftmals unwissentlich zum Dramatiker mit ausgezeichnetem Talent für die Figurenzeichnung auf und lässt Bekannte im Traum ihre Meinung in einem Tonfall vortragen, wie sie es auch in der Realität getan hätten (RMD 313 f.). Dabei bewegt er sie dazu, Pro und Contra einer ihn beschäftigenden Angelegenheit zu diskutieren und lässt sie Argumente austauschen, die er selbst insgeheim bereits erwogen hat (RMD 315 f.). Über die Begegnung mit dem eigenen Selbst, verkörpert durch die Traumfiguren, trägt der Träumer somit innere Konflikte aus und gelangt zu neuen Erkenntnissen (RMD 315 f., 345 f.). In der Gestalt eines halb weißen, halb schwarzen Kindes, das behauptet er selbst zu sein, begegnet Hervey in einem seiner Träume sogar explizit sich selbst, wobei die Dualität der Farben möglicherweise Sinnbild seiner guten und schlechten Seiten ist, wie er selbst vermutet (RMD 345–347). Hervey de Saint-Denys schließt seine Untersuchung, indem er bekräftigt, dass er die Traumsteuerung nicht nur als ertragreich für den individuellen Inspirationsprozess und das private Vergnügen eines jeden Träumers ansieht, sondern auch für die Wissenschaft, insbesondere die Physiologie und Medizin (RMD, 477 f.).
          
==Fazit==
 
==Fazit==
In ''Les rêves et les moyens de les diriger'' (1867) vermittelt Hervey de Saint-Denys einen umfassenden Überblick über die Funktionsweise des menschlichen Geistes in gewöhnlichen und luziden (bewusst erlebten und gesteuerten) Träumen. Dennoch weist seine Studie insbesondere hinsichtlich der wissenschaftlichen Vorgehensweise einige Schwächen auf, die dem Laienstatus des Autors geschuldet sein dürften. So ist Hervey insbesondere, was seine Verwendung des Begriffs ›rêve lucide‹ anbelangt, nicht konsequent und referiert damit je nach Kontext mal auf visuell deutlich erkennbare, kohärente Träume mal auf bewusst erlebte, gelenkte Träume. Ferner gibt er zunächst einen Forschungsüberblick, bevor er auf seine eigene empirische Traumforschung zu sprechen kommt, fügt jedoch möglicherweise aufgrund seines populärwissenschaftlichen Schreibstils nur wenige Fußnoten ein, sodass oftmals nicht klar ersichtlich ist, auf welche Passage eines Werkes er sich konkret bezieht. Auch lässt sich stellenweise nur schwer die Grenze zwischen der Darstellung von Traumtheorien anderer Forscher und Herveys Stellungnahme hierzu ausmachen, was auf die insgesamt recht undurchsichtige Binnenstruktur seines Werkes zurückzuführen sein dürfte. Die allzu umfangreiche Themenauflistung zu Beginn eines jeden Kapitels überfordert den Leser hier mehr, als dass sie zur besseren Orientierung beiträgt. Dagegen mangelt es an Zwischenüberschriften innerhalb der einzelnen Kapitel. Im dritten empirischen Teil seiner Arbeit präsentiert Hervey de Saint-Denys schließlich zahlreiche Auszüge aus seinen Traumtagebüchern, die er zur Belegung seiner Thesen einsetzt. Allerdings macht er meist keine Angaben zu dem Entstehungsjahr und -kontext seiner Traumnotate und lässt diese vereinzelt gar unkommentiert stehen, sodass seine Abhandlung insbesondere gegen Ende des dritten Teils in Richtung einer Materialsammlung abdriftet. Auch lässt die Fokussierung auf eigene Traumerfahrungen die Studie letztlich etwas an Objektivität einbüßen. Trotz einiger Defizite ist das enorme Innovationspotenzial von Hervey de Saint-Denys’ Traumstudie unverkennbar. Er beschäftigt sich nicht nur als erster Traumforscher systematisch mit luziden Träumen und lotet in seinen Experimenten das Ausmaß der Steuerung des Traums sowie der Erhaltung des Bewusstseins im Traum aus, sondern nutzt die Fähigkeit des bewussten Träumens auch, um den Traum als geistig wacher Beobachter von innen heraus zu beleuchten. Dadurch gelingt es ihm, elementare Einsichten in die Genese und Funktionsweise des Phänomens Traums zu gewinnen. Zu Recht gilt Hervey de Saint-Denys demnach als Wegbereiter der modernen (Klar-)Traumforschung. 
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In ''Les rêves et les moyens de les diriger'' (1867) vermittelt Hervey de Saint-Denys einen umfassenden Überblick über die Funktionsweise des menschlichen Geistes in gewöhnlichen und luziden (bewusst erlebten und gesteuerten) Träumen. Dennoch weist seine Studie insbesondere hinsichtlich der wissenschaftlichen Vorgehensweise einige Schwächen auf, die dem Laienstatus des Autors geschuldet sein dürften. So ist Hervey insbesondere in seiner Verwendung des Begriffs ›rêve lucide‹ inkonsequent und referiert damit je nach Kontext mal auf visuell deutlich erkennbare, kohärente Träume mal auf bewusst erlebte, gelenkte Träume. Ferner gibt er zwar zunächst einen Forschungsüberblick, fügt jedoch, möglicherweise aufgrund seines populärwissenschaftlichen Schreibstils, nur wenige Fußnoten ein, sodass oftmals nicht klar ersichtlich ist, auf welche Passage eines Werkes er sich konkret bezieht. Auch lässt sich stellenweise nur schwer die Grenze zwischen der Darstellung von Traumtheorien anderer Forscher und Herveys Stellungnahme hierzu ausmachen, was auf die insgesamt recht undurchsichtige Binnenstruktur seines Werkes zurückzuführen sein dürfte. Die allzu umfangreiche Themenauflistung zu Beginn eines jeden Kapitels überfordert den Leser hier mehr, als dass sie zur besseren Orientierung beiträgt. Dagegen mangelt es an Zwischenüberschriften innerhalb der einzelnen Kapitel.  
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Im dritten empirischen Teil seiner Arbeit präsentiert Hervey de Saint-Denys schließlich zahlreiche Auszüge aus seinen Traumtagebüchern, die er zur Belegung seiner Thesen einsetzt. Allerdings macht er meist keine Angaben zu Entstehungsjahr und -kontext seiner Traumnotate und lässt diese vereinzelt gar unkommentiert stehen, sodass seine Abhandlung insbesondere gegen Ende des dritten Teils in Richtung einer Materialsammlung abdriftet. Auch lässt die Fokussierung auf eigene Traumerfahrungen die Studie an Objektivität einbüßen.  
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Trotz dieser Defizite ist das enorme Innovationspotenzial von Hervey de Saint-Denys’ Traumstudie unverkennbar. Er beschäftigt sich nicht nur als erster Traumforscher systematisch mit luziden Träumen und lotet in seinen Experimenten das Ausmaß der Steuerung des Traums sowie der Erhaltung des Bewusstseins im Traum aus, sondern nutzt die Fähigkeit des bewussten Träumens auch, um den Traum als geistig wacher Beobachter von innen heraus zu beleuchten. Dadurch gelingt es ihm, elementare Einsichten in die Genese und Funktionsweise des Phänomens Traums zu gewinnen. Zu Recht gilt Hervey de Saint-Denys demnach als Wegbereiter der modernen (Klar-)Traumforschung. 
     

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