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Die fremdartige Welt ist nicht die Welt der Märchen, sondern die Welt der Erwachsenen und der einfachen Menschen, mit der sie bisher noch keine Berührung hatte. Geschildert wird demnach ein Prozess des Erwachens, der Aufklärung und Reifung, der im Kuss des Märchenprinzen kulminiert. Sodann verliert Ljubow jedoch ihr waches Interesse an der Außenwelt. Ihr Blick richtet sich nach innen, ihre Gedanken kreisen fortan um sich selbst. Präsent wird hier der Salomé‘sche Narzissmus, den Chantal Gahlinger in ihrer Analyse von ''Wolga'' diagnostiziert (Gahlinger 2001,165). Auf narratologischer Ebene wird der weibliche Narzissmus dadurch veranschaulicht, dass sich der Blick auf die Figur entfernt. War es zum Beginn der Novelle Ljubows Blick, durch den die Lesenden die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, ist es am Ende die Landschaft selbst, die auf die Figur schaut. Gahlinger spricht in diesem Zusammenhang vom „Blickpunkt Gottes“ bzw. einer Fokusverlagerung, die an filmische Erzählverfahren erinnert (ebd.). Andreas-Salomé verwendet demnach mehrere mit dem Traum assoziierte Erzählverfahren (filmisches und märchenhaftes Erzählen; siehe auch: [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=Film_und_Traum_(1900-1930) „Film und Traum 1900-1930“]), um die traumhaft anmutende kindliche Weltwahrnehmung der Figur literarästhetisch auszugestalten.
 
Die fremdartige Welt ist nicht die Welt der Märchen, sondern die Welt der Erwachsenen und der einfachen Menschen, mit der sie bisher noch keine Berührung hatte. Geschildert wird demnach ein Prozess des Erwachens, der Aufklärung und Reifung, der im Kuss des Märchenprinzen kulminiert. Sodann verliert Ljubow jedoch ihr waches Interesse an der Außenwelt. Ihr Blick richtet sich nach innen, ihre Gedanken kreisen fortan um sich selbst. Präsent wird hier der Salomé‘sche Narzissmus, den Chantal Gahlinger in ihrer Analyse von ''Wolga'' diagnostiziert (Gahlinger 2001,165). Auf narratologischer Ebene wird der weibliche Narzissmus dadurch veranschaulicht, dass sich der Blick auf die Figur entfernt. War es zum Beginn der Novelle Ljubows Blick, durch den die Lesenden die vorbeiziehende Landschaft beobachteten, ist es am Ende die Landschaft selbst, die auf die Figur schaut. Gahlinger spricht in diesem Zusammenhang vom „Blickpunkt Gottes“ bzw. einer Fokusverlagerung, die an filmische Erzählverfahren erinnert (ebd.). Andreas-Salomé verwendet demnach mehrere mit dem Traum assoziierte Erzählverfahren (filmisches und märchenhaftes Erzählen; siehe auch: [http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=Film_und_Traum_(1900-1930) „Film und Traum 1900-1930“]), um die traumhaft anmutende kindliche Weltwahrnehmung der Figur literarästhetisch auszugestalten.
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== Interpretation ==
 
== Interpretation ==
    
=== Traum I ===
 
=== Traum I ===
Anhand des im ersten Traum dominanten Lieblingsmärchens wird ein Konflikt zwischen dem zeitgenössischen Weiblichkeitsideal der Femme Fragile und den naiven und mitunter von Omnipotenzfantasien geprägten Sichtweisen der Protagonistin deutlich. Die Märchenprinzessin erweist sich als ähnlich passiv wie bekannte Märchenfiguren, etwa Dornröschen und Schneewittchen, die keine eigenen Entscheidungen treffen, sondern lediglich auf einen Prinzen warten, der sie wachküsst und den sie heiraten, ohne eine Wahlmöglichkeit in Betracht zu ziehen (vgl.: Röllecke 1985, 83). Dieses „Ideal“ weiblicher Passivität und Manipulierbarkeit bestimmt zunächst den romantischen Blick Ljubows auf die Beziehung von Mann und Frau und macht sie so attraktiv für Valdevenen. Das Motiv des Zauberschlafs wird auch auf die wache Wahrnehmung der Figur bezogen, sodass die kindliche Weltwahrnehmung mit dem Zustand des Schlafs enggeführt werden. Im letzten Teil des geschilderten Traums wird deutlich, dass die Projektionen und Forderungen des männlichen Gegenübers (Valdevenen) vom Verhalten des Märchenprinzen in ihrem Lieblingsmärchen abweichen. Angesiedelt ist diese schockierende Erkenntnis an den Rändern des eigentlichen Traumgeschehens, in einem Zustand des Aufwachens. Die Opposition von Traum und Wirklichkeit bzw. Ideal und Trieb lassen sich auch auf das Dornröschen-Prinzip übertragen. Rekurriert Andreas-Salomé doch mit dem Ende des ersten Traums auf die Wurzeln des ''Dornröschen''-Märchens, da die schlafende Schöne in Giambattista Basiles Version (''Sole, Luna e Talia'' 1634) von einem verheirateten König während der Jagd im Schlaf geschändet (und geschwängert) wird. Unmittelbar darauf zieht der König weiter und vergisst den Vorfall bald wieder.
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Anhand des im ersten Traum dominanten Lieblingsmärchens wird ein Konflikt zwischen dem zeitgenössischen Weiblichkeitsideal der ''femme fragile'' und den naiven und mitunter von Omnipotenzfantasien geprägten Sichtweisen der Protagonistin deutlich. Die Märchenprinzessin erweist sich als ähnlich passiv wie bekannte Märchenfiguren (etwa Dornröschen und Schneewittchen), die keine eigenen Entscheidungen treffen, sondern lediglich auf einen Prinzen warten, der sie wachküsst und den sie heiraten, ohne eine Wahlmöglichkeit in Betracht zu ziehen (Röllecke 1985, 83). Dieses ,Ideal' weiblicher Passivität und Manipulierbarkeit bestimmt zunächst den romantischen Blick Ljubows auf die Beziehung von Mann und Frau und macht sie so attraktiv für Valdevenen. Das Motiv des Zauberschlafs wird auch auf die wache Wahrnehmung der Figur bezogen, sodass die kindliche Weltwahrnehmung mit dem Zustand des Schlafs enggeführt ist. Im letzten Teil des geschilderten Traums wird deutlich, dass die Projektionen und Forderungen des männlichen Gegenübers (Valdevenen) vom Verhalten des Märchenprinzen in Ljubows Lieblingsmärchen abweichen. Angesiedelt ist diese schockierende Erkenntnis an den Rändern des eigentlichen Traumgeschehens, in einem Zustand des Aufwachens. Die Opposition von Traum und Wirklichkeit bzw. Ideal und Trieb lassen sich auch auf das Dornröschen-Prinzip übertragen. Rekurriert Andreas-Salomé doch mit dem Ende des ersten Traums auf die Wurzeln des ''Dornröschen''-Märchens, da die schlafende Schöne in Giambattista Basiles Version (''Sole, Luna e Talia'', 1634) von einem verheirateten König während der Jagd im Schlaf geschändet (und geschwängert) wird. Unmittelbar darauf zieht der König weiter und vergisst den Vorfall bald wieder.
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Da sich Ljubow während der Verführung in einem Zustand des Halbschlafs befindet, vermischt sich das Erlebte mit den Träumen der Nacht. Der Vorfall wird daher zu einem traumgleichen Erlebnis, dessen Deutung Ljubows Kompetenzen übersteigt. Ob als Traum im Traum, oder als Verschachtelung verschiedener Träume, deren Ränder sich überlagern, die geschilderte Melange aus romantisch verklärtem Sehnsuchtstraum und prophetischem Angsttraum ist überaus bemerkenswert, da dieser hybride Traumcharakter das ambivalente Seelenleben der adoleszenten Hauptfigur eindrucksvoll veranschaulicht. Die divergierenden Gefühle und Sichtweisen zeichnen sie als unzuverlässige Erzählerin aus. Während ihre Beschreibungen nahelegen, dass die Verführung Teil des Traumgeschehens ist, lässt die Reaktion Valdevenens auf ihren träumerisch sehnsuchtsvollen Blick auf die vorbeiziehende Wolgalandschaft am nächsten Morgen einen anderen Schluss zu: „Aber können Sie immer noch nicht genug bekommen, Sie kleine Unersättliche? Heute, nach der gestrigen Nacht, hätten Sie eigentlich ein Recht darauf, müde zu sein.“ (320 f) Für sie selbst scheinen sich die Fäden erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst allmählich bemerkt sie, dass es tatsächlich seine Schritte waren, die sie im Traum vernommen hat:
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Da sich Ljubow während der Verführung in einem Zustand des Halbschlafs befindet, vermischt sich das Erlebte mit den Träumen der Nacht. Der Vorfall wird daher zu einem traumgleichen Erlebnis, dessen Deutung Ljubows Kompetenzen übersteigt. Ob als Traum im Traum, oder als Verschachtelung verschiedener Träume, deren Ränder sich überlagern - die geschilderte Melange aus romantisch verklärtem Sehnsuchtstraum und prophetischem Angsttraum ist überaus bemerkenswert, da dieser hybride Traumcharakter das ambivalente Seelenleben der adoleszenten Hauptfigur eindrucksvoll veranschaulicht. Die divergierenden Gefühle und Sichtweisen zeichnen sie als unzuverlässige Erzählerin aus. Während ihre Beschreibungen nahelegen, dass die Verführung Teil des Traumgeschehens ist, lässt die Reaktion Valdevenens auf ihren träumerisch sehnsuchtsvollen Blick auf die vorbeiziehende Wolgalandschaft am nächsten Morgen einen anderen Schluss zu: „Aber können Sie immer noch nicht genug bekommen, Sie kleine Unersättliche? Heute, nach der gestrigen Nacht, hätten Sie eigentlich ein Recht darauf, müde zu sein“ (W 320 f.) Für sie selbst scheinen sich die Fäden erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst allmählich bemerkt sie, dass es tatsächlich seine Schritte waren, die sie im Traum vernommen hat:
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„Sie hörte auf seinen Schritt hin. Sie hörte ihn heraus unter all den anderen, ruhig und fest. „Wie auf den Steinfliesen vom Traumhof!“ dachte sie wieder. Ja, gewiß: das war sein Schritt gewesen, heute früh auf dem Deck, – kein anderer. Und dadurch war er also auch in ganzer Gestalt in den Traum hineingeraten – –.“ (321 f.)
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: Sie hörte auf seinen Schritt hin. Sie hörte ihn heraus unter all den anderen, ruhig und fest. „Wie auf den Steinfliesen vom Traumhof!“ dachte sie wieder. Ja, gewiß: das war sein Schritt gewesen, heute früh auf dem Deck, – kein anderer. Und dadurch war er also auch in ganzer Gestalt in den Traum hineingeraten – – (W 321 f.).
    
Fortan wird der Brunnentraum zum stetigen Begleiter ihrer Gedanken, insbesondere wenn sie mit Valdevenen spricht. Stets ist in diesen Momenten die Opposition von sexuell konnotiertem Wunsch(tag)traum und realem Erleben männlicher Forderungen präsent, die ihr Angst bereiten und gegen die sie sich zunächst lautstark wehrt. Seine Prophezeiung erfüllend, erlebt sie sich als Gefangene seines Blickes, der stets auf ihren Körper gerichtet ist. Gleich darauf ist sie jedoch schon wieder enttäuscht, ob der vertanen Gelegenheit, Neues kennenzulernen, sodass sie schließlich auf seine Wünsche eingeht und ihm einen innigen Abschiedskuss gibt.
 
Fortan wird der Brunnentraum zum stetigen Begleiter ihrer Gedanken, insbesondere wenn sie mit Valdevenen spricht. Stets ist in diesen Momenten die Opposition von sexuell konnotiertem Wunsch(tag)traum und realem Erleben männlicher Forderungen präsent, die ihr Angst bereiten und gegen die sie sich zunächst lautstark wehrt. Seine Prophezeiung erfüllend, erlebt sie sich als Gefangene seines Blickes, der stets auf ihren Körper gerichtet ist. Gleich darauf ist sie jedoch schon wieder enttäuscht, ob der vertanen Gelegenheit, Neues kennenzulernen, sodass sie schließlich auf seine Wünsche eingeht und ihm einen innigen Abschiedskuss gibt.
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Erstaunlicherweise hält der aus dem Märchen bekannte Zauberschlaf die Figur im wachen Erleben in Bann. Durch die Träume und die (mutmaßlich) im Schlaf erfolgte Verführung stellt sich ein Wandel ein, durch den Ljubows kindliche, wache und neugierige Weltsicht entzaubert wird. Insbesondere durch den zweiten Traum gleitet sie in ein Zwischenstadium von Wachen und Träumen, das durch den halbwachen Zustand des zweiten Traums schon angedeutet wird.
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Erstaunlicherweise hält der aus dem Märchen bekannte Zauberschlaf die Figur im wachen Erleben in Bann. Durch die Träume und die (möglicherweise) im Schlaf erfolgte Verführung stellt sich ein Wandel ein, durch den Ljubows kindliche, wache und neugierige Weltsicht entzaubert wird. Insbesondere durch den zweiten Traum gleitet sie in ein Zwischenstadium von Wachen und Träumen, das durch den halbwachen Zustand des zweiten Traums schon angedeutet wird.
    
=== Traum II ===
 
=== Traum II ===
 
So heißt es nach dem Erwachen:
 
So heißt es nach dem Erwachen:
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„Geschlafen hatte sie wohl nicht, aber auch nicht gewacht, und jetzt kam sie zu sich mit einem körperlichen Schaudern und Frösteln, als ob weder Tag noch Nacht mehr zu entwirren sei, als ob sie ein einziges, wolkenbrauendes Chaos seien, in dem nur sie sich befand, da auf ihrem roten Stuhl, wach, um eine Tat ringend, die ihr erst die ganze Welt ringsum wieder klären, durchsonnen, gestalten sollte.“ (336)
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: Geschlafen hatte sie wohl nicht, aber auch nicht gewacht, und jetzt kam sie zu sich mit einem körperlichen Schaudern und Frösteln, als ob weder Tag noch Nacht mehr zu entwirren sei, als ob sie ein einziges, wolkenbrauendes Chaos seien, in dem nur sie sich befand, da auf ihrem roten Stuhl, wach, um eine Tat ringend, die ihr erst die ganze Welt ringsum wieder klären, durchsonnen, gestalten sollte (W 336).
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Zwischen Gestern (vergangenen Kindertagen) und Morgen (künftigem Dasein als Ehefrau und Mutter) befindet sich demnach nicht die gegenwärtige wache Wahrnehmung des hellen Tages, sondern ein diffuser Halbschlaf im Dämmerlicht, der hier als ein Prozess des Abschiednehmens von der Kindheit und den Kindheitsfreundinnen lesbar wird. Nach dem leidenschaftlichen Abschiedskuss, den sie Valdevenen kurz nach dem Erwachen gibt, intensiviert sich diese traumhafte Art der Wahrnehmung zunehmend. So sieht Ljubow die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, sondern sie verliert das Interesse an der Landschaft, was etwa darin ersichtlich wird, dass sie nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich ist. Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen auch, auf sich selbst fixiert. Diese Wahrnehmung wird mehrfach auf traumhaftes Erleben bezogen, etwa wenn sie sich fragt: „[w]ar sie vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“ (319) Oder: „Mitten in diesem Hinträumen nahm sie zwischendurch irgend eine ganz gleichgültige Einzelheit wahr…“ (339) Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Valdevenen, der ihr verspricht, sie auf der Rückreise ab Samara wiederzusehen und dann nicht mehr zu verlassen. In diesem Zusammenhang wird erneut auf das an erster Stelle in ihrem Märchenbilderbuch abgedruckte Lieblingsmärchen rekurriert, wenn es heißt:
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Zwischen Gestern (vergangenen Kindertagen) und Morgen (künftigem Dasein als Ehefrau und Mutter) befindet sich demnach nicht die gegenwärtige wache Wahrnehmung des hellen Tages, sondern ein diffuser Halbschlaf im Dämmerlicht, der hier als ein Prozess des Abschiednehmens von der Kindheit und den Kindheitsfreundinnen lesbar wird. Nach dem leidenschaftlichen Abschiedskuss, den sie Valdevenen kurz nach dem Erwachen gibt, intensiviert sich diese traumhafte Art der Wahrnehmung zunehmend. So sieht Ljubow die Welt nicht klarer nach diesem Kuss, sondern sie verliert das Interesse an der Landschaft, was etwa darin ersichtlich wird, dass sie nicht mehr für die wildromantischen Reize der schönsten Strecke – des sogenannten Samarer Knies – empfänglich ist. Wie in Trance erlebt sie die Weiterfahrt und ist, wie viele andere Frauenfiguren in Andreas-Salomés Erzählungen, auf sich selbst fixiert. Diese Wahrnehmung wird mehrfach auf traumhaftes Erleben bezogen, etwa wenn sie sich fragt: „[w]ar sie vielleicht überall schon gewesen oder hatte sie es nur irgendwann geträumt?“ (W 319). Oder: „Mitten in diesem Hinträumen nahm sie zwischendurch irgend eine ganz gleichgültige Einzelheit wahr“ (W 339). Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Valdevenen, der ihr verspricht, sie auf der Rückreise ab Samara wiederzusehen und dann nicht mehr zu verlassen. In diesem Zusammenhang wird erneut auf das an erster Stelle in ihrem Märchenbilderbuch abgedruckte Lieblingsmärchen rekurriert, wenn es heißt:
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„nun stellte sie sich hin und schaute aufmerksamer in die wundervolle Szenerie [der Landschaft] wie in ein Bilderbuch, das man von hinten durchblättert. Denn die richtige Reihenfolge kam erst „dann“! Und der gewaltige Strom rauschte willig in ihre Träume, und die Fernen bedeckten sich für sie mit dem höchsten Glanz einer unsagbaren Schönheit.“ (339)
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: nun stellte sie sich hin und schaute aufmerksamer in die wundervolle Szenerie [der Landschaft] wie in ein Bilderbuch, das man von hinten durchblättert. Denn die richtige Reihenfolge kam erst „dann“! Und der gewaltige Strom rauschte willig in ihre Träume, und die Fernen bedeckten sich für sie mit dem höchsten Glanz einer unsagbaren Schönheit (W 339).
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So könnte man schließen, dass sie (erneut) in ihr Märchen eintaucht und ihr ganzes Interesse ihrem eigenen Empfinden gilt, sodass sie nicht mehr mit wachem, interessiertem Blick auf die Landschaft schaut, was zum Ende der Novelle in einem Perspektivwechsel deutlich wird, da sie nun von der Natur beobachtet wird:
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So könnte man schließen, dass sie (erneut) in ihr Märchen eintaucht und ihr ganzes Interesse ihrem eigenen Empfinden gilt, sodass sie nicht mehr mit wachem, interessiertem Blick auf die Landschaft schaut. Dies wird am Ende der Novelle in einem Perspektivwechsel deutlich, da sie nun von der Natur beobachtet wird:
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„Aus großen, ruhigen Augen schaute die Landschaft dem Menschenkinde auf dem Schiffchen zu, [...] während der Strom weiterströmte, stetig und unaufhaltsam weiter – zum Meer – und Stunde um Stunde weiter zu ihrem Meer – zur Ewigkeit.“ (339 f.)
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: Aus großen, ruhigen Augen schaute die Landschaft dem Menschenkinde auf dem Schiffchen zu, [...] während der Strom weiterströmte, stetig und unaufhaltsam weiter – zum Meer – und Stunde um Stunde weiter zu ihrem Meer – zur Ewigkeit (W 339 f.).
    
=== Funktion in der Novelle und im Novellenzyklus ===
 
=== Funktion in der Novelle und im Novellenzyklus ===
Mit ihrer Novelle Wolga kreiert Andreas-Salomé ein Adoleszenzmärchen, das eine Metamorphose beinhaltet. Während die vorab in der Zeitschrift abgedruckte Version mit der Ehe endet, wird in der im Novellenzyklus Im Zwischenland enthaltenen Variante das Ende offengelassen. Ob Valdevenen wie versprochen tatsächlich auf der Rückreise zusteigen wird, um sie dann nicht mehr zu verlassen, bleibt offen. Sicher ist, dass sein Kuss und die (erträumte) Verführung einen Gemütswandel auslösen, der einer Metamorphose gleicht. Anders als Dornrösschen und Schneewittchen, die durch den Kuss des männlichen Helden aus ihrem Zauberschlaf geweckt werden, wirkt Ljubow keineswegs wacher, sondern viel eher träumerischer nach diesem Erlebnis. Sie nimmt die Natur nur noch wie durch einen Schleier wahr und befindet sich in einem Zwischenstadium von Wachen und Träumen. Der wache, neugierige Blick auf die umliegende Natur wird ihr durch den Kuss genommen. Am Ende ist es die als beständig beschriebene Natur, die auf die träumerische Frauenfigur blickt.
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Mit ihrer Novelle ''Wolga'' kreiert Andreas-Salomé ein Adoleszenzmärchen, das eine Metamorphose beinhaltet. Während die vorab in der Zeitschrift abgedruckte Version mit der Ehe endet, wird in der im Novellenzyklus ''Im Zwischenland'' enthaltenen Variante das Ende offengelassen. Ob Valdevenen wie versprochen tatsächlich auf der Rückreise zusteigen wird, um sie dann nicht mehr zu verlassen, bleibt offen. Sicher ist, dass sein Kuss und die (erträumte) Verführung einen Gemütswandel auslösen, der einer Metamorphose gleicht. Anders als Dornrösschen und Schneewittchen, die durch den Kuss des männlichen Helden aus ihrem Zauberschlaf geweckt werden, wirkt Ljubow keineswegs wacher, sondern viel eher träumerischer nach diesem Erlebnis. Sie nimmt die Natur nur noch wie durch einen Schleier wahr und befindet sich in einem Zwischenstadium von Wachen und Träumen. Der wache, neugierige Blick auf die umliegende Natur wird ihr durch den Kuss genommen. Am Ende ist es die als beständig beschriebene Natur, die auf die träumerische Frauenfigur blickt.
    
So romantisch diese Novelle auf den ersten Blick anmuten mag, offenbart sie dennoch einen innovativen Blick auf die dominante Thematik der weiblichen Initiation. Die Protagonistin erkennt, dass die im Märchen idealisierte passive Haltung der schlafenden Prinzessin kein erstrebenswerter Zustand ist und sie selbst die Initiative ergreifen muss, um Neues kennenzulernen und das Zwischenland der Adoleszenz zu überwinden. Dass der Novellenzyklus mit dieser Novelle endet, ist demnach folgerichtig. Die im Zentrum der vorigen Novellen stehenden weiblichen Figuren werden als Klassenkameradinnen in Ljubows Traum erwähnt. Aus der Perspektive der Hauptfigur sind sie die im Zwischenland Verharrenden, von denen sie im Halbschlummer Abschied nimmt.
 
So romantisch diese Novelle auf den ersten Blick anmuten mag, offenbart sie dennoch einen innovativen Blick auf die dominante Thematik der weiblichen Initiation. Die Protagonistin erkennt, dass die im Märchen idealisierte passive Haltung der schlafenden Prinzessin kein erstrebenswerter Zustand ist und sie selbst die Initiative ergreifen muss, um Neues kennenzulernen und das Zwischenland der Adoleszenz zu überwinden. Dass der Novellenzyklus mit dieser Novelle endet, ist demnach folgerichtig. Die im Zentrum der vorigen Novellen stehenden weiblichen Figuren werden als Klassenkameradinnen in Ljubows Traum erwähnt. Aus der Perspektive der Hauptfigur sind sie die im Zwischenland Verharrenden, von denen sie im Halbschlummer Abschied nimmt.
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Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks). (Vgl.: Schäfer 2016) Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert: „ob immer noch die Landschaft sie verzaubert hielt, oder nur noch sein [Valdevenens] Dazwischentreten. „Nein, – die Birken da!“ dachte sie wie im Traum. Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermeßlich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – –.“
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Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert: „ob immer noch die Landschaft sie verzaubert hielt, oder nur noch sein [Valdevenens] Dazwischentreten. „Nein, – die Birken da!“ dachte sie wie im Traum. Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermeßlich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – –.“
    
Menschenkinder lautet der Titel ihres zwei Jahre zuvor erschienenen ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (vgl.: Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, Mein Dank an Freud ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „... wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter.“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.)
 
Menschenkinder lautet der Titel ihres zwei Jahre zuvor erschienenen ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (vgl.: Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, Mein Dank an Freud ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „... wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter.“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.)

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