Änderungen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 115: Zeile 115:  
So romantisch diese Novelle auf den ersten Blick anmuten mag, offenbart sie dennoch einen innovativen Blick auf die dominante Thematik der weiblichen Initiation. Die Protagonistin erkennt, dass die im Märchen idealisierte passive Haltung der schlafenden Prinzessin kein erstrebenswerter Zustand ist und sie selbst die Initiative ergreifen muss, um Neues kennenzulernen und das Zwischenland der Adoleszenz zu überwinden. Dass der Novellenzyklus mit dieser Novelle endet, ist demnach folgerichtig. Die im Zentrum der vorigen Novellen stehenden weiblichen Figuren werden als Klassenkameradinnen in Ljubows Traum erwähnt. Aus der Perspektive der Hauptfigur sind sie die im Zwischenland Verharrenden, von denen sie im Halbschlummer Abschied nimmt.
 
So romantisch diese Novelle auf den ersten Blick anmuten mag, offenbart sie dennoch einen innovativen Blick auf die dominante Thematik der weiblichen Initiation. Die Protagonistin erkennt, dass die im Märchen idealisierte passive Haltung der schlafenden Prinzessin kein erstrebenswerter Zustand ist und sie selbst die Initiative ergreifen muss, um Neues kennenzulernen und das Zwischenland der Adoleszenz zu überwinden. Dass der Novellenzyklus mit dieser Novelle endet, ist demnach folgerichtig. Die im Zentrum der vorigen Novellen stehenden weiblichen Figuren werden als Klassenkameradinnen in Ljubows Traum erwähnt. Aus der Perspektive der Hauptfigur sind sie die im Zwischenland Verharrenden, von denen sie im Halbschlummer Abschied nimmt.
   −
Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert: „ob immer noch die Landschaft sie verzaubert hielt, oder nur noch sein [Valdevenens] Dazwischentreten. „Nein, – die Birken da!“ dachte sie wie im Traum. Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermeßlich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – –.“
+
Die sukzessive Abkehr von der Welt der Kindheit wird auch in Ljubows Naturbetrachtungen transparent. Während sie sich zunächst als Teil der Landschaft wahrnimmt und sich insbesondere mit den Birken identifiziert, nimmt sie durch die immer offensiveren Annäherungsversuche Valdevenens eine Entfremdung zur sie umgebenden Natur wahr. Deutlich wird hier die auch in anderen Erzählungen der Autorin präsente Opposition von der Frau als Naturwesen und als Produkt der Kultur (bzw. eines männlichen Blicks; Schäfer 2016). Auch im wachen Erleben gleicht sie der verzauberten Prinzessin aus dem Märchen, da die Natur sie in Bann hält. Die Präsenz Valdevenens verzaubert sie jedoch auf andere Weise, sodass die Macht der Natur mit der Macht des männlichen Initiators konkurriert:  
   −
Menschenkinder lautet der Titel ihres zwei Jahre zuvor erschienenen ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (vgl.: Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, Mein Dank an Freud ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „... wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter.“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.)
+
: ob immer noch die Landschaft sie verzaubert hielt, oder nur noch sein [Valdevenens] Dazwischentreten. „Nein, die Birken da!“ dachte sie wie im Traum. Die Birken kamen jetzt so nah, man konnte die Zweige im wehenden Winde unterscheiden, all die große Schönheit kam nah, ganz nah, aber zugleich blieb sie so unerhört entfernt, so unermeßlich, schmerzlich fern, und nicht gleich Wind und Wolke und Welle war Ljubow mehr mitten darin, sondern nur noch ein davon tiefgeschiedenes armes Menschenkind – – (W ###).
   −
In Wolga erlebt die Liebe (Ljubow) eine Reibung, die sie durch Eigeninitiative vorantreibt. Sie entscheidet sich für einen Abschiedskuss, nachdem sie die letzte Nacht nur im Halbschlummer und nicht mehr in einem tiefen Schlaf verbracht hat, aus dem sie sich nur mühevoll befreien konnte wie nach dem ersten Traum. Der Schlaf erfährt demnach eine Überhöhung und verweist auf einen anderen Zustand, den es zu überwinden gilt. In der finalen Szene deutet sich ein Rollentausch der Figuren aus dem Lieblingsmärchen an, da Ljubow den Part des aktiven Prinzen übernimmt und der Geliebte mit dem im Nebel zerrinnenden Frosch, der traurig davon hüpft, verglichen wird:
+
"Menschenkinder" lautet der Titel von Andreas-Salomés zwei Jahre zuvor erschienenem ersten Novellenzyklus, in dem junge erwachsene Frauen fokussiert werden, die sich überwiegend auf Reisen befinden (Schäfer 2016). Auch hier lenkt Andreas-Salomé den Fokus auf die Beschaffenheit der menschlichen Psyche und nimmt junge Menschen in den Blick, die sich an Traditionen und im Geschlechterkampf reiben und infolge dessen eine Bewusstseinsveränderung erfahren. Deutlich wird in ihren beiden Novellenzyklen ein psychoanalytisches Erkenntnisinteresse, das auch mit Blick auf eines ihrer späten Werke, den offenen Brief zu Sigmund Freuds 75. Geburtstag, Mein Dank an Freud ersichtlich ist. Hier schreibt sie: „wir selber sind der Mensch mit seinem Widerspruch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewußter“ (Andreas-Salomé 2012, 265 f.)
   −
„Ehe Ljubow [nach dem Kuss] zur Besinnung kam, schwand er ihr hinweg im weißen, brauenden Nebel, zerrann er ihr gleichsam in nichts, als habe sie nur geträumt.“ (338)
+
In ''Wolga'' erlebt die Liebe (Ljubow) eine Reibung, die sie durch Eigeninitiative vorantreibt. Sie entscheidet sich für einen Abschiedskuss, nachdem sie die letzte Nacht nur im Halbschlummer und nicht mehr in einem tiefen Schlaf verbracht hat, aus dem sie sich nur mühevoll befreien konnte wie nach dem ersten Traum. Der Schlaf erfährt demnach eine Überhöhung und verweist auf einen anderen Zustand, den es zu überwinden gilt. In der finalen Szene deutet sich ein Rollentausch der Figuren aus dem Lieblingsmärchen an, da Ljubow den Part des aktiven Prinzen übernimmt und der Geliebte mit dem im Nebel zerrinnenden Frosch, der traurig davon hüpft, verglichen wird:
   −
Die Prinzessin hat die Initiative ergriffen, ist erwacht, aber folglich auf sich alleine gestellt. Der finale, nach innen gerichtete Blick Ljubows, lenkt die Aufmerksamkeit auf die tiefe Einsamkeit der Figur. So endet nicht nur das eingangs zitierte Gedicht, sondern auch die in der gleichnamigen Novelle geschilderte Reise durch das Zwischenland mit „ungeheuren Einsamkeiten“, die in Andreas-Salomés wissenschaftlichen Publikationen als Begleiterscheinung der Liebe geschildert werden (vgl.: Andreas-Salomé: Gedanken über das Liebesproblem 1900). Der Traum, in dem die Einsamkeit ein zentrales Element ist, erweist sich als prädestiniert, um die positiv besetzte weibliche Einsamkeit (vgl.: Andreas-Salomé: Narzissmus als Doppelrichtung) literarästhetisch auszugestalten.
+
: Ehe Ljubow [nach dem Kuss] zur Besinnung kam, schwand er ihr hinweg im weißen, brauenden Nebel, zerrann er ihr gleichsam in nichts, als habe sie nur geträumt (W 338).
 +
 
 +
Die Prinzessin hat die Initiative ergriffen, ist erwacht, aber folglich auf sich alleine gestellt. Der finale, nach innen gerichtete Blick Ljubows, lenkt die Aufmerksamkeit auf die tiefe Einsamkeit der Figur. So endet nicht nur das eingangs zitierte Gedicht, sondern auch die in der gleichnamigen Novelle geschilderte Reise durch das Zwischenland mit „ungeheuren Einsamkeiten“, die in Andreas-Salomés wissenschaftlichen Publikationen als Begleiterscheinung der Liebe geschildert werden (Andreas-Salomé, 2012). Der Traum, in dem die Einsamkeit ein zentrales Element ist, erweist sich als prädestiniert, die positiv besetzte weibliche Einsamkeit (Andreas-Salomé, 2014) literarästhetisch auszugestalten.
     

Navigationsmenü