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Der Roman ''Kassandra'' erschien erstmals im Frühjahr 1983 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland im Luchterhand Verlag. Mit diesem Meisterwerk erlangte die in Deutschland bereits bekannte Prosa-Autorin Christa Wolf (1929-2011) Weltruhm. Er handelt von der Ich-Erzählerin und Protagonistin Kassandra, die vor dem Hintergrund des trojanischen Krieges um ihre Befreiung von einem selbstzerstörerischen patriarchalischen System der Indoktrination und Bevormundung kämpft. Die in die Erzählung eingebauten Träume nehmen einen großen Raum ein und fungieren als bevorzugter Vektor für die Darstellung der Subjektwerdung der Protagonistin.
 
Der Roman ''Kassandra'' erschien erstmals im Frühjahr 1983 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland im Luchterhand Verlag. Mit diesem Meisterwerk erlangte die in Deutschland bereits bekannte Prosa-Autorin Christa Wolf (1929-2011) Weltruhm. Er handelt von der Ich-Erzählerin und Protagonistin Kassandra, die vor dem Hintergrund des trojanischen Krieges um ihre Befreiung von einem selbstzerstörerischen patriarchalischen System der Indoktrination und Bevormundung kämpft. Die in die Erzählung eingebauten Träume nehmen einen großen Raum ein und fungieren als bevorzugter Vektor für die Darstellung der Subjektwerdung der Protagonistin.
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=='''1. Entstehung'''==
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=='''Entstehung'''==
 
Christa Wolfs ''Kassandra'' entsteht in einem Kontext großer sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der späteren 70 er und Anfang der 80er Jahren. Zu den großen Bündnissen der Epoche zählten die Pazifisten, die Feministen und die Alternativbewegungen, deren Anforderungen sich überlagerten und von einem kollektiven Bewusstseinwandel zeugten. Christa Wolf war etwas über 20 Jahre alt, als im Herbst 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, und bis in die frühen 1960er Jahre teilte sie mit ihren Zeitgenossen die Hoffnung auf einen gerechteren und friedlicheren Staat, der die sozialen und ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus auslöschen würde. Als ''Kassandra'' erscheint, befindet sich Christa Wolf bereits auf Kriegsfuß mit dem DDR-Regime. Sie wurde von den Behörden ihres Landes heftig kritisiert, als sie nacheinander ihre Romane ''Der geteilte Himmel'' (1963) und vor allem ''Nachdenken über Christa T'' (1968) veröffentlichte. In diesen Büchern waren Gedanken und Ideen aufgekeimt, die dem utopischen sozialrevolutionären, messianischen und eschatologischen Potenzial im Sinne von Blochs Prinzip Hoffnung entsprachen und als Widerstandspotenzial gegen die Deformationen des DDR-Sozialismus wirkten (Vgl. Hilzinger 2007,37-38). Man bezichtigt sie der Rehabilitierung bürgerlicher Werte wie Subjektivität bzw. Innerlichkeit. Hart getroffen von der Wolf-Biermann-Affäre (1976) und dem Ausschluss mehrerer Mitglieder aus dem Schriftstellerverband, bricht die letzte Vertrauensbasis ihrer Beziehungen zur DDR-Regierung zusammen. Trotzdem weigert sich die Autorin als Dissidentin bezeichnet zu werden und entscheidet sich bewusst dafür, die DDR nie zu verlassen. Die 1980er Jahren waren ebenfalls von globalen Spannungen geprägt: Europa befürchtete einen zerstörerischen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion auf eigenem Boden. Der Aufruf des Kommandos der damals noch bestehenden Militärblöcke der NATO und des Warschauer Pakts zu neuen Rüstungsanstrengungen, um der angeblichen waffentechnischen Überlegenheit des Gegners etwas Gleichwertiges entgegensetzen zu können, weckte bei den Bürgern das Gefühl eines kollektiven Selbstmords angesichts der allgemeinen Bedrohung durch das atomare Wettrüsten und der eigenen Ohnmacht. Im Westen wie im Osten bildeten sich Friedens- und Frauenbewegungen, die gegen diese neue Behauptung protestierten (Vgl. Schmiedel 2003, 65). Zu dieser Zeit waren viele Frauen für den Frieden und definierten die Bedeutung von Frieden neu. Die Figur der Kassandra fungierte vor dem Hintergrund dieser politischen Konstellation und der Sehnsucht vieler Menschen nach Frieden als Friedensikone und Identifikationsfigur für eine ganze Generation von Frauen, die nach Emanzipation gegen eine von Männern dominierte Welt der Politik und des Krieges, der Intrigen und Machtkämpfe strebten.
 
Christa Wolfs ''Kassandra'' entsteht in einem Kontext großer sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der späteren 70 er und Anfang der 80er Jahren. Zu den großen Bündnissen der Epoche zählten die Pazifisten, die Feministen und die Alternativbewegungen, deren Anforderungen sich überlagerten und von einem kollektiven Bewusstseinwandel zeugten. Christa Wolf war etwas über 20 Jahre alt, als im Herbst 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, und bis in die frühen 1960er Jahre teilte sie mit ihren Zeitgenossen die Hoffnung auf einen gerechteren und friedlicheren Staat, der die sozialen und ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus auslöschen würde. Als ''Kassandra'' erscheint, befindet sich Christa Wolf bereits auf Kriegsfuß mit dem DDR-Regime. Sie wurde von den Behörden ihres Landes heftig kritisiert, als sie nacheinander ihre Romane ''Der geteilte Himmel'' (1963) und vor allem ''Nachdenken über Christa T'' (1968) veröffentlichte. In diesen Büchern waren Gedanken und Ideen aufgekeimt, die dem utopischen sozialrevolutionären, messianischen und eschatologischen Potenzial im Sinne von Blochs Prinzip Hoffnung entsprachen und als Widerstandspotenzial gegen die Deformationen des DDR-Sozialismus wirkten (Vgl. Hilzinger 2007,37-38). Man bezichtigt sie der Rehabilitierung bürgerlicher Werte wie Subjektivität bzw. Innerlichkeit. Hart getroffen von der Wolf-Biermann-Affäre (1976) und dem Ausschluss mehrerer Mitglieder aus dem Schriftstellerverband, bricht die letzte Vertrauensbasis ihrer Beziehungen zur DDR-Regierung zusammen. Trotzdem weigert sich die Autorin als Dissidentin bezeichnet zu werden und entscheidet sich bewusst dafür, die DDR nie zu verlassen. Die 1980er Jahren waren ebenfalls von globalen Spannungen geprägt: Europa befürchtete einen zerstörerischen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion auf eigenem Boden. Der Aufruf des Kommandos der damals noch bestehenden Militärblöcke der NATO und des Warschauer Pakts zu neuen Rüstungsanstrengungen, um der angeblichen waffentechnischen Überlegenheit des Gegners etwas Gleichwertiges entgegensetzen zu können, weckte bei den Bürgern das Gefühl eines kollektiven Selbstmords angesichts der allgemeinen Bedrohung durch das atomare Wettrüsten und der eigenen Ohnmacht. Im Westen wie im Osten bildeten sich Friedens- und Frauenbewegungen, die gegen diese neue Behauptung protestierten (Vgl. Schmiedel 2003, 65). Zu dieser Zeit waren viele Frauen für den Frieden und definierten die Bedeutung von Frieden neu. Die Figur der Kassandra fungierte vor dem Hintergrund dieser politischen Konstellation und der Sehnsucht vieler Menschen nach Frieden als Friedensikone und Identifikationsfigur für eine ganze Generation von Frauen, die nach Emanzipation gegen eine von Männern dominierte Welt der Politik und des Krieges, der Intrigen und Machtkämpfe strebten.
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=='''2. Zur Anlage des Romans'''==
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=='''Zur Anlage des Romans'''==
 
Die Vorgeschichte von ''Kassandra'' bezieht sich auf den Trojanischen Krieg.<ref>Besonders produktiv für ihr literarisches Werk war für Christa Wolf ihre im Sommer 1980 unternommene Griechenlandreise, die sie dazu bringt, sich mit der griechischen Mythologie intensiv zu beschäftigen.</ref> Dennoch verdienen die wichtigsten Abweichungen von der stofflichen Vorlage Aufmerksamkeit. Zunächst ist die Liebesbeziehung zwischen Aineias und Kassandra ein Novum. In der Mythologie gibt es weder eine Begegnung noch eine Beziehung zwischen den beiden Figuren. Als nächstes ist Christa Wolfs feministische Annäherung am Krieg besonders bedeutsam. Sie zeigt sich darin, dass sie sowohl den Griechen als auch den Trojanern jegliches Heldentum abspricht. Achilles, Homers Held, wird bei ihr zu einem sadistischen Metzger, der noch die Toten tötet. Agamemnon, der große und berühmte Anführer der griechischen Flotte, wird in ein Kind ohne Selbstbewusstsein verwandelt. Die radikalste Veränderung betrifft die Figur der Helena, für die nicht mehr der Krieg geführt wird, sondern Privilegien und Besitz in den Vordergrund gerückt werden. Kassandra wird über das traditionelle Recht auf Zugang zum Hellespont belehrt. Ihr Vater erklärt ihr, dass die Griechen ihr Gold und den freien Zugang zu den Dardanellen wollen (vgl. Wolf 2008, 93). In diesem Zusammenhang hat Helena die Funktion einer Propagandalüge, da sie sich eben nicht in Troja aufhält.
 
Die Vorgeschichte von ''Kassandra'' bezieht sich auf den Trojanischen Krieg.<ref>Besonders produktiv für ihr literarisches Werk war für Christa Wolf ihre im Sommer 1980 unternommene Griechenlandreise, die sie dazu bringt, sich mit der griechischen Mythologie intensiv zu beschäftigen.</ref> Dennoch verdienen die wichtigsten Abweichungen von der stofflichen Vorlage Aufmerksamkeit. Zunächst ist die Liebesbeziehung zwischen Aineias und Kassandra ein Novum. In der Mythologie gibt es weder eine Begegnung noch eine Beziehung zwischen den beiden Figuren. Als nächstes ist Christa Wolfs feministische Annäherung am Krieg besonders bedeutsam. Sie zeigt sich darin, dass sie sowohl den Griechen als auch den Trojanern jegliches Heldentum abspricht. Achilles, Homers Held, wird bei ihr zu einem sadistischen Metzger, der noch die Toten tötet. Agamemnon, der große und berühmte Anführer der griechischen Flotte, wird in ein Kind ohne Selbstbewusstsein verwandelt. Die radikalste Veränderung betrifft die Figur der Helena, für die nicht mehr der Krieg geführt wird, sondern Privilegien und Besitz in den Vordergrund gerückt werden. Kassandra wird über das traditionelle Recht auf Zugang zum Hellespont belehrt. Ihr Vater erklärt ihr, dass die Griechen ihr Gold und den freien Zugang zu den Dardanellen wollen (vgl. Wolf 2008, 93). In diesem Zusammenhang hat Helena die Funktion einer Propagandalüge, da sie sich eben nicht in Troja aufhält.
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In der Rückschau der Hauptfigur Kassandra, die kurz vor dem Tod steht, wird die Geschichte des Untergangs Trojas vermittelt. Über die Darstellung kriegerischer Ereignisse hinaus, werden Kassandras Einblicke in die jüngste Vergangenheit, d.h. die Überfahrt mit dem Schiff von Troja nach Mykene, und in ihre früheste Kindheit in Form eines inneren Monologs vermittelt. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit stellt Kassandra kommentierend und reflektierend, in Gedanken, Gefühlen und komischen assoziativen Erinnerungsstrom und ohne eine chronologische Ordnung einzuhalten, ihre Lebensgeschichte dar.
 
In der Rückschau der Hauptfigur Kassandra, die kurz vor dem Tod steht, wird die Geschichte des Untergangs Trojas vermittelt. Über die Darstellung kriegerischer Ereignisse hinaus, werden Kassandras Einblicke in die jüngste Vergangenheit, d.h. die Überfahrt mit dem Schiff von Troja nach Mykene, und in ihre früheste Kindheit in Form eines inneren Monologs vermittelt. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit stellt Kassandra kommentierend und reflektierend, in Gedanken, Gefühlen und komischen assoziativen Erinnerungsstrom und ohne eine chronologische Ordnung einzuhalten, ihre Lebensgeschichte dar.
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=='''3. Träume in ''Kassandra'''''==
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=='''Träume in ''Kassandra'''''==
 
In der mosaikhaften<ref>Die Schriftstellerin setzt die Schreibmethode um, für die sie seit Jahren bekannt ist, und die ihre Originalität ausmacht: Sie gestaltet den Stoff in fiktiver und nicht-fiktiver Prosa. Essay, Tagebuch und Erzählung werden zusammengefügt nach dem Schreibprinzip der ausgewogenen Authentizität. Sie lässt darüber hinaus in ihren Text Erfahrungen einfließen, die sie während des Schreibmoments macht.</ref> und unchronologischen Erzählung Kassandra haben Träume samt mythologischen Prophezeiungen der Seherin eine große Bedeutung. Es handelt sich um eindeutig markierte Schlafträume, die nachts von Göttern gespendet werden. Sie erscheinen in unterschiedlichen Formen und ihre Funktionen sind mehrdeutig. In der Erzählung spielt Kassandra eine doppelte Rolle: Sie ist nicht nur Seherin, sondern auch Traumdeuterin (Vgl. Wolf, 2008,124). Sie deutet die Träume der anderen Figuren und lässt diese auch ihre persönlichen Träume deuten. In diesem Zusammenhang wird das Nicht-Träumen eben als eine dramatische Situation erlebt, zumal es den Rückzug der Götter bedeutet, die die Quelle der Träume sind (Vgl. Wolf 2008, 147). Insofern hält Christa Wolf in gewisser Weise an dem geschlossenen Drama fest, bietet aber eine fragmentarische Erzählstruktur an. Die kontroversen Traumdeutungen sind eng mit den sich überschneidenden Wissensdiskursen verknüpft, die in den 1980er Jahren üblich waren.
 
In der mosaikhaften<ref>Die Schriftstellerin setzt die Schreibmethode um, für die sie seit Jahren bekannt ist, und die ihre Originalität ausmacht: Sie gestaltet den Stoff in fiktiver und nicht-fiktiver Prosa. Essay, Tagebuch und Erzählung werden zusammengefügt nach dem Schreibprinzip der ausgewogenen Authentizität. Sie lässt darüber hinaus in ihren Text Erfahrungen einfließen, die sie während des Schreibmoments macht.</ref> und unchronologischen Erzählung Kassandra haben Träume samt mythologischen Prophezeiungen der Seherin eine große Bedeutung. Es handelt sich um eindeutig markierte Schlafträume, die nachts von Göttern gespendet werden. Sie erscheinen in unterschiedlichen Formen und ihre Funktionen sind mehrdeutig. In der Erzählung spielt Kassandra eine doppelte Rolle: Sie ist nicht nur Seherin, sondern auch Traumdeuterin (Vgl. Wolf, 2008,124). Sie deutet die Träume der anderen Figuren und lässt diese auch ihre persönlichen Träume deuten. In diesem Zusammenhang wird das Nicht-Träumen eben als eine dramatische Situation erlebt, zumal es den Rückzug der Götter bedeutet, die die Quelle der Träume sind (Vgl. Wolf 2008, 147). Insofern hält Christa Wolf in gewisser Weise an dem geschlossenen Drama fest, bietet aber eine fragmentarische Erzählstruktur an. Die kontroversen Traumdeutungen sind eng mit den sich überschneidenden Wissensdiskursen verknüpft, die in den 1980er Jahren üblich waren.
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In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben » Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer« (K 152). Die kühne und furchteinflößende Frau greift jeden an und herrscht über die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle Männer auf, nach dem Motto »lieber kämpfend sterben, als versklavt sein« (ebd.). Die Gewalt gegen Männer wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre Anhängerinnen verdächtigen, sie hätten ihre Ehemänner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra, geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine Männersprache sei, und dass diese nur durch dieses Mittel verändert werden können (K 153). Andererseits wird Polyxena als unterwürfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von Männern entworfen, um Achill den schlimmsten Feind zu töten und dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen auf ihre Person zu nehmen. Sie sollte Achill im Tempel locken unter dem Vorwand ihm zu vermählen und Paris würde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verletzlich ist. Doch vor der Durchführung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser Letztere zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt.  Kassandra rebelliert sich gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der Feinbegünstigung bezichtigt. (K 164). Letztendlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein Verbündeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrückt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres größten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der Erzählung sind insbesondere die Züge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwählen, denn »Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.« (K 154).
 
In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben » Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer« (K 152). Die kühne und furchteinflößende Frau greift jeden an und herrscht über die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle Männer auf, nach dem Motto »lieber kämpfend sterben, als versklavt sein« (ebd.). Die Gewalt gegen Männer wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre Anhängerinnen verdächtigen, sie hätten ihre Ehemänner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra, geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine Männersprache sei, und dass diese nur durch dieses Mittel verändert werden können (K 153). Andererseits wird Polyxena als unterwürfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von Männern entworfen, um Achill den schlimmsten Feind zu töten und dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen auf ihre Person zu nehmen. Sie sollte Achill im Tempel locken unter dem Vorwand ihm zu vermählen und Paris würde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verletzlich ist. Doch vor der Durchführung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser Letztere zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt.  Kassandra rebelliert sich gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der Feinbegünstigung bezichtigt. (K 164). Letztendlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein Verbündeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrückt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres größten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der Erzählung sind insbesondere die Züge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwählen, denn »Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.« (K 154).
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=='''4. Zusammenfassung'''==
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=='''Zusammenfassung'''==
 
Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von ''Kassandra'' neun Träume herausheben. Die integrierten Träume dienen einerseits der mythologischen Prophetie oder der Vorhersage von Ereignissen, da die Götter über die Träume mit den Menschen in Kontakt treten. In diesem Fall werden einige Träume zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der Erzählung zugrunde liegt, eingefügt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage ändert.  Andererseits dienen Träume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der Erzählung steht, ermöglichen die Träume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer Träume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen über die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos über ihre Wünsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die Träume drücken auch einen Teil der unterbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen für einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus, da Träume anders interpretiert werden als in früheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine größere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von Träumen in die Erzählung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart überprüfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die Träume Berührungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfältigen und fast unveränderlichen Bildwelt bieten diese Träume einen attraktiven Zugang zu Christa Wolfs Kunstwerk (Vgl. Nicolai 1989, 84).
 
Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von ''Kassandra'' neun Träume herausheben. Die integrierten Träume dienen einerseits der mythologischen Prophetie oder der Vorhersage von Ereignissen, da die Götter über die Träume mit den Menschen in Kontakt treten. In diesem Fall werden einige Träume zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der Erzählung zugrunde liegt, eingefügt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage ändert.  Andererseits dienen Träume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der Erzählung steht, ermöglichen die Träume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer Träume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen über die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos über ihre Wünsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die Träume drücken auch einen Teil der unterbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen für einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus, da Träume anders interpretiert werden als in früheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine größere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von Träumen in die Erzählung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart überprüfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die Träume Berührungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfältigen und fast unveränderlichen Bildwelt bieten diese Träume einen attraktiven Zugang zu Christa Wolfs Kunstwerk (Vgl. Nicolai 1989, 84).
 
==='''5. Träume und weibliche Utopie des Romans'''===
 
==='''5. Träume und weibliche Utopie des Romans'''===
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==5. Literaturverzeichnis==
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==Literaturverzeichnis==
    
===Primärliteratur===
 
===Primärliteratur===

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